Die Tagesschau - oder unsere tägliche Lüge ?



Der Mensch, so heisst es, sei ein Gewohnheitstier. Eine langjährige Gewohnheit meinerseits ist, dass ich, sofern möglich, um 20 Uhr die Tagesschau der ARD anschaue. Die Angewohnheit kommt nicht von ungefähr, denn der Ruf der Tagesschau war ja vor Jahrzehnten wirklich herausragend. Jemand hat es einmal sehr schön so formuliert: Wenn Karl-Heinz Köpcke, der damalige Haupt-Nachrichtensprecher, verkündet hätte, dass die Erde eine Scheibe sei, so wären Millionen Bundesbürger mit der Gewissheit zu Bett gegangen, dass die Erde eine Scheibe ist.

Dieser Ruf war nun durchaus nicht ohne Anstrengung erworben, hatte doch ein Grossteil des Publikums noch den zweiten Weltkrieg bewusst erlebt und hatte erkannt, dass der Nazi-Rundfunk eben nicht neutral berichtet hatte, sondern ein - ganz bewusst von Dr. Goebbels bedientes - Propagandainstrument war.

Zu den "ehernen" ARD-Grundsätzen gehörte damals z.B. die strikte Trennung von Nachricht und Kommentar. Wenn es einen Kommentar gab, so wurde dieser durch ein Zwischenbild mit der Aufschrift "Der Kommentar von Herrn X vom Y-Rundfunk" auch optisch getrennt. Bei Berichten über Arbeitskämpfe oder Streiks wurde immer darauf geachtet, dass beide "Tarifpartner" *1 - also Arbeitnehmer und Arbeitgeber - in etwa gleichberechtigt Stellung nehmen konnten. War es in einem Bericht notwendig, nicht überprüfbare Äusserungen etwa eines Politikers wiederzugeben, so wurde das explizit ausgewiesen, z.B. mit der Formel "nach Meinung von …".

Heute ist das schon sehr anders. Wie oft haben wir in letzter Zeit etwa folgende Formulierung gehört: "Nun live aus X unser Korrespondent Y mit seiner Einschätzung ". Und was dann kommt, ist auch oft danach: da wird viel vermutet, da ist dem Korrespondenten vieles "offenbar", da wird am liebsten "aus Sicherheitskreisen verlautbart" und so fort. Wird über Streiks berichtet, darf natürlich zuerst der Pressesprecher des Unternehmens ausführlich seine Sicht darlegen, dann folgen Statements empörter Kunden oder "Streikopfer", und wenn überhaupt ein Gewerkschaftsprecher zu Wort kommt, ist es oft ein hastig von einem Streikposten abgezogener Mitarbeiter, der ohne Konzept einige Worte ins Mikrofon stottern darf.

Das ist aber nicht der Grund dafür, warum ich mir heutzutage beim Einschalten oft leise denke "unsere tägliche Lüge gib uns heute". Wobei das natürlich eine krasse Übersteigerung ist, denn wirklich gelogen wird eher selten.


Wann verlor ich den "Glauben" an die Tagesschau ? Vielleicht begann das am 5. Februar 2003 - an jenem Tag präsentierte der damalige US-Aussenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat seine "Beweise" für die vorgeblichen Anstrengungen des irakischen Regimes, sogenannte "WMD" *2 zu erwerben bzw. zu produzieren. Ein erstaunliches Detail waren Schemazeichnungen von angeblichen mobilen, auf LKW montierten chemischen bzw. biologischen Laboratorien, in denen also "versteckt" diese chemischen oder biologischen "WMD" oder "weapons of mass destruction" hergestellt werden sollten. Und genau da wurde ich stutzig: Wenn ich meine gymnasialen Lehrstunden in Chemie und Biologie richtig in Erinnerung hatte, so machte es doch gar keinen Sinn, auf diese Art den Herstellvorgang dieser Stoffe geheimhalten zu wollen. Tatsächlich kann man dies ohne grossen Aufwand in jeder x-belieben Einbauküche, sofern sie einen Luftabzug nach aussen hat, viel unauffälliger tun. Die beiden Hauptprobleme beim Versuch, diese Stoffe "geheim" zu produzieren, sind

  1. die Anlieferung der in Menge nötigen Ausgangsstoffe unauffällig zu gestalten, und

  2. die fertigen Produkte ggf. abzutransportieren und sicher zu lagern *3.

Entsprechend habe ich nach dem Powell-Vortrag praktisch täglich darauf gewartet, dass sich geeignete Wissenschaftler dahingehend äussern bzw. von Reportern danach befragt werden. Möglicherweise haben sie das auch getan, nur war eben davon in der Tagesschau und den anderen "Mainstream"-Medien in den Tagen nach der Präsentation nichts zu hören.

Heute sind wir schlauer: Tatsächlich gab es nur noch vereinzelte, kleine Reste der im Irak-Iran-Krieg eingesetzten Chemiewaffen. Jene "Labor"-Lkw, die nach dem "Ende der Hauptkampfhandlungen" vom Pentagon stolz als die mobilen WMD-Laboratorien vorgeführt wurden, waren zwar tatsächlich "Labors" - aber zur Herstellung von Wasserstoff zur Befüllung von Beobachtungsballons (eine in der vor-Drohnen-Zeit recht gängige Technik, um z.B. Artilleriebeschuss "einrichten" zu können). Und schliesslich stellte sich die ganze Geschichte als ziemlich freie Erfindung eines einzigen Informanten mit dem Tarnnamen "curveball" heraus.


Blenden wir ein paar Jahre weiter, überspringen wir die Kampagnen für die Riester-Rente (oder besser Riester-Renten-Lüge - Albrecht Müller dröselt das in seinen Büchern sehr gut auf - siehe Buchliste), überspringen wir die Kampagne für Hartz-4-Sanktionsverschärfungen und noch einiges andere und kommen wir ins Jahr 2014.


In diesem Jahr gab es mindestens 3 aktuelle Konfliktgebiete, nämlich die Ukraine, Israel/Gaza und Irak/ISIS/Kurden. Insbesondere die Ukraine-Berichterstattung erschien oft so, als sei sie direkt vom deutschen Aussenamt (oder vielleicht gar vom State Department ?) ins Mikro diktiert.

Sogar der Rundfunkrat, normalerweise nicht an der Vorfront der "Medienkritik", sah sich zu einer Verurteilung der Ukraine-Berichterstattung gezwungen. Was ging und geht da eigentlich vor sich ?

Weiter oben schrieb ich, dass direkte Lügen eigentlich selten vorkommen. Was also sind die Mittel, die aus der ehrwürdigen Tagesschau gelegentlich ein aktives Propagandainstrument machen ?


  1. Nehmen wir hier als Beispiel für das Mittel von Ausblendung und Hervorhebung den Gaza-Konflikt. Anlass waren drei israelische Jugendliche, die von palästinensischer Seite verschleppt und schliesslich getötet wurden. Es folgte eine wütende Strafaktion Israels im Gaza-Streifen, zuerst mit der Luftwaffe, dann auch mit Bodentruppen. Und ebenso wütend verbrauchten palästinensische Kämpfer alle Vorräte an Klein-Raketen, mit denen sie auf israelische Siedlungen und Einrichtungen schossen. Wie sah das in der Tagesschau aus? Nahezu jeder Einschlag einer Qassam-Rakete in ein israelisches Haus wurde mit vor-Ort-Videos dokumentiert, die zurecht verstörten Hausbewohner mit kurzen Statements eingeblendet. Der Krieg auf der Gaza-Seite sah demgegenüber fast schon harmlos aus , es wurden Jets und Helikopter gezeigt, die Bomben abwarfen oder Raketen abfeuerten, die - aus grosser Ferne betrachtet - scheinbar nur Rauch- und Staubwolken erzeugten. Vor-Ort-Berichte aus dem Gaza-Streifen waren die absolute Ausnahme. Mit dieser Technik der Hervorhebung (der israelischen menschlichen Opfer und materiellen Verluste) und der weitgehenden Ausblendung der Opfer und Schäden auf palastinensischer Seite entstand beim Durchschnittszuschauer vermutlich der Eindruck, Israel und die Israelis hätten erheblich gelitten und alle IDF-Militärschläge wären folglich ganz berechtigt gewesen. Demgegenüber zeigen die Opferzahlen ein ganz anderes Bild: Dort stehen weniger als 80 getöteten Israelis mindestens 1000 (die Schätzungen gehen bis über 2000) palästinensische Todesopfer gegenüber. *4

  2. Eine ganz andere Ebene sind die Infografiken - ein für das TV-Format ohne Zeifel sehr geeignetes Instrument der Informationsvermittlung. Ein exemplarischer Vorfall fand neulich einige Aufmerksamkeit im Netz: Da hatte man den entsprechenden Bericht des Innenministeriums über die Anzahl rechts- und linksextremistischer Gewalttaten in eine solche Infografik umgesetzt. Nun war die Anzahl der rechtsextremistischen Gewalttaten deutlich höher - in dieser Infografik sahen jedoch beide Balken fast gleich hoch aus. Der Trick: man hatte einen logarhytmischen Maßstab verwendet, wodurch der Balken für die rechtsextremistischen Gewalttaten in der Spitze deutlich abgeflacht wurde. Das ist nun leider kein Einzelfall - nicht direkt gelogen, aber auf jeden Fall bewusst verunklarend.

  3. Ein ganz düsteres Kapitel sind mittlerweile die bei jeder Gelegenheit vorgeführten "Experten". Zum einen wird selten genau genug erläutert oder durch Einblendung klargemacht, wieso dieser oder jener Interviewpartner nun überhaupt ein Experte für das jeweilige Thema sein soll. Auch wurde und wird bei vielen Berichten zu Renten- oder Gesundheitsreformen kaum jemals darauf hingewiesen, inwieweit die "Experten" ein direktes oder indirektes Eigeninteresse bei dieser Sache haben (nur als Beispiel seien Bert Rürup, Bernd Raffelhüschen oder Meinhard Miegel genannt). Mittlerweile gibt es auch "Einwegexperten"! So gab es anlässlich der Ablösung der Krim von der Ukraine ein längeres Interview mit einem "Experten-Professor", der auf die Frage, ob denn die Krim ein Teil der Ukraine sei, sinngemäss antwortete: "Ja natürlich, alle Ukrainer inklusive der auf der Krim haben doch 1991 für den neuen Staat Ukraine gestimmt." Wie naiv kann man sein, die spezifische Lage von 1991, als sich fast alle ehemaligen Sowjetrepubliken (und zwar natürlich in der jeweils gegebenen territorialen Form) hektisch um die Loslösung vom als gestandeten Walfisch empfundenen Sowjetreich bemühten, nicht einmal zu erwähnen. Aber - wie gesagt - das war wohl ein Einwegexperte, der davor und danach nie wieder auftauchte...

  4. Schliesslich beleuchtet die Aufregung um die sogenannten Sylvesterattacken von Köln ein sehr interessantes Thema. Hier geht es nicht um den platten Vorwurf der "Lügenpresse", der danach nun sehr intensiv zum Beispiel im AfD- und Pegida-Umfeld die Runde machte. Tatsächlich gibt es gute Argumente dafür und dagegen, die festgestellte oder vermutete Herkunft von Straftätern in solchen Berichten zu nennen. Das eigentlich Interessante an der Angelegenheit war doch die zweitägige Verzögerung, bevor überhaupt über das Ereignis berichtet wurde. Dabei hätte man das ja durchaus sofort tun können - nur neutral formuliert ("...in der Sylvesternacht kam es in Köln zu zahlreichen teils sexuellen Übergiffen auf Besucher der Feiern auf dem Domplatz...") - an dem Faktum kann es ja aufgrund der Polizeiberichte keinen Zweifel gegeben haben. Eigentlich lässt das nur den Schluss zu, dass da - länger als sonst ? - auf eine "offizielle Sprachregelung" gewartet wurde. Wer sich über die Effektivität solcher grossräumigen Sprachregelungen informieren will, sollte Sebastian Haffners Ausführungen zur Propagandapolitik Joseph Goebbels lesen (siehe Bücherliste).

Damit ich nicht der Einseitigkeit bezichtigt werde: Auch das ZDF-"Heute"-Format manipuliert (gelegentlich/oft ?) mit ähnlichen Mitteln.


Auch so etwas unverdächtiges wie der Deutschlandfunk ist, wenn mein kurzes Hörerlebnis von dieser Woche exemplarisch ist, auf nie vermutete journalistische Tiefebenen geraten. Als ich nämlich neulich im Carsharing-Auto das Radio einschaltete, war der DLF angewählt - normalerweise nicht mein Sender. Aber es wurde gerade ein ganzes "Dreierpack" von Kommentaren angekündigt - und angesichts der altmodischen Präsentation liess ich eingeschaltet und erwartete einigermassen fundierte Analysen.

Der erste Kommentar behandelte die verkündete "Vor-Vereinbarung" der Volkswagen-AG mit einem kalifornischen Gericht wegen des Diesel-Abgasskandals. Lang und breit macht sich Kommentatorin Silke Hahn Gedanken darüber, ob nach diesem "Etappensieg" nicht doch grosse finanzielle Risiken auf den Konzern warten, ob in Europa nicht der Sturm der Verbraucherschützer mehr "Feingefühl" erfordern würde. Denn der Konzern habe eine "verpatzte Krisen-Kommunikation" geleistet und sei in zahlreiche Fettnäpfchen getreten. Unklar ist ihr, welche Rolle "die Politik" nun einehmen werde, ob sie sich vehement hinter die Verbraucherinteressen stellen oder doch besser für den Erhalt der Arbeitsplätze einsetzen solle.

Kann es sein, dass die Dame da etwas ganz Entscheidendes geflissentlich übersieht und mit "Feingefühl", "verpatzt" und "Fettnäpfchen" bewusst eigentlich ungeheuerliches kleinredet ? Schliesslich waren jene Abgasnormen ja (hoffentlich) nicht zur mentalen Selbstbefriedigung irgendwelcher Bürokraten erlassen worden, sondern um uns (oder die kalifornischen Bürger) vor giftigen Verbrennungsprodukten zu schützen. Wer solche Vorschriften mit Vorsatz umgeht, vergiftet doch seine Mitbürger und ist um keinen Deut besser als jemand, der mit dem Altölkanister in der Hand ein Wasserschutzgebiet besudelt. Und natürlich müssen da in einem Rechtsstaat adäquate Strafen folgen - sonst könnte man sich den Gesetzgebungsaufwand gleich schenken. Eine Gefahr für Arbeitsplätze besteht natürlich, aber gleichzeitig gehört es zum Wesenskern von im Markt konkurrierenden Unternehmen, dass sie sich den Marktbedingungen anzupassen haben - und dazu gehören natürlich auch die gesetzlichen Vorschriften. Wenn es VW tatsächlich nicht kann oder nicht will, dann ist es auch im ökonomischen Sinne besser, wenn der Konzern sich verkleinert und in den evt. zu veräussernden Betriebsteilen andere Firmen die Möglichkeit haben, bessere und gesetzeskonforme Produkte zu erzeugen.


Der nächste Kommentar von Henry Bernhard zum Thügida-Aufmarsch in Jena ist nur insofern interessant, dass der Autor offenbar keine Ahnung von der Unabhängigkeit der Gerichte hat und die getroffene Gerichtsentscheidung auch deshalb für "töricht" hält, weil die Kammer vorher nicht die Hände der Antragsteller begutachtet hat (da hätte man nämlich bei einem der Antragsteller das Geburtsdatum Hitlers eintätowiert erkennen können). Offenbar schleppt da jemand ein schweres Trauma aus Jugendzeiten mit sich herum, als Mama oder Papa vor dem Essen die Kinderhände auf "Trauerränder" inspizierten...

Die als Aufhänger dienende Forderung des Jenaer Bürgermeisters, nun einfach alle "historisch sensiblen" Tage mit einem generellen Demonstrationsverbot zu belegen, spottet eigentlich jeder Beschreibung. Fleissaufgabe an alle Wikipedia-Nutzer: Wer als erster zu jedem Tag der Jahres ein "historisch sensibles" Thema in der jahrhundertelangen deutschen Geschichte findet (Joseph Goebbels Geburtstag, Hans Globkes Todestag, Niederschlagung des Spartakus-Aufstands, Prozesseröffnungstermin für Adolf Eichmann, das Datum von David Ben Gurions Bar Mitzwa etc. pp.), der bekommt eine Flasche Original-Maggi von mir !


Beim Beitrag von Volker Finthammer (Aufhänger die Schäuble'sche Forderung nach einer Erhöhung des Renteneintrittsalters) wird es wieder interessanter. Er erkennt richtig, dass da ein Thema für den Bundestagswahlkampf 2017 "vorbereitet" wird. Aber dann kommen nur wieder die üblichen Stichwörter zur Rentenproblematik: die demografische Katastrophe; die lästigen und teuren Babyboomer, die die schöne klassische Alterspyramide zur "Baumkrone" verunstalten; die uneinsichtigen Arbeitnehmer, die noch immer nicht geschlossen in eine private Altersvorsorge investieren; der Generationenkonflikt, bei der die Minderheit der "Jungen" gerne übergangen werde; und so fort.

Das im Jahre 2016 jemand ernsthaft über das Rentensystem berichten will und die theoretische Grundlage für das klassische Umlagesystem - das Mackenroth-"Theorem" - nicht einmal erwähnt, ist schon für sich ein Armutszeugnis. Am Schluss plädiert Herr Finthammer dafür, "an allen existierenden Stellschrauben zu drehen", um das System "wieder ins Lot zu bringen". Keine Rede davon, dass ja gerade die bewusste Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus durch die diversen "Reformen" der letzten Jahrzehnte die Sache überhaupt aus dem Lot gebracht hat. Und dass es hier, wie bei so vielen anderen Vorgängen auch, garnicht um einen "Ausgleich zwischen Jung und Alt" geht, sondern um eine notwendige Umverteilung zwischen Arm und Reich, ist natürlich auch kein Thema. Wie sagte es ein Schweizer Kommentator einmal: "Der Schweizerische Millionär braucht die gesetzliche Rente nicht, aber das Schweizer Rentensystem braucht den Schweizer Millionär".

Die Metaphorik von den "Stellschrauben" hat mich übrigens an meine Jugend erinnert, als wir gerne einmal ein nicht mehr so gut funktionierendes Röhren- oder Transistorradio aufschraubten und die vielen Einstell-Potis und Stellkondensatoren bewunderten. Diese waren, aus gutem Grund, meist mit einem bunten Sicherungslack fixiert. Wer forsch an allen existierenden Stellschrauben drehte, hatte am Ende meist kein Radio mehr, sondern nur noch einen Rauschgenerator …


(April 2016)


Ergänzung Mai 2016:


Zurück zur Tagesschau: Erinnert sich noch jemand an die Ausgabe vom 17. November 2015 ? Wenige Tage zuvor hatten die Terroranschläge von Paris (am 13.11.) für weltweites Aufsehen gesorgt. In der deutschen Medienlandschaft war nun ausgerechnet das für den 17.11. geplante Länderspiel Deutschland-Niederlande in Hannover zum "Signal gegen den Terror" hochstilisiert worden. Und in der 20-Uhr-Tagesschau wurde nun berichtet, dass das Spiel wegen einer Bombendrohung abgesagt wurde. Aber ist "berichtet" da noch der richtige Ausdruck ? Von den 21 Minuten Gesamt-Sendezeit dieser Ausgabe wurden über 15 Minuten für dieses Thema aufgewendet. Und es wurde "alles" beleuchtet - welcher Politiker wann und wo von der Absage erfuhr, wann Minister de Maiziere die Einsatzleitung übernahm, wo sich die Fussball-Nationalmannschaft befand, wie es vor den Toren des Stadions und in den Strassen Hannovers aussah. Und die Nachrichtensprecherin Judith Rakers mutierte gar zur Interviewerin, die per Videoschaltung nicht nur Ihre Reporterkollegen befragte, sondern auch den Polizeipräsidenten von Hannover. Und wieder lieferte ein ARD-Mann, in diesem Fall Rainald Becker, eine "Einschätzung", die eher eine Unkerei darüber war, was für Schrecklichkeiten nun möglich seien. Am interessantesten war am Ende jene Pressekonfrenz des Innenministers, auf der de Maiziere die schöne Formulierung "ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern" fand.

Es wurden also 15 Minuten Sendezeit benötigt, um über ein Nicht-Ereignis - ein abgesagtes Fussballspiel - zu berichten. Ein Ereignis, dass man genausogut in einem Satz hätte abhandeln können: "Wegen einer Bombendrohung wurde das Länderspiel in Hannover abgesagt, es wurden keine Bomben gefunden." Wer heute nach dem abgesagten Länderspiel im Netz recherchiert, findet absolut nicht Neues dazu - allenfalls die Mutmassung einer Zeitung, dass der Hinweis auf den möglichen Terroranschlag "von einem israelischen Geheimdienst" stammen könne. Wozu also dieses Crescendo an aufgeregter Journalistik ? Vielleicht hat Herr de Maiziere da ungewollt den richtigen Hinweis gegeben: "… die Bevölkerung verunsichern ..." - war das die heimliche Absicht ? Hat Volker Pispers recht, wenn er sagt, dass wir mit der Erzeugung von Angst regiert werden ? Jedenfalls war diese Ausgabe der Tagesschau ein schöner Beleg für seine These. Wenn es der Preis für die "Herrschaftsnähe" der Journalisten von ARD und ZDF ist, gelegentlich zum direkten Handlanger der Regierungsinteressen zu werden, dann sollten sich diese Journalisten die Frage stellen, ob das mit dem Berufsethos vereinbar ist.




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*1: Wobei die Wortwahl "Tarifpartner" natürlich insofern tendenziös war, als die beiden Seiten in der Erhardt'schen Sozialen Marktwirtschaft eben Partner sein sollten - auch wenn sich einige der konkreten Personen wohl eher als Feinde verstanden.

*2: Auch die plötzlich und von fast allen Medien übernommene Anwendung des Begriffs WMD=Massenvernichtungswaffen war eigentlich schwer verständlich. Denn entweder ist eine Waffe "per se" eine Massenvernichtungswaffe, weil ihr Einsatz praktisch unweigerlich Tausende von Menschen tötet (das sind dann aber eigentlich nur nukleare Waffen, die aus physikalischen Gründen eine "Mindestsprengwirkung" haben) - oder aber es sind diejenigen Waffen, die in einem konkreten Konflikt die meisten Todesopfer "produziert" haben - das können aber auch z.B. einfache Macheten sein, wie sie in Ruanda verwendet wurden. Im ersten Weltkrieg wurden übrigens millionenfach Giftgasgranaten produziert und verschossen, trotzdem waren Maschinengewehr und konventionelle Artilleriegranate "die Massenvernichtungswaffen" jenes Krieges. Übrigens behauptet niemand, dass die Uni Freiburg "WMD" horten würde - obwohl im Chemischen Institut der Uni Freiburg jeden Tag Dutzende Menschen mit Chlorgas, dem zuerst eingesetzten Giftgas des ersten Weltkrieges, hantieren.

*3: Denn es ist zwar richtig, dass von einigen dieser Stoffe recht geringe Mengen ("ein Reagensglas voll") reichen, um z.B. in einem geschlossenen Zimmer alle Personen umzubringen. Aber für einen Einsatz in einer "Kampfzone", in freiem Feld, müssen erhebliche Mengen eingebracht werden, um eine militärisch merkbare "Wirkung" (= Tote und Verwundete) zu erzeugen. Theoretisch würden bei biologischen Kampfmitteln auch ganz geringe Mengen genügen, wenn die ausgelöste Krankheit zu hochansteckenden Infizierten führen würde. Allerdings hat sich militärische Forschung in diesem Bereich eigentlich immer auf abgeschwächte, wenig virulente Bioformen konzentriert. Aus naheliegenden Gründen: Ein Stoff, der bei einer geringen Unachtsamkeit eines Technikers die grossräumige Auslöschung der eigenen Truppe verursachen könnte, wäre eigentlich kein Kampfmittel mehr.

*4: Dass da eine erheblich Asymmetrie schon bei den verwendeten Waffen vorlag, hätte man auch vor Abschlusss der Opferzählungen feststellen können. So sind die berüchtigten "Qassam"-Raketen eher do-it-yourself-Versionen der Hightech-Raketen, die etwa die Bundeswehr im Arsenal hat. Ein je nach Version 1-3 Meter langes Rohr beherbergt als Sprengkopf 5-12 kg TNT-Sprengstoff, daran sind grob geschnittene Bleche als Stabilisierungsflossen angeschweisst. Nach Abschuss ist keine Bahnbeeinflussung möglich (der Fachterminus lautet "ungelenkt"). Demgegenüber hat eine typische Fliegerbombe, wie sie die israelische Armee (IDF) verwendet, ein Gesamtgewicht von mindestens 110 kg mit mindestens 40% Explosivstoff-Anteil. Als Freifallbombe ist sie zwar auch ungelenkt, aber die Zieleinrichtungen der Kampfjets sorgen für eine wesentlich höhere Trefferquote. Wenn man die zahlreichen anderen Lenkwaffen, Mörser und Granaten im IDF-Arsenal mitbedenkt, handelt es sich eher um einen Kampf von (palästinensischem) David gegen (israelischen) Goliath.

Um nicht missverstanden zu werden: Jemand, der eine Qassam-Rakete auf ein Wohngebiet abfeuert, hat Tod und Vernichtung im Sinn und betreibt einen schmutzigen Terrrorkrieg. Aber befindet sich ein israelischer General, der mit Dutzenden Bomben ein Gaza-Wohngebiet pulverisiert, wirklich im kollektiven Notwehrzustand ? Zumal sich Israel ja - zumindest in diesem Konflikt - hinter dem vermutlich zu recht hochgelobten "Iron-Dome"-Abwehrsystem hätte verschanzen können. Die meisten israelischen Todesopfer gab es erst nach Beginn der Bodenoffensive zu beklagen.

*5: Die Sendung ist momentan (15.5.) noch in der ARD-Mediathek abrufbar.