Die schweigende Zukunft


"Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz" - Max Frisch



Im Jahre 1960 wurde dem DDR-Publikum mit "Der schweigende Stern" einer der bis dahin aufwändigsten DEFA-Filme präsentiert. Die Geschichte: In einer nahen Zukunft wird eine international besetzte Expedition zur Venus (damals durfte man einen Planeten noch "Stern" nennen) geschickt. Anlass ist ein neuentdecktes Artefakt aus dem "tungusischen Meteor" von 1908, das sich eindeutig als von Venus-Bewohnern hergestellt erweist - aber alle darauf einsetzenden Versuche, z.B. per Funk Kontakt aufzunehmen, scheitern - der Planet schweigt beharrlich. *1

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Gelegentlich wird von den akademisch gebildeten Personen eines Landes als der "Intelligenz" gesprochen, ähnlich wird die - wie auch immer abgegrenzte - Jugend oft als "die Zukunft eines Landes" bezeichnet. Nun erscheint es mir als ein interessantes Phänomen, dass - zumindest soweit es sich in Presse und sonstigen Medien darstellt - genau diese bundesrepublikanische Jugend, die doch eigentlich am ehesten um die Zukunft (ihre Zukunft) besorgt sein müsste, ebenfalls ein beharrliches Schweigen zeigt.


Man könnte eine provokant zugespitzte These formulieren:

>> Die akademisch gebildete Jugend Deutschlands befindet sich im intellektuellen Tiefschlaf;

als Motor oder Agens politischer Diskussion ist sie praktisch ausgefallen <<


Nun gibt es "Jugend-Bashing" vermutlich schon seit der römischen Antike; so will ich das nicht verstanden wissen. Vielmehr ist mir rätselhaft, warum in der politisch/gesellschaftlichen Diskussion "die akademische Jugend" so wenig auftaucht. Gewiss wundert es niemand, dass etwa aus der "Jungen Union" keine intelligenten Einwürfe zu vernehmen sind - dort war wohl schon immer eine geistige "Spontanvergreisung" Aufnahmebedingung. Aber dass die entschiedensten Gegenreden zum neoliberalen bzw. ökonomistischen Gesellschaftentwurf oft von Damen und Herren "mittleren" oder "gesetzteren" Alters kommen, ist doch schon auffallend. Als 2011 der über 90-jährige Stephane Hessel sein kleines, recht direkt an die Jugend gewandtes Buch "Empört euch!" herausbrachte, wurde dem zwar einige mediale Anerkennung zuteil - aber irgendwie prallte auch das (meiner Einschätzung nach) an dem grossen Schweigen ab. Dabei gäbe es doch - gerade für eine gebildete Jugend - reichlich Stoff zur Empörung.


Auch historisch betrachtet ist das merkwürdig. Mindestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts jedenfalls waren Studenten eigentlich immer dabei, wenn es um die Formulierung neuer gesellschaftlicher Ideen ging. Dabei war sicher nicht alles Diskutierte richtig , manchmal ging es auch in grossen Schritten in die falsche Richtung - man denke an den grossen Einfluss, den die NSDAP schon früh an den deutschen Universitäten hatte. Auch haben sich manche Organisationen inhaltlich total verändert - so konnten die Studentencorps im 19. Jahrhundert als fortschrittlich bezeichnet werden, während sie heute meist reaktionär sind.


Freilich kann es sein, dass "die Jugend" gar nicht schweigt, sondern nur keine mediale Beachtung findet *2 oder mein Beobachtungs-"Fenster" zu eng ist. Für eigene "Feldstudien" bin ich sicher nicht die richtige Person, dafür habe ich zuwenig Gelegenheit, mit jungen Leuten in einiger Tiefe zu sprechen. Aber die wenigen Gelegenheiten, wo ich etwas intensivere Gespräche führen konnte, scheinen die "Schweige"-These zumindest nicht zu widerlegen.


Erklärungsversuch 1: Möglicherweise ist das subjektive Empfinden gerade der akademischen Jugend ein ganz anderes ist als von mir vermutet. Wenn man die gegenwärtige Gesellschaft als die beste aller möglichen empfindet, so gäbe es keinen Grund, dagegen zu argumentieren oder sich gar zu organisieren.

Erklärungsversuch 2: Es ist ein mehr oder minder grosses Unbehagen vorhanden, kann sich aber - zumindest im Studium - wegen der immer grösseren Stoffverdichtung und der organisatorischen Anforderungen ("Scheine kloppen") garnicht mehr artikulieren. Die "Verschulung" und die Umstellung auf Bachelor/Master-Studiengänge hätten dann nicht nur einen mehr oder minder gewünschten "Beschleunigungseffekt" gehabt, sondern wären - möglicherweise absichtlich - systemstabilisierende Massnahmen gewesen.

Erklärungsversuch 3 (die zynische Variante): Da die Jugend eine grosse kommende Katastrophe bewusst oder unbewusst antizipiert, aber keinerlei Änderungsmöglichkeiten mehr erkennt, will sie vorher noch alle Annehmlichkeiten des bestehenden Systems unter dem Motto "work hard, party hard" mitnehmen.


Vielleicht hat jemand im Kreis der Leserschaft eine bessere Erklärung. Wahrscheinlich muss man auch "die akademische Jugend" genauer fassen oder unterteilen. Mich würde es ehrlich interessieren.


(April 2016)


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*1 Der Film ist übrigens - wie so viele Science-fiction-Filme - auch ein Spiegel der Gesellschaft, in der er entstanden sind. Es ist nicht nur ein mittlerweile rührender technischer Fortschrittsglaube ("in 10 Jahren fliegen wir zur Venus") zu besichtigen, sondern auch ein grosser Glaube an Fortschritt in den Beziehungen der Völker. So sind in der internationalen Mannschaft der Raumkapsel nicht nur die "üblichen Verdächtigen" aus den damaligen realsozialistischen Ländern, sondern auch Inder und Amerikaner versammelt. Erwähnenswert auch die erstaunlich pazifistische Einstellung und die implizite Warnung vor einer Selbstzerstörung der Menschheit. Filmhistorisch interessant sind die für die damalige Zeit sehr aufwändigen Tricks und Bauten - die später von der DDR-Führung so oft bemühte Rede vom "Weltniveau" wäre hier wohl angebracht gewesen.

*2 siehe hierzu auch "Tagesschau-Tradition"