Die Reise zum Mond, das Traumschiff und das digitale Kaninchen



Im Jahre 1902 drehte der im jungen "Film-Business" schon recht routinierte Georges Melies seinen Film "Le Voyage dans la Lune" oder "Die Reise zum Mond", offensichtlich inspiriert vom gleichnamigen Roman seines Landsmannes Jules Verne. Leider sind eine grosse Anzahl dieser frühen Filmkunstwerke in den grossen und kleinen Katasrophen des 20. Jahrhunderts vernichtet worden. "Le Voyage" hat glücklicherweise überlebt, und so kann man auch heute noch den Einfallsreichtum und die grosse Spielfreude dieses Mannes und seiner Schauspieler bewundern. Leider gab es damals noch keinen Filmton, aber die Gesten der Darsteller sprechen für sich. Überhaupt zeichnet sich der (Kurz-)Film durch eine gehörige Portion Eigenironie aus, etwa wenn die Raumkapsel unsanft auf der Mondoberfläche auftrifft und das "Mondgesicht" darauf mit einem Schmerz andeutenden Augenzwinkern reagiert.

Jene Tricks, die Melies damals für diesen ersten "Science-fiction-Film" erschuf, haben sicher seinen Zeitgenossen das eine oder andere "ah!" und "oh!" abgerungen - heute kann man damit vermutlich nicht 'mal ein Kindergartenkind beeindrucken. Trotzdem ein beeindruckendes Werk, das ganz zurecht seinen Platz in der "Cinémathèque française" gefunden hat.


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Im Jahre 1986 "dreht" John Lasseter in den neuen Pixar-Studios mit "Luxo Jr." den vermutlich ersten voll-computer-animierten Kurzfilm der Welt. Die beiden "Hauptdarsteller", eine grosse und ein kleine Schreibtischlampe - eben Luxo und Luxo jr. - zeigen in den wenigen Minuten Laufzeit praktisch alles, was die Graphikcomputer damals hergaben (was heutzutage natürlich nur noch ein Gähnen bei den Experten des Genres auslöst). Immerhin waren damit zwei spontan sympathische Kunstfiguren erschaffen worden, deren spezifische "Ästhetik" auch heute noch in vielen Filmen der Pixar-Studios zum Tragen kommt - natürlich technisch um einige Grade anspruchvoller. So hätte die "Berechnung" der Haare des Monsters aus "Monster AG" die damaligen Computer wohl zum Verglühen gebracht …


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Knapp 11 Jahre später (1997) ist die Computertechnik schon wesentlich weiter. In der von James Cameron dirigierten Verfilmung des Titanic-Untergangs von 1912 kann man nicht nur Leonardo di Caprio und Kate Winslet in den Hauptrollen bewundern, sondern auch minutenlange Sequenzen, die komplett oder teilweise computergeneriert waren. Das betraf nicht nur tricktechnisch eher einfache Bereiche wie die Unterwasserszenen, sondern viele "Aussenaufnahmen". So befinden sich di Caprio und Winslet bei der berühmten, tausendfach nachgeäfften Szene, in der er Ihre Arme - auf dem Bug des Schiffes stehend - wie eine Gallionsfigur ausbreitet, durchaus nicht auf einem Schiff aus Eisen und Stahl - die ganze Titanic ist nur noch "CGI" (computer generated imagery). Lange nach der Premiere des Filmes kam ein interessantes Detail ans Licht: Es hatte sich damals eine polnische Werft angeboten, einen Nachbau der Titanic in Originalgrösse und seetüchtig neu zu erschaffen *1 . Und obwohl diese Echt-Anfertigung angeblich nur halb so teuer war wie es schliesslich die Ausgaben für CGI waren, entschlosss man sich seitens des Studios, lieber mit CGI zu arbeiten. Auf den ersten Blick schwer verständlich, wieso das Studio die Möglichkeit ausliess, einige Millionen Dollar zu sparen. Wenn man aber weiss, dass Hollywood nur eines mehr hasst als Kosten - nämlich Kostenrisiken - wird es schon verständlicher. Denn eine "echte" Titanic hätte ja Dreharbeiten auf See (oder zumindest auf Wasser) bedeutet - was wenn Schaupieler und Komparsen tagelang wegen Seekrankheit ausfallen? Und auch "künstlerisch" war der Film so besser unter Kontrolle (auch so ein Hollywood-Lieblingswort) zu halten. Erscheinen vielleicht die Nietköpfe der Bordwand zu klein oder zu gross - kein Problem bei CGI, man stellt einfach den entsprechenden "Regler" grösser oder kleiner. Oder aber die Tageslichtaufnahmen mit dem elektronisch ins Bild "gestanzten" Liebespaar di Caprio/Winslet sollen doch lieber in der Abenddämmerung stattfinden - wieder kein Problem bei CGI, den richtigen Regler betätigt und vielleicht noch ein "Sonnenuntergangs"-Applet aktiviert - schon ist die Sache in der (virtuellen) Kiste. Klarer Fall: spätestens mit Titanic beginnt die Liebesgeschichte Hollywoods mit CGI.


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Eines der traurigsten Stücke "making-of"-Materials stammt von den Dreharbeiten zur "Alice im Wonderland"-Neuverfilmung von 2010.

Man sieht Johny Depp und seine Partnerin in einer vielleicht schulklassengrossen "blue-box" agieren. Teilweise sitzen sie dabei vor einem - ebenfalls grossflächig blau abgedeckten - Tisch und bemühen sich, die skurrile Kaffeetisch-Szene aus der Alice-Erzählung nachzustellen. Später - nach CGI-Bearbeitung - werden sie dabei von einer Art Zauberwald umgeben sein, die Gegenstände auf dem Tisch werden sich laufend verwandeln und ein komplett "digitales" Kaninchen wird durchs Bild hüpfen. Möglicherweise muss man die darstellerische Kunst Johnny Depps und seiner Partnerin wirklich bewundern, in dieser fast komplett leeren Umgebung jene Mimik und Gestik zu entwickeln, die dann hinterher zum CGI-Umfeld "passt". Aber es ist wirklich traurig anzuschauen …


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In einem TV-Magazin wurde einst ein Filmplot (aus den späten 1990er oder frühen 2000er Jahren ?) vorgestellt, der eine mögliche Film-Zukunft oder besser Dystopie entwirft. Leider habe ich vergessen, ob dieser Film überhaupt je realisiert wurde und wenn ja, unter welchem Titel. Die Filmidee ist, dass ein Filmstudio der Zukunft reihenweise Starlets engagiert, um sie in einem aufwändigen Verfahren sozusagen komplett zu "digitalisieren". Mit diesen digitalisierten "Image-Datenclustern" will man dann eine sorgfältig geplante Film-Karriere starten, ohne durch Krankheiten, kreative Krisen oder ähnliches bei den Produktionen aufgehalten zu werden. Einem der Verantwortlichen dämmert es, dass die ja eigentlich nutzlos gewordenen humanen Vorbilder den so sorgfältig geplanten Pseudo-Biografien schaden könnten - etwa durch öffentlich gewordene Drogen-Exzesse oder allzu offen ausgelebte Promiskuität. Er tut das einzig "Rationale" und heuert professionelle Killer an, um die potentiellen humanen "Störfaktoren" zu eliminieren. Eine gnadenlose Jagd beginnt …


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Nun, soweit wie in diesem Filmplot wird es in der Realität hoffentlich nie kommen. Aber es ist auch klar, dass die beständig wachsende Anwendung heute noch garnicht vermuteter CGI-Einsatzmöglichkeiten auch bislang ungeahnte Effekte ausllösen wird. Schon vor einigen Jahren gab es einen Werbespot, in dem die digitalisierten Abbilder einstiger, längst verstorbener Leinwandgrössen wie Humphrey Bogart oder Marilyn Monroe zur werblichen Unterstützung einer US-Brause fast nahtlos in eine neu gefilmte Barszene "eingeklinkt" wurden.

Andererseits wird CGI heute bereits in vielen Fällen benutzt, wo man es zunächst garnicht vermuten würde. So wurden schon im 1997er Film "Comedian Harmonists" - von Thematik und Settings ganz gewiss kein SciFi- oder Action-Abenteuer - für die Auffüllung von Hafenszenen eine begrenzte Gruppe von Komparsen mehrfach separat aufgenommen und dann in die Gesamtszenerie eingeschnitten. Im sehenswerten Dokudrama "Vom Reich zur Republik - die Reichsgründung" aus dem Jahr 2012 werden ebenfalls Komparsen elektronisch "vervielfältigt", um z.B. die Szene im Spiegelsaal von Versailles auf die passende Menschenmenge zu bringen.

Manchmal ist man doch wieder überrascht, wie sehr CGI auch bei Dokumentarfilmen eingesetzt wird. Ich erinnere mich an eine Doku zu Prof. Picards Rekord-Tauchfahrt mit der "Trieste" in den Marianengraben im Jahre 1959. Gegen Ende wurde die eigentliche Tauchfahrt gezeigt - zunächst noch die an der Meeresoberfläche stattfindenden Vorbereitungen, dann der Bathyscaph von aussen, wie er immert weiter hinabsinkt, während das Umgebungswasser immer dunkler wird, um schliesslich undurchdringlich schwarz zu werden. Diese Aussenansicht des kleinen Tauchbootes mit seiner einzigen Positionsleuchte, in deren engem Leuchtfeld manchmal Tiefseelebewesen aufblitzten, inmitten dieser schwarzen, stummen Unendlichkeit kam mir sehr eindrucksvoll vor - bis mir klar wurde, dass es eine solche Filmaufnahme nicht geben konnte - die "Trieste" tauchte ja allein, und Tauchroboter mit Videokameras gab es noch nicht ...


Natürlich ist CGI nicht per se gut oder schlecht, sondern ein weiteres technisches Hilfsmittel, welches sinnvoll oder nicht sinnvoll eingesetzt werden kann. Das Beispiel mit der "Trieste-Doku" zeigt m.E., wie man es nicht machen sollte: In eine Dokumentation neben authentischem historischen Filmmaterial CGI-Szenen zu setzen, ohne sie deutlich als solche zu kennzeichnen. Schlimmer geht allerdings immer: Auf NTV oder N24 kann man "Dokumentationen" bewundern, die komplett computergeneriert sind und z.B. "Die Schlacht um Midway" oder ähnlich heissen. Und die Ähnlichkeit im optischen "Finish" dieser Pseudo-Dokumentationen mit dem Verpackungdesign ähnlich benannter Computerspiele lässt denn auch ahnen, dass da ein und derselbe CGI-Grafikpool halt 2 verschiedenen "Vermarktungsvarianten" zugeführt wurde.


Im reinen Spielfilm ist die Anwendung von CGI im Prinzip unproblematischer. Allerdings - die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Schauspielerberuf möglicherweise zu einer Art einmaligen Sommercamp-Beschäftigung degradiert wird. Die Zeit und das Geld, einem talentierten Schauspieler über Jahrzehnte Zeit zur Entwicklung und Aneignung immer neuer Rollenbilder zu geben - wie es z.B. bei Jack Nicholson, Meryl Streep oder - diesseits des Atlantiks - bei Catherine Deneuve oder Daniel Auteuil der Fall war, wird vielleicht niemand mehr aufbringen können oder wollen.

Jedenfalls ist schon deutlich zu sehen, wie in Hollywood immer mehr das Konzept risikoarmer Serien-Produktionen ("Die Hard I, II, III, IV, V" etc.) mit starker Konzentrierung auf ein Teenie-Publikum (mitsamt Ballereien und CGI-Explosionen im 5-Minuten-Takt) überhand nimmt. Auch gibt es bei den Grossproduktionen einen immer grösseren Anteil des "Merchandising" am Gesamterlös eines Filmprojekts - oder platter gesagt eine ökonomische "Komplettverwurstung" aller filmischen Ideen. Dagegen scheint die europäische Filmproduktion, nicht zuletzt dank der verschiedenen öffentlichen Filmförderungsmittel (Länder-, Bund- und EU-Förderinstitutionen) noch immer fähig zu sein, Filme mit wenig oder keiner CGI, dafür mit Konzentration auf Story, Charakterzeichnung und Bildfindung zu erstellen. Auch am Kinozuschauer wird es liegen, ob dieser Art Film eine Marktnische gesichert werden kann.


(April 2016)



*1 Es wurde zwar auch ein "richtiges" Schiff deutlich anderer Bauart benutzt, halb versenkt in einem mexikanischen See - allerdings im Wesentlichen nur für die Gruppenszenen auf den Decks der schon deutlich über Bug absinkenden Titanic.