Bekenntnisse eines pessimistisch-realistischen Optimisten

- und (vorläufig) letzte Worte zur EU


Der Pessimist beklagt die Finsternis im Tunnel,

der Optimist erblickt das Licht am Ende des Tunnels,

der Realist sieht die Lichter des Zugs nahen -

und der Lokführer sieht 3 Idioten im Gleis stehen.


Von verschiedenen Seiten, auch im persönlichen Gespräch, bin ich darauf hingewiesen worden, dass "truthorconsequences.de" einen übertrieben pessimistischen Ton habe, ja dass die Lektüre gelegentlich gar depressiv machen könne. Wer mich persönlich kennt, darf gerne darüber spekulieren, welche "Sozialisationsbedingungen" nun meinerseits zu einem vielleicht übermässigen Hang zur Kritik geführt haben. Andererseits gehört zu den Alltagsweisheiten, an die ich glaube, auch der unwiderlegbare Satz "Irgendwie geht’s immer weiter...".



Man kann sich - etwa in Science-fiction-Filmen - die grössten Katastrophen ausmalen (Erdbeben, Tsunamis, Atomkriege) - die Überlebenden werden irgendwann aus den Trümmern hervorkriechen und "irgendwie" weiter machen - so sind die Menschen eben.

Aber ein Fatalismus angesichts von Sachlagen, die man sehr wohl zum Guten oder Schlechten hin beeinflussen kann, liegt mir dann doch nicht. Und da gehört m.E. eine gründliche Analyse der Probleme an den Anfang, sonst kann man kaum zu sinnvollen Lösungsvorschlägen kommen. Kritik also als Basis und ständige Begleitung eines sinnvoll konstruierenden Prozesses.


So mögen die Warnungen vor dem "Waldsterben" Anfang der 1980er Jahre aus der Rückschau betrachtet übertrieben klingen (und hatten bei manchen Protagonisten, etwa der Grünen, manchmal schon einen fast hysterischen Klang). Doch haben wohl erst diese Warnungen zur Umbewertung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe beigetragen, der zu konkreten politischen Massnahmen zur Förderung "erneuerbarer" Energien und Schadstoffreduktion geführt hat. Kurz gesagt: Ohne die damaligen "Kassandrarufe" hätten wir heute nicht den Anteil an Wind- und Solarkraft, den wir heute haben.

Zurück zum depressiven Ton: Wenn ich mehr Zeit hätte, so wären schon mehr Hinweise zu m.E. positiven Ansätzen in den Seiten von "ToC" versammelt. So hat mich ein Leser auf Franz Groll und sein "Manifest" hingewiesen (http://franzgroll.de/), das eine Reihe interessanter Ideen enthält. So bleibt mir vorerst nur der Hinweis darauf, dass man die Lektüre von truthorconsequences.de auch jederzeit unterbrechen kann, um einen unterhaltsamen Film anzuschauen, Musik anzuhören oder aus dem Fenster auf eine (hoffentlich grüne) Umwelt zu schauen. Und von mir aus kann man auch gerne auf lustige Katzenvideos bei YouTube umschalten - wieso nicht? Wenn danach wieder Musse ist, sich mit dem einen oder anderen Gedanken auf truthorconsequences.de zu beschäftigen, so hätte ich schon mehr erreicht als ich zu hoffen wagte.



Eine ganz konkrete Frage *1 war auch, ob ich denn nicht glaube, dass sich die Europäische Union (EU) - allen derzeitigen Mängeln zum Trotz - nicht doch noch zu einem fortschrittlichen sozialen und demokratischen Gemeinwesen entwickeln könne. Oder wenn schon nicht selbst wirklich demokratisch organisiert, so doch zumindest als Gegengewicht zu den übermächtigen USA wirken könne. Meine Antwort ist in beiden Fällen NEIN.





Fangen wir mit der Idee an, die EU als (macht-)politisches Gegengewicht zu den USA (oder, bei manchen Kommentatoren, zu China oder Russland) zu sehen. Das ist ein Konzept, dass wir aus unseren Geschichts-Schulbüchern noch gut kennen: Gegengewicht, Mächtebalance, Gleichgewicht der Grossmächte usf. - und ein Konzept, dass historisch ja zumindest über gewisse Perioden hinweg "funktioniert" hat - das jüngste Beispiel wäre das "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Ost und West im kalten Krieg.

Das wäre in der Tat eine Rolle, die die EU ausfüllen könnte, und in der die so hektisch erfolgte Ausdehnung in Bezug auf Fläche und Bevölkerung auch Sinn ergeben würde. Machtpolitisch also durchaus denkbar, wenn nicht eine entscheidende Komponente fehlen würde, nämlich die militärische. Man kann nicht gegen eine Grossmacht (oder Supermacht) wie die USA auftreten wollen und dabei zulassen, dass ausgerechnet die Verteidigung von eben jener ("fremden") Macht mittels der NATO komplett beherrscht wird.

Nach der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 hatte die EU (bzw. hatten die Staaten der EU) die historische Chance, genau auf jenem Felde die Unabhängikeit von den USA zu erlangen. Man hätte aus der NATO austreten und entweder eine eigene Verteidigungsagentur innerhalb der EU oder eine separate Verteidigungsorganisation, sozusagen eine ESTO *2 gründen können. Übrigens hätte man auch jede Menge Zeit für die Umsetzung gehabt, da die ehemaligen Sowjetrepubliken erkennbar für geraume Zeit vorrangig mit sich selbst beschäftigt waren.

Man hätte sogar noch weiter gehen können (aber hier gerate ich wohl ins Träumen) und die europäischen GUS-Staaten zur baldigen Teilnahme in diese "ESTO" einladen können. Wie auch immer - Voraussetzung wäre der Austritt aus der NATO gewesen.

Übrigens hätte eine solche "ESTO" auch im militärischen Sinne eine "glaubhafte Abschreckung" (gegen wen auch immer) dargestellt - schliesslich hätte man mit Grossbritannien und Frankreich zwei veritable Atommächte im Club gehabt. Sicher hätte der NATO-Austritt keiner US-Regierung "geschmeckt" - aber was hätten sie dagegen machen sollen? Krieg führen sicher nicht - aber auch ein Handelskrieg wäre möglicherweise den USA schlechter bekommen als der EU.

Damals wurden solche Gedanken wohl tatsächlich vereinzelt "ventiliert", aber hauptsächlich in Hinterzimmern. Ein Thema für Gipfel oder gar für eine EU-weite Werbekampagne ("Wir werden jetzt auch militärisch erwachsen") wurde es nicht. Sebastian Haffner, der all das nicht mehr erlebt hat, würde es wohl eine verpasste Chance gigantischen Ausmasses genannt haben.



Als Tony Blair zur Verblüffung vieler seiner Landsleute 2003 die Truppen des Vereinigten Königreiches in einer "Koalition der Willigen" an der Seite der USA (unter George W. Bush) in den Irak einmarschieren liess, wurde er von politischen Spöttern als "Bush's Pudel" bezeichnet. Heute bekommen wir durch den Chilcot-Report sozusagen amtlich bestätigt, dass er tatsächlich wie ein Pudel seinem "Herrn und Meister" Bush gefolgt ist. *3



Hat denn die EU aus der verpassten Chance von 1991 ff. etwas gelernt bzw. bemüht sie sich, diesen Fehler wieder "auszubügeln"?

Überraschenderweise nicht, sondern man ist sogar darum bemüht, ein noch treuerer Pudel der USA zu werden. Weder die Ukraine-Politik noch die Russland-Politik seit 2013/2014 sind in einem machtpolitischen Sinne von irgendeinem Nutzen für die EU. Mit der Ukraine, selbst wenn sie alle Bedingungen des Assozierungsabkommens einhalten könnte und würde, bindet sich die EU für Jahrzehnte einen ökonomischen Sanierungsfall "ans Bein", im schlimmsten Fall auch noch mit einem ungelösten militärischen Konflikt als "Dreingabe".

Mit den Russland-Sanktionen gibt es für die USA den Idealfall, dass man mit einer "transatlantisch solidarisch getroffenen Entscheidung" neben Russland die EU-(Wirtschafts-)Konkurrenten deutlich, sich selber aber fast gar nicht trifft. So dürfen europäische Firmen aller Grössen nun rätseln, wie sie ihre über Jahrzehnte mit Russland aufgebauten Handelsbeziehungen durch andere Kontakte ersetzen, während in den USA nur wenige Firmen überhaupt nennenswerten Umsatz mit Russland hatten.

Die heutige EU wäre nicht die EU, wie wir sie kennen, wenn sie diesen Unsinn nicht noch steigern könnte.

So verkündet die "Hohe Vertreterin der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik" Mogherini *4 anlässlich des NATO-Gipfels in Warschau (!), dass man die Kooperation zwischen EU und NATO noch wesentlich erweitern und vertiefen wolle. Den Terminus dafür hat man auch schon gefunden: "ever closer cooperation", und der ähnelt wohl nicht zufällig der "ever closer union", die die EU-Kommission jahrelang als Motto ausgegeben hat.

Um es in einem Bild zu formulieren: Die EU ähnelt einem 100-Meter-Läufer, der sich im Wettkampf mit einem 80-Meter-Seil an den Startblock bindet. Egal wie hart er trainiert hat - so kann er sein Ziel nicht erreichen.



Wie steht es nun um die Aussicht, aus der ja nun erwiesenermassen nur oberflächlich demokratischen Veranstaltung EU durch beharrliche Reformen doch noch eine "demokratisch voll (oder besser) legitimierte" Organisation zu formen, sie "näher an die Menschen draussen im Lande" zu bringen (um eine typische Politiker-Floskel zu gebrauchen) ?

Dazu eine Anekdote aus einer TV-Dokumentation, die vor einigen Jahren in einem ARD-Sender lief. Das TV-Team hatte eine frischgewählte junge EU-Parlamentarierin bei Ihrem Einzug ins Parlament und dann jeweils im Abstand von einigen Monaten besucht. Aus dem Portrait konnte man auf eine junge Frau schliessen, die fest gewillt war, mit Ihrer Arbeit der "europäischen Idee" und den Menschen in Europa zu dienen. Da schon damals die Lobbytätigkeit etwas in den Fokus gekommen war, fragte man die Dame, was sie denn von der Tätigkeit der Industrielobby halte. Die Antwort war sinngemäss etwa so. "Ich bin ja so froh, dass ich diese Arbeitspapiere von der Industrie bekomme, sonst würde ich die Vorlagen in meinen Ausschuss nie abarbeiten können...". An dieser Stelle war ich wirklich erschüttert: So kann natürlich eine parlamentarische Kontrolle der "EU-Regierung" (sprich Kommission) gar nicht funktionieren, wenn man sich auf die gleichen Stichwortgeber verlässt wie die EU-Kommissare (die ihre Vorlagen ja ebenfalls meist von den Lobbyverbänden bekommen).

Und noch eine weitere Anekdote, aus dem Film "Fahrenheit 9/11" von Michael Moore, passt hier. In diesem Film zieht Michael Moore mit dem "Homeland Security Act" untern Arm vor das US-Kapitol und fragt die herannahenden Senatoren und Abgeordneten, ob sie denn diese oder jene Passage (in denen es um u.a. die Beschneidung verfassungsgemässer Freiheiten geht), denn kennen würden - sie hätten die Vorlage doch mit überwältigender Mehrheit zum Gesetz gemacht.

Nachdem keiner der so Interviewten Kenntnis von irgendeinem der vorgelesenen Paragrafen zugeben will, sucht Moore einen Senator in seinem Büro auf. Es ist ein Herr dunkler Hautfarbe, der etwa doppelt so alt wie Moore ist und schon etliche Jahre im Politikbetrieb zugebracht zu haben scheint. Er geht freundlich auf Moores Fragen ein, und als ihn Moore fragt, wieso denn die Abgeordneten einem Gesetz zustimmen können, dass sie offenbar garnicht gelesen haben, antwortet er in etwa so (aus dem Gedächtnis zitiert):

"Mein Sohn, wenn wir wirklich alle Gesetze lesen würden, die wir beschliessen, so hätte das den grossen Vorteil, dass wir nicht soviele Gesetze beschliessen würden." Im weiteren Verlauf erklärt er Moore (oder eigentlich dem Zuschauer) die üblichen parlamentarischen Abläufe, die dafür sorgen, dass meist nur die Mitglieder der entsprechenden Ausschüsse die Vorlagen lesen.



Beeindruckt hat mich die Formulierung "… so hätte das den grossen Vorteil, dass wir nicht soviele Gesetze beschliessen würden." Tatsächlich - wenn man den Zivilationsgrad z.B. der bundesdeutschen Gesellschaft an Zahl und Umfang der vom Bundestag beschlossenen Gesetze messen wollte, wäre die BRD der sechziger, siebziger oder achtziger Jahre scheinbar auf dem Stand eines Urwaldvolkes gewesen. Ich wage etwas zu bezweifeln, ob dieser stetig anschwellende Sturzbach an Gesetzen und Verordnungen - aus Brüssel oder Strasbourg, aus Bonn oder Berlin - nun ausschliesslich mit den Erfordernissen des modernen Lebens zu tun hat. Ein Gutteil - so denke ich - ist einer künstlichen Verrechtlichung aller Lebensbereiche geschuldet, der (wiederum) vor allem den grossen Konzernen dient.

Zurück zum Thema "reformierbare EU". Damit sich eine etablierte Organisation wie die EU reformiert, muss es von irgendwoher Druck geben. Der könnte nun vom Wahlvolk selber ausgehen, bei der nächsten Wahl zum EU-Parlament (2019) könnte also theoretisch ein substantieller Teil (oder gar die Mehrheit ?!?) der Wählerschaft für eine Partei stimmen, die ein konsequentes EU-Demokratisierungsprogramm auf ihre Fahnen schreibt. Nur hätte das im Falle des EU-Parlaments überhaupt keine Folgen, da dieses Parlament gar keine eigenen Vorlagen einbringen darf.

Dann könnte man seine Hoffnung auf die EU-Institutionen selber richten, das wären im wesentlich EU-Kommision und Europäischer Rat. In der derzeitigen EU-Kommision jemand finden zu wollen, der so ein Programm angehen will, scheint mir etwas illusionär. Wer sollte das denn sein - die Geheimverhandler im Auftrag Ihrer Majestäten de Gucht und Malmström ? Die ideenbefreite Frau Mogherini ? (Hier muss ich mich entschuldigen, vielleicht hat sie ja auch eigene Ideen - nur habe ich sie bisher noch nicht erkennen können.) Oder ein Herr Oettinger, der mit seinen profunden Sprach- und Geografiekenntnissen ("hinter Parriss gibt’s nur noch Kühe") gelegentlich den Pausenclown gibt ? Der wendige Herr Juncker, der mit jedem gut kann und dem bei Gelegenheit alles "schnurzegal" ist ?

Wichtiger noch: Welches Interesse sollten diese Damen und Herren überhaupt haben, ihre eigene Macht zu beschneiden, die sie doch jahrelang und nicht ohne Erfolg zu mehren versucht haben ?

Und die Lobbyisten der verschiedenen Industrieverbände, welche die EU-Parlamentarier und die Kommission doch mittlerweile so gut "im Griff" haben - wieso sollten sie diese Macht aufgeben ?




Bleibt also der Europäische Rat, die Versammlung der europäischen Regierungschefs. Der ist nun tatsächlich sehr heterogen. Andererseits - das melden unsere Gazetten fast täglich - "an der Kanzlerin geht kein Weg vorbei".

Eine einzelne "systemkritische" Regierung, das kann man aus dem Fall Griechenland-Syriza lernen, wird in diesem Umfeld nicht viel ausrichten können.



Am aussichtsreichsten einen Kurswechsel in der EU-Politik herbeiführen könnte derzeit wohl nur eine neue deutsche Regierung. Rein zahlenmässig könnte man da - wie es ja auch schon gelegentlich getan wird - über eine rot-rot-grüne Koalition nachdenken. Nur wäre der zweite "rote" Partner ja die SPD, und dass die Führung der SPD total lernbefreit ist, kann man ja bei jedem neuen Tiefpunkt-Ergebnis bei den Landtagswahlen sehen.

Deshalb mein diesbezüglicher Pessimismus: Eine demokratische Neuausrichtung aus den vorhandenen Strukturen heraus erscheint mir auf absehbare Zeit unmöglich.

Damit wären wir bei den sozusagen "externen Schocks":

BREXIT - DÄXIT - NEXIT - FREXIT *5.

Nicht unbedingt erfreuliche Alternativen: Das EU-Schiff steuert unverändert auf den Mahlstrom zu, und die einzige Möglichkeit, dem Untergang zu entgehen, wäre auf dem Rücken von Haien ...

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Der Optimist in mir sagt es aber gerne noch einmal:

Europa hat es ohne EU gegeben und wird auch ohne EU einen geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Platz haben.



(Juli 2016)



*1 Wörtlich war die Frage wohl, ob ich "Europa" keine Chance gäbe - gemeint war aber die EU, und ich werde mich bemühen, diese populäre Verwechslung nicht selber zu befördern.

*2 ESTO könnte für "European States Treaty Organization" stehen.

*3 Zu den möglichen Hintergründen hat sich z.B. Robert Harris in seinem Roman "Ghost" sehr interessante Gedanken gemacht.

*4 Auch hier könnte man das alte Bonmot bestätigt sehen: "Je salbungsvoller der Titel, desto bedeutungsloser die Person".

*5 Der "Exit" von Grossbritannien - Dänemark - Niederlande - Frankreich.