Annäherungen an ein Phänomen


I: Fügetechniken und Gesellschaftssysteme



Jeder kennt und wendet "Fügetechniken" an, aber nicht jeder wüsste sie als solche zu benennen. Über die Jahrhunderte haben die Menschen eine Vielzahl von Methoden entwickelt, um 2 (oder mehr) Werkstücke zu einem Teil zu verbinden:

Auch Nähen und Weben können Fügetechniken sein, und auch durch Schmieden kann man Teile zusammenfügen. Fügen durch Biegen und Formschluss ("einclipsen") ist für viele Kunststoffgeräte ein wichtiger Aspekt. Bei den meisten Fügetechniken leuchtet uns ein, dass sie für bestimmte Materialien besser oder schlechter geeignet sind - niemand wird mit dem Schweissbrenner Holzbretter verbinden wollen …


Manche Techniken werden generell für minderwertig ("nur geklebt") oder veraltet ("vernietet wie ein Dampfschiff") gehalten - dabei werden z.B. moderne Passagierflugzeuge hauptsächlich durch Nieten und Kleben zusammengehalten.

Interessant ist auch, wie z.B. das berufliche Umfeld gewisse Präferenzen bedingt. Ein übliches Malheur im Haushalt - ein Bilderrahmen fällt von der Wand und eine Ecke springt auf - führt dann zu ganz unterschiedlichen Reparaturversuchen: Ein Mediziner greift dann gerne zum allgegenwärtigen "Leukoplast"-Band, während ein Schlosser eher einen Stahlwinkel und solide 6er-Schrauben verwendet. Schreinerisch begabte Zeitgenossen kommen dann der fachmännischen Reparatur schon näher: Rahmenteile schleifen, im Spannwinkel zusammenleimen und Verstärkungswinkel aus Holz oder Metall einsetzen.


Für ein Gedankenexperiment wollen wir uns das Russland des 17. Jahrhunderts vorstellen. Bekanntlich hat der tatendurstige neue Zar, der später den Beinamen "der Grosse" tragen sollte, aus seinem Aufenthalt in den Niederlanden profunde Kenntnisse über Schiffsbau mit nach Hause gebracht ("Zar und Zimmermann"). Nun war er ja ein autokratischer Herrscher, der sein Riesenreich durchaus gewaltsam modernisieren wollte. Was, wenn er ein Dekret erlassen hätte, dass in Russland fürderhin ausschliesslich das Fügen mittels Holz und Nägeln erlaubt sei ?

Gewiss hätte es ein paar Ausnahmen geben müssen (nicht jeder mag sich den Gürtel an den Leib nageln …), aber ansonsten hätte das durchaus durchführbar sein können. Viele der oben aufgeführten Fügetechniken waren ja noch gar nicht erfunden bzw. wirklich mangelhaft (beispielsweise keine wasserfesten Leime). Möglicherweise wäre es sogar gut für das Land gewesen, wenn rückständige Techniken wie zusammengebundene Ochsenkarren nun durch solide Schreinerarbeit ersetzt worden wären. Es ist sogar denkbar, dass der Zar damit seinem Ziel einer mächtigen Schiffsflotte sogar wirklich nähergekommen wäre, da durch den Erlass mittelbar der Nachwuchs an Schreinern gefördert worden wäre.

Was hätte man wohl nach dem Tode des Zaren unternommen ? Gut möglich, dass man, eingedenk der bisher guten Resultate, oder auch nur aus Respekt vor dem grossen Vorgänger, das Dekret über die allein richtige Fügetechnik weiter hätte gelten lassen. Und im 18. Jahrhundert hätte das auch noch relativ problemlos funktioniert. Aber spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts hätte man Probleme bekommen: Wie will man eine Lokomotive nur aus Holz und Nägeln konstruieren ? Wäre dann eine russische Flotte aus Holzschiffen den Eisenpanzerschiffen, wie sie die modernen Marinen nun einführten, begegnet ? Offensichtlich wäre das russische Reich dann im Wortsinne "auf dem Holzweg" gewesen.

Spätestens dann also hätte man den Realitäten ins Auge sehen müssen und das Dekret entweder abschaffen oder um die jeweils neu entwickelten Fügetechniken ergänzen müssen.

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In den Schulbüchern, zumindest meiner Generation, las sich die Abfolge der in Europa herrschenden Gesellschaftssysteme, zumindest nach dem Abtritt des römischen Reiches von der historischen Bühne, als eine irgendwie logische Reihung:

Zuerst das poströmische Chaos, weiter über mittelalterliche Lehnsgesellschaften zu immer mächtigeren Königreichen mit ihrem Zenit im Absolutismus. Von da über gewisse Zwischenphasen weiter zu konstitutioniellen Monarchien bis schliesslich zur Krönung aller Systeme, der modernen parlamentarischen Demokratie. Und im wirtschaftlichen Bereich folgten, vielleicht nicht ganz so geordnet, Subsistenzwirtschaft, Merkantilismus, verschiedene Arten von "Manchester"- oder "Wall-Street"-Kapitalismus, schliesslich "unser" moderner, fortschrittsgetriebener Welt-Kapitalismus, zeitweise begleitet oder antagoniert vom "dinosaurierartigen" Staats-Kommunismus.

Das klang alles ziemlich einleuchtend, und das nun das eigene politisch-wirtschaftliche System nach dieser Lesart quasi die "Krone der Schöpfung" darstellt, schmeichelt der chauvinistischen Seite in einem selbst. Aber muss man nicht doch einige Fragen stellen ? Wurden nicht auch Lehnsherrschaft und Absolutismus - zu ihrer Zeit - als der Höhepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet ? Hielten sich die Wall-Street-Manager der 1920er Jahre nicht für mindestens ebenso schlau wie heute die Investment-Banker ? Und waren nicht die Paladine des dritten Reichs recht überzeugt davon, dass ihr Reich 1000 Jahre währen würde ?

Könnte es nicht sein, dass sowohl politische als auch wirtschaftliche Systeme nur mehr oder minder tragfähige Lösungsversuche sind, die nicht nur zeitlich und sozial, sondern auch bezüglich der sachlichen Bereiche und der geografischen Regionen begrenzt anwendbar sind ?

Dann wäre die pauschale Herausstellung von "Demokratie und Kapitalismus" als letztgültiger, einzig wahrer Gesellschaftsordnung wohl zu weit gegriffen.



(Oktober 2015, überarbeitet April 2016)