"Homo Deus" von Yuval Noah Harari oder: 400 Seiten und 1 neuer Gedanke



"Prognosen sind schwierig, vor allem,

wenn sie die Zukunft betreffen." *1



Die Verpackung

Normalerweise wird über das physische Erscheinungsbild eines Buches in einer Besprechung nicht geredet. Da es in diesem Falle aber später noch wichtig werden wird, sei erst einmal die Aufmachung beschrieben:

Natürlich besitze ich nicht die hebräische Erstausgabe von 2015, sondern eine englische Ausgabe von "Harvill Secker", einem zu Random House gehörenden Londoner Verlag. Dieses Paperback kommt sehr edel daher. Nicht nur durch den ausgeprägten und mit rotem Hochglanzlack versehenen Titel-Schriftzug - das ist eine im englischsprachigen Raum recht üblich gewordene Ausschmückung solcher Bücher. Hier ist zusatzlich noch der ganze Einband in schwarzem Softlack ausgeführt. Die edle Ausstattung setzt sich im Innenteil fort - dort sind in den Fliesstext rund 50 überwiegend 4-farbige Fotos bzw. Abbildungen eingefügt (leider i.d.R. viel zu klein), und auch die Kapitelüberschriften mussten mit roter Farbe hervorgehoben werden.

Offenbar hat da der Verlag viel Vertrauen in den Autor bzw. das Buch gesetzt, und so kommt auch der Untertitel ziemlich unbescheiden daher: "A Brief History of Tomorrow" ("Eine kurze Geschichte der Zukunft") - und die Anspielung an den Megaseller "A Brief History of Time" von Physiker Stephen Hawking kommt wohl nicht von ungefähr.



Den optischen folgen auf der Klappenrückseite ebensolche verbalen Fanfaren:

- "War is obsolete" ("Krieg ist überflüssig geworden")

- "Famine is disappearing" ("Hunger verschwindet")

- "Death is just a technical problem" ("Tod ist nur ein technisches Problem")

- "What does our future hold?" ("Was wird uns die Zukunft bringen?")

Wer aus anderen Quellen erfahren hat, dass Herr Harari ausgebildeter Historiker mit Doktortitel ist, mag nun mit einiger Berechtigung davon ausgehen, ein möglicherweise epochales Werk vor sich zu haben.

Und das grosse Vertrauen des Verlags wird noch verständlicher, wenn man noch einmal die erste Zeile des Titels liest:

"From the bestselling author of Sapiens" - klarer Fall, auf Bestseller No.1 folgt meist Bestseller No.2 - da hat der Verlag sicher keinen ökonomischen Fehler gemacht.

Weg von der Aufmachung - hin zum Inhalt.



Unsterblichkeit?

Schon in seinem ersten Kapitel macht sich Harari mit Energie daran, die vollmundigen Versprechungen des Klappentextes mit Substanz zu füllen. Krieg werde kein essentielles Menschheitsproblem mehr sein, weil schon jetzt zunehmend mehr Menschen nicht durch Krieg, sondern durch andere Fährnisse des Lebens (Unfälle, Erdbeben etc.) umkommen. Ebenso sei, wie u.a. das Beispiel China zeige, die Menschheitsgeissel Hunger praktisch besiegt, und man solle sich eher um das Problem zunehmend übergewichtiger Menschen kümmern. Und auch der Tod selbst verliere seinen Schrecken, da wir die "technischen Problemchen" ("technical glitches"), die jeweils konkret zum Tode führen (Herzstillstand, Infektionen, Krebszellen...) durch High-Tech-Methoden, innovative Medikamente, Transplantationsmedizin etc. immer mehr zu beheben im Stande wären.

So kommt er u.a. zu dem Schluss: "In the twentieth century we have almost doubled life expectancy from forty to seventy, so in the twenty-first century we should at least be able to double it again to 150." (Im 20. Jahrhundert haben wir die Lebenserwartung fast verdoppelt von 40 auf 70, also sollten wir mindestens fähig sein, sie noch einmal auf 150 zu verdoppeln")

Hoppla - macht er da nicht einen zutiefst unwissenschaftlichen Schluss, indem er von der Verdopplung eines Wertes - der durchschnittlichen Lebenserwartung - auf die Verdoppelung oder Erhöhung eines ganz anderen Wertes - der maximal möglichen Lebensspanne - schliesst? Denn die ab Mitte des 19. Jahrhunderts festzustellende Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung war ja viel weniger durch eine Erhöhung des maximalen Lebensalters als durch den Wegfall vieler Todesfälle in jungem und mittlerem Lebensalter bedingt.

Anders gesagt: Auch im heutigen Sinne alte oder sehr alte Leute gab es schon im antiken Rom (rund ein Drittel der überlieferten steinernen Epitaphe verweisen auf über 70-jährige). Schon im 17. Jahrhundert konnte ein Mann wie William Pitt d.Ä. 80 Jahre alt werden, im 19 Jahrhundert wurde Benjamin Disraeli 77 und Kaiser Wilhelm der Erste gar 91 Jahre alt.



Ob es überhaupt eine biologische Grundlage dafür gibt, Menschen älter als 120-130 Jahre alt werden zu lassen, dürfte unter Biologen eine offene Frage sein. Die von Harari genannten "mindestens" 150 Jahre, noch gar im Sinne einer durchschnittlichen Lebenserwartung, erscheinen da doch etwas frivol. Zugestehen muss man, dass Harari ein paar Seiten später einen halben Rückzieher macht und (vielleicht wieder übertreibend) konstatiert: "In truth, so far modern medicine hasn't extended our natural life span by a single year." ("In Wahrheit hat die moderne Medizin bis jetzt unsere natürliche Lebensspanne um kein einziges Jahr verlängert")

Natürlich kann man sich auch andere Methoden der Lebensverlängerung ausdenken - etwa Hirntransplantationen in junge "Spenderkörper" (woher nehmen?) oder gar in transhumane bionische Einheiten in der Art des Kinofilm-"Terminators". Wäre aber, wenn man beispielsweise das 88-jahre alte Hirn Warren Buffett's in den Körper von Justin Timberlake transplantieren würde, dieses neuentstandene Wesen noch "Warren Buffett"? Ob der neue "Buffet-II" den Fokus seinerAktivitäten wie bisher auf Vermögensmehrung seiner "Berkshire-Hathaway-Group" legen würde, oder aber auf ganz andere Bereiche, beispielsweise erotische?

Interessanterweise sieht Harari Kandidaten für diese "potentielle Unsterblichlichkeit" auch ganz selbstverständlich eher in Wall Street oder Madison Avenue beheimatet - oder direkter formuliert, in der Kaste der Reichen und Superreichen. Damit hat er kein Problem - und zeigt damit umso mehr, dass er die historische Signifikanz der staunenswerten Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung im 20. Jahrhundert nicht begriffen hat. Diese war ja auch die Folge einer sozusagen "Demokratisierung hohen Alters" - es wurden also nicht mehr nur Adlige, Staatsmänner und Professoren so alt wie Disraeli oder Pitt, sondern auch ganz normale Arbeiter und Angestellte.

Und in diesem Sinne sollte sehr beunruhigen, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende (leichte) Senkung der durchschnittlichen Lebenserwartung in den USA durch ein wieder starkes Auseinderlaufen der Lebenserwartungskurven von Reichen und Nicht-Reichen gekennzeichnet ist. Die ärmeren 90-99% werden also nicht nur ärmer, sondern sterben auch zunehmend signifikant früher (siehe u.a. hier).



Schmalspur-Götter

Auch bei seiner Darlegung, warum Krieg zunehmend unwichtiger werde, nutzt Harari einen ähnlichen Kniff. Seine Behauptung, dass prozentual immer weniger Menschen Opfer von Kriegshandlungen werden, mag stimmen (wenngleich noch zu berücksichtigen wäre, dass sich die Weltbevölkerung seit Beginn des 20. Jahrhunderts ja vervielfacht hat). Und für den heutigen Normalbürger in Mitteleuropa oder den USA ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Kriegshandlungen zu werden, sicher viel geringer als die Gefahr, Opfer z.B. eines Verkehrsunfalls zu werden. Selbst für eine aktuelle Kriegszone wie die Ukraine könnte man durchaus die Empfehlung aussprechen, sich mehr auf die Verhinderung von Verkehrstoten als auf die Kriegsführung zu konzentrieren - dort stehen rund 10'000 Kriegstoten in vier Jahren rund 10'000 Verkehrstote jährlich gegenüber.

Aber solche Zahlenspiele führen ja in die Irre - zum einen, weil Kriege ja (meist) keine kontinuierlichen Prozesse sind. So waren in den 4 Jahrzehnten vor 1914 Todesfälle durch Kriegseinwirkung für die Zentraleuropäer ein seltenes Ereignis. Mit Kriegsausbruch änderte sich das aber dramatisch: In den nächsten vier Jahren wurden plötzlich Tausende, manchmal Zehntausende oder gar Hunderttausende Europäer, oft an einem einzigen Tag, zu Kriegstoten.

Auch der Dritte Weltkrieg, für den so viele Militärs in Ost und West jahrzehntelang (notgedrungen?) planten, wäre ja vielleicht eine sehr kurze Veranstaltung geworden: Vielleicht eine knappe Stunde lang wären Raketen von West nach Ost und umgekehrt geflogen, um die "gegnerischen" Hauptstädte mit thermonuklearen Bomben einzuäschern, und danach wäre vermutlich Ruhe - Totenruhe - gewesen (an der Stelle sollte man vielleicht daran erinnern, dass ein Grossteil der damals angehäuften Atomwaffen immer noch existiert - nunmehr ergänzt um ein paar Dutzend israelischer, pakistanischer, indischer und nordkoreanischer Exemplare).

Zum anderen ist ja für die Opfer (und, fast noch wichtiger, für die Angehörigen der Opfer) durchaus nicht egal, ob da beispielsweise ein Auto durch irgendeine Fahrlässigkeit zum tödlichen Geschoss auf Kollisionskurs wird, oder ob da jemand in voller Absicht Kugeln, Granaten oder Raketen auf einen abfeuert. Und entsprechend kann dem Verursacher eines Verkehrsunfalls nach einer Weile vergeben werden - bei einem Kriegsgegner ist das viel schwieriger. Erstaunlich, dass ausgerechnet dem Israeli Harari dieser Aspekt keinerlei Erwähnung wert ist.

Hararis "kurze Beschreibung der Zukunft" schreitet voran, und er muss noch erklären, warum sich der Mensch - der Homo sapiens - zum titelgebenden "Homo deus" entwickeln werde. Dazu führt er zunächst eine Reihe technischer und biotechnischer Entwicklungen auf, die die menschliche Leistungsfähigkeit verstärken oder gar vervielfachen können oder in Zukunft dazu führen werden. Das ist recht kurzweilig zu lesen, aber am Ende kommt dann eine Erklärung von überraschender Einfältigkeit: Weil wir durch unsere technischen und organisatorischen Hilfsmittel so wie die Götter der Antike durch die Luft fliegen und die Elemente beherrschen (oder beherrschen werden), wären wir doch in den Augen der antiken Griechen oder Römer wie Götter erschienen, mithin seien wir Götter oder stehen kurz davor, solche zu werden.

Das ist für meinen Geschmack die Definition von Schmalspur-Göttern. Oder genauer: Er hat scheinbar das Konzept des Göttlichen nicht begriffen. Göttlich sein heisst, die Regeln zu bestimmen, nicht jedoch, aus den vorhandenen "das Maximale herauszuholen". Letzteres aber dürfte mindestens für beträchtliche Zeit das Schicksal der Menschheit sein. Ja, richtig, "wir können fliegen" - aber durchaus nicht "frei wie ein Vogel" und aus eigener Kraft *2, sondern nur mit beträchtlichem technischen Aufwand. "Wir" können sogar schneller als der Schall fliegen, aber am Vorhandensein einer Machzahl und den daraus abzuleitenden aerodynamischen Anforderungen können wir nichts ändern. "Echte" Götter würden schlicht die Mach'schen Gesetze aufheben...



Der menschliche Aufgabenplan

Das erste Kapitel des Buches ist "The Human Agenda" betitelt, und so ist wiederholt davon zu lesen, dass "die Menschheit" sich diese oder jene "Aufgabe stellen werde". Merkwürdigerweise erläutert der Autor nie, wie es denn zu solchen "Menschheitsentscheidungen" kommt.

Meint Harari das, was unsere Hauptmedien oft "die Weltöffentlichkeit" nennen (wie in "die Weltöffentlichkeit verlangt Aufklärung über das Schicksal von Flug MH17!")?

Wer die Benutzung dieses Begriffs etwas aufmerksam verfolgt, wird feststellen, dass hier wohl eher die publizierte Öffentlichkeit in Westeuropa und Nordamerika gemeint ist. Dass die jeweilige Themensetzung oft sehr wenig mit den vermutlichen Interessen von z.B. Indern und Chinesen zu tun hat, erscheint mir offensichtlich - und damit sind schon einmal ein rundes Drittel der Weltbevölkerung in dieser Art "Weltöffentlichkeit" nicht vertreten.



Vielleicht mit mehr Authorität könnten solche Menschheitsaufgaben wohl von den Vereinten Nationen formuliert werden. Und tatsächlich hat ja die UN mit den "Millennium Development Goals" und den nachfolgenden "Sustainable Development Goals" solche Ziele durchaus formuliert, und die Berichterstattung darüber war intensiv genug, um auch z.B. dem deutschen Durchschnittsbürger mindestens den Begriff "Millenniumsziele" bekannt zu machen.

Erstaunlicherweise kommen ausweislich des recht umfangreichen Stichwortverzeichnisses aber weder "global public" noch "world public" noch "millennium goals" noch "sustainable goals" überhaupt vor - ja noch nicht einmal "UN" oder "United Nations" (allerdings einige Unterorganisationen wie z.B. die WHO). In dieser Geringschätzung der UN befindet sich Herr Harari (vielleicht ungewollt?) in bester Übereinstimmung mit "seiner", der israelischen Regierung (die Liste der von Israel missachteten UN-Resolutionen ist so lang, dass sie den Rahmen dieses Textes sprengen würde).



Gott ist tot

Einen Grossteil der nächsten Kapitel verwendet der Autor auf die Darlegung einer seiner zentralen Thesen, dass nämlich der Mensch sich vor allem dadurch vom Tier unterscheide, dass er an Gebilde glaube, die eigentlich nur in seinem Hirn (bzw. seinem Denken) existieren.

In diesem Sinne muss Harari zunächst einmal an vielen Beispielen darlegen, dass Religion oder der Glaube an Götter oder einen Gott nichts als substanzloser Humbug sei. Zwar wird er mit diesen Thesen bei vielen Westeuropäern, die sich selber als a-religiös verorten, offene Türen einrennen.

Erstaunlich aber der Eifer, den der Autor dabei an den Tag legt.



Denn wenn ich meine schulischen Philosophie-Stunden in rechter Erinnerung habe, ist spätestens seit Kant der Streit darüber sinnlos: Man kann weder die Existenz Gottes (oder von Göttern) beweisen, noch kann man die Nicht-Existenz beweisen.

Und der Grund dafür liegt genau in der Definition von Gott oder Göttlichkeit. Wie weiter oben schon beschrieben, ist es eben die Macht, sowohl die physikalischen als auch die logischen Gesetze zu bestimmen. Oder beispielhaft formuliert: Ein Gott könnte auch eine Welt erschaffen, in der die Schwerkraft umgekehrt wirkt oder eins plus eins drei ergibt - wir, die wir unter der "Käseglocke" der gegebenen Physik und Logik stecken, können darüber nichts aussagen.



Die Harari-Matrix

Das nächste Ziel von Hararis "Demaskierungs"-Anstrengungen sind Staaten und das Konzept von Staaten überhaupt. Auch dies sei alles Lug und Trug ohne reale Substanz. Sein prominentestes Beispiel, nicht ohne triumphalen Begleitton und natürlich mit 4-Farb-Bild illustriert: Das "Verschwinden" der Sowjetunion, 1991 im Beloweschkaja-Abkommen besiegelt: "Pen touches paper - and abracadabra! The Soviet Union disappears"

Formal hat Harari natürlich recht: Staaten können "durch Federstrich" aufgelöst werden und werden gelegentlich auch so aufgelöst, wie 1991 die Sowjetunion oder 1918 Österreich-Ungarn. Auch die Bundesrepublik könnte dereinst, entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt, per Federstrich vom Bundespräsidenten aufgelöst und z.B. durch eine Monarchie abgelöst werden (wer weiss, vielleicht wären die Deutschen unter einem "Wilhelm III." sogar glücklicher? Eine gewisse Einübung in dynastische Abläufe hat es ja durch "Kohl I. bis V." und Merkel "I. bis IV." schon gegeben …).

Und natürlich sind auch die Verfassungen im Grunde nichts anderes als Papierstapel, die man mit einem Fusstritt "in den Mülleimer der Geschichte" befördern kann.

Aber diese "Hirngespinste" namens Staaten mitsamt ihren Staatsverfassungen haben durchaus sehr reale Auswirkungen. Wenn z.B. der israelische Staatsbürger Harari versuchen würde, ohne Pass in Teheran oder Amman einzureisen, würde er es sehr schnell merken.





So weit reisen muss er aber gar nicht: Jene meterhohen Mauern samt Wachttürmen, bewaffneten Posten und Personenschleusen, die an vielen Stellen sein Heimatland durchziehen und israelische von palästinensischen Wohngebieten trennen, sind eindeutig durch das Wirken des Staates Israel entstanden.

Man kann diese Ausführungen des Autors natürlich auch als Ausdruck der Ansicht nehmen, dass wir alle bloss in einer gedanklichen Scheinwelt, vielleicht gar als impulsgefütterte Hirne in Nährlösung, leben. Als Gedankenfigur taucht das ja schon sehr lange auf, und man könnte z.B. auf den Roman "Der futurologische Kongress" von Stanislaw Lem verweisen, wo die schäbige reale Welt durch in diesem Fall sogar kaskadierende psycho-chemische Manipulationen maskiert wird. Oder, noch aktueller, der Film MATRIX, wo die "scheinbare Realität" durch ausgeklügelte Computertechnik erschaffen wird.

Diese Ansicht ist vermutlich ebenso unmöglich stringent zu beweisen oder zu widerlegen wie die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes.

Wer jedoch (vielleicht nur "provisorisch") der Ansicht ist, dass der Schmerz, den ein verfehlter Hammerschlag im getroffenen Finger auslöst, ebenso real ist wie Hammer und Nagel selbst, muss sich mit derlei Überlegungen m.E. nicht weiter aufhalten.



Die ungenannte Weltanschauung

Spätestens mit Kapitel 6 ("The Modern Covenant" ["Der Pakt der Moderne"]) geht es nicht mehr darum, alles mögliche als Hirngespinst zu decouvrieren. Hier wird wieder argumentiert und über Vorzüge und Nachteile verschiedener Ordnungssysteme reflektiert, als hätten sie doch reales Gewicht. Neben den Religionen bekommen dabei auch andere Weltanschauungen und insbesondere der Kommunismus "ihr Fett ab". Spätestens hier fällt etwas auf, was eigentlich das ganze Buch durchzieht: Eine sonderbare Präferenz für Bilder und Analogien aus dem ökononomischen Bereich.

So sind Bilder von Pharaonen ebenso wie von Elvis Presley für den Autor "Marken", antike Priester sind "Angestellte", der Markt und/oder Verträge regeln alles und jedes, sogar Tiere geben und erhalten Kredite *3 und so fort. Andererseits wird die seit spätestens den 1990er Jahren wirkmächtigste politisch-ökonomische Denkrichtung überhaupt nicht erwähnt: Der Neo-Liberalismus.

Da ist man dann doch etwas erstaunt, denn spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2007/2008 sollte doch jedem klar sein, dass allumfassende Ökonomisierung auch eklatante Nachteile hat, dass "der Markt" durchaus nicht alles vorteilhaft regelt, dass hier andere Prozesse regelnd eingreifen müssen.



Für Harari ist das aber ebensowenig wie die UN überhaupt ein Thema. Vermutlich deswegen, weil der 1974 geborene Autor nichts anderes als Kapitalismus (oder besser "Ökonomismus") kennt und vom Kommunismus bewusst nur das spektakuläre Scheitern der "realsozialistischen" Staaten miterlebt hat.

Folgerichtig leitet er Kapitel 6 auch mit markigen Worten ein:

"Modernity is a deal. All of us sign up to this deal on the day we are born, and it regulates our lives until the day we die." ("Die Moderne ist ein Vertrag. Jeder von uns unterzeichnet diesen Vertrag am Tage seiner Geburt, und er bestimmt unsere Leben bis zu unserem Tod.")

Ich muss zugeben, dass der folgende Sturzbach an Erklärungen und Beispielen (vom antiken Sumer bis hin zu behaviouristischen Experimenten der Neuzeit) mich irgendwann ermüdet hat.

Ein Begriff hat dann mein Interesse doch wieder geweckt, und das war "Dataism" ("Dataismus").

Hararis Definition lautet wie folgt (Seite 366):

"Dataism says that the universe consists of data flows, and the value of any phenomenon or entity is determined by its contribution to data processing." ("Dataismus hält das Universum für aus Datenströmen zusammengesetzt, und der Wert jedes Phänomens oder jeder Einheit wird dadurch bestimmt, wieviel es zur Datenverarbeitung beiträgt.")



"Dataismus" in der Diesellok ?

Eine kleine Meldung in der Zeitschrift "Eisenbahn-Kurier":

> DB-Regio - Weniger Dieselverbauch avisiert

DB-Regio hat Ende 2017 erste Dieseltriebzüge mit modernen Telematiksystemen ausgerüstet, die den Verbrauch von Dieselkraftstoff aufzeichnen. Bis Ende 2018 sollen 90% der rund 1000 Dieselkomotiven und -Triebzüge des Unternehmens entsprechend ausgestattet sein. Die Daten werden auf zentrale Server übermittelt und daraus monatliche Berichte für die Lokführer erstellt. In einem zweiten Schritt sollen die Daten mit Fahrempfehlungen gekoppelt und auf Displays angezeigt werden. So soll eine energiesparende Fahrweise ermöglicht werden.<

Auf den ersten Blick eine sinnvolle Sache, wenn die DB da Kraftstoff sparen will. Allerdings vermutlich auch eine recht aufwändige Veranstaltung, denn auf die Installierungsphase (Einbau der "on-board-units") folgt die Vernetzungsphase, darauf wiederum eine Fehler- und Ausfallerkennungsphase ("was passiert bei fehlender Netzverbindung?"), eine erste Auswertungsphase und anschliessend vermutlich eine weitere Phase der Fehleranalyse. Und das alles mit IT-Experten, die in der Regel einen wesentlich höheren Stundenlohn als Lokführer *4 erhalten.



Interessant ist aber, was für Fahrempfehlungen denn die ganze komplexe Datensammelei und -Analyse überhaupt liefern kann.

Denn der Energieverbrauch von terrestrischen Fahrzeugen ist von wohlbekannten Parametern (Roll- und Luftwiderstand, Last und Beschleunigung) abhängig. Bei einem durch Schienen spurgebundenen und im Falle der Eisenbahn in der Regel durch feste Fahrpläne limitierten System ist das einen minimalen Verbrauch ergebende Fahrprofil für eine gegebene Strecke und gegebenes Material ohne Probleme im Voraus berechenbar, ohne auch nur ein Megabyte zusätzlicher Daten erheben zu müssen.

Und eine generell gültige Fahrempfehlung kann eigentlich in einem einzigen Satz ausgesprochen werden: "Beschleunige so sanft wie möglich und vermeide hohe Geschwindigkeiten, soweit es geht."

Wenn die DB AG da also, statt hauseigene oder externe Experten (z.B. Vieregg+Rössler) mit den entsprechenden Berechnungen zu beauftragen, vermutlich millionenschwere Aufträge an IT-Firmen vergibt, sind wahrscheinlich andere Motivationen als der schlichte Energiesparwunsch am Werke *5.




Eine neue Religion

Diese DB-Geschichte könnte man als ein weiteres Beispiel für Lobbyismus oder Bestechlichkeit ansehen, wie er ja in der Vergangenheit schon einige Male sogar gerichtsnotorisch geworden ist.

Es könnte aber auch durchaus sein, dass sich die verantwortlichen Manager von der Telematik-Installation wirklich grundstürzend neue Erkenntnisse erhoffen. Denn - ein kurzer Blick auf beliebige IT-Publikationen zeigt es - ohne Mobile Computing, Cloud Services, Wireless Connectivity, Internet-of-things und eben "Big Data" scheint nichts mehr zu gehen. Das fängt beim Sport-Armband, welches den eigenen Puls anzeigen soll und die Werte dafür erst an den Apple-Server auf der anderen Seite des Globus schicken muss, an - und hört beim deutschen Autobahn-Mautsystem nicht auf.

Und gleichzeitig hat sich eine Überzeugung festgesetzt, dass erst mit der grösstmöglichen Vernetzung und der vollständigsten Datenerhebung überhaupt sinnvolle Erkenntnisse für "Geschäftssteuerungsprozesse" aller Art gewinnen liessen.



Und an der Stelle setzt eben Hararis Gedanke ein und sortiert diesen "Dataismus" auch folgerichtig als Religion ein: "The Data Religion" (Kapitel 12).

Dabei meint Harari durchaus nicht, dass Big-Data-Analysen per se Humbug wären - ganz im Gegenteil: Google, Facebook und Amazon zeigen, dass sich aus der methodischen Analyse scheinbar unzusammenhängender Daten durchaus Erkenntnisse ziehen lassen, die sehr konkret z.B. zu mehr Profit führen. Nur muss man dafür erst einmal wirklich viele Daten haben, und sie müssen am Ende auch wirkliche Korrelationen aufweisen.

Um bei unserem eisenbahnerischen Beispiel zu bleiben: Die Erhebung der Lufttemperatur wäre sinnvoll, da die Temperatur die Luftdichte und diese wiederum den Luftwiderstand bestimmt. Die Erhebung der Temperatur der Waggonkupplung dagegen wäre sinnlos, da ohne nennenswerten Einfluss auf die Widerstandswerte.




Die zweite unsichtbare Hand

Der Autor erkennt auch die Parallelen zur markt-ökonomischen Denkrichtung:

"Just as free market capitalists believe in the invisible hand of the market, so Dataists believe in the invisible hand of the data flow." ("So wie Anhänger des Freimarkt-Kapitalismus an die 'unsichtbare Hand des Marktes' glauben, so glauben Dataisten an die unsichtbare Hand des Datenflusses." - Seite 385/386).

Umso überraschender, dass Harari, der doch bei seinem Parforce-Ritt durch Vergangenheit und Gegenwart der "gesamtem Menschheit" so urteilsschnell und urteils(selbst)sicher war, am Ende seines Buches einen überraschend sanften Ton anschlägt und den Leser mit 3 "Schlüsselfragen" entlässt:

"1. Are organisms really just algorithms, and is life really just data processing?

2. What's more valuable - intelligence or consciousness?

3. What will happen to society, politics and daily life when non-conscious but highly intelligent algorithms know us better than we know ourselves?"

("1. Sind Organismen wirklich nur Algorhytmen, und ist 'Leben' nur Datenverarbeitung?

2. Was ist wertvoller - Intelligenz oder Bewusstsein?

3. Was wird mit Gesellschaft, Politik und im täglichen Leben geschehen, wenn unbewusste, aber hoch-intelligente Algorhytmen uns besser kennen als wir uns selbst?")



Das sind durchaus spannende Fragen. Aber hat Harari da nicht ebenso spannende und vielleicht drängendere Fragen vergessen? Schliesslich ist es doch nicht unwichtig, dass z.B. der vielgerühmte "Google-Algorhytmus" eben nicht "public domain" oder Gemeingut ist, sondern einem Weltkonzern mit sehr konkret bestimmbaren Nutzniessern seiner kommerziellen Verwertbarkeit gehört.

Und ebenso wichtig ist doch, dass zwar das kommerzielle Interesse der uns so intensiv "kennenlernen-wollenden" Algorhytmen sehr schnell versiegt, wenn wir uns wenig kommerziell verwertbaren Neigungen hingeben, aber - gleichsam Hand-in Hand - das Interesse von staatlichen (oder auch supra-staatlichen) Institutionen wie Geheimdiensten dort oft erst beginnt.

Ein Blick auf Herrn Hararis auf seiner Website veröffentlichten Terminkalender mag diese Diskrepanz etwas erhellen: Dort sind neben den erwartbaren Buchvorstellungen (u.a. in Jerusalem, Harvard, München, Leipzig, Berlin) und universitären Veranstaltungen (z.B. an der Stanford University, Kalifornien) zahlreiche vermutlich "gehobene" Veranstaltungen im "world business" zu verzeichnen: Etwa ein "Global AI elite forum" in Hanzhou (China), ein "JD Capital private event" in Xiamen (China), ein "Infrastructure Global Summit" in Berlin oder beim "F&C Investment Trust" in Grossbritannien. Nicht wenige davon sind "closed events", und der vermutlich exklusivste dieser Auftritte war erst im Januar dieses Jahres beim "World Economic Forum" in Davos.



Der begabte Selbstvermarkter


Offenbar ist Herr Harari sehr gut, wie man heute so sagt, "vernetzt" mit einer sich vermutlich als Elite verstehenden technokratisch-industriellen "Kaste". Einer Kaste, die mittlerweile recht offen Konzepte kontempliert, die verteufelt an Sklaverei erinnern (siehe hier).

Und an dieser Stelle können wir die am Anfang dieses Textes erwähnte edle Aufmachung des Buches mit Hararis Web-Auftritt und den inhaltlichen Schwächen des Werkes verknüpfen. So begrüsst uns Harari auf der Website mit dem gravitätischen Satz "History began when humans invented gods, and will end when humans become gods."

Wieder eine Sentenz, die flott und scheinbar schlüssig daherkommt. Aber welche Substanz hat sie? Die erste Satzhälfte mag oder mag nicht stimmen - niemand kann das überprüfen. Und wenn wir uns auf Hararis Schmalspur-Göttlichkeitkeits-Begriff einlassen, mag das Zeitalter der Gott-Menschen vielleicht wirklich angebrochen haben. Aber wieso sollten diese Wesen aufhören, die Abfolge ihrer Taten, die Ergebnisse ihrer Schöpfungswerke zu dokumentieren, also "Geschichte zu schreiben"?

Oder ist die Ablösung der denkenden Menschen durch "künstliche Intelligenz" (artificial intelligence oder AI) gemeint? Egal welche Art physischer Präsenz diese Wesen sich aussuchen sollten - werden sie nicht wenigstens ein Fehler-Logbuch haben, und werden nicht wiederum diese Wesen selbst oder von ihnen bestimmte "andere" Entitäten in diesen Fehler-Logbüchern lesen und somit wieder eine Art "Geschichte" vorfinden und aus ihr zu lernen suchen?

Möglicherweise wird die Lektüre darin uns Heutigen etwas trocken vorkommen, vielleicht steht darin nur "18:45h Druckverlust in Hydraulikkreislauf" oder "23:11h Ausfall Flux-Kompensator durch Überhitzung" - aber es bleibt "Geschichte".



Wer will, kann auch die menschliche Geschichte als "error-log" verstehen - mit dem Unterschied, dass diesen Daten keine eindeutigen "Fehler-Codes" samt Behebungs-Routinen zuzuordnen sind.

Gleichviel - Herr Harari vermarktet sich intensiv und offenbar erfolgreich, nur leider opfert er die für ein Buch über die "Geschichte der Zukunft" erwartbare Genauigkeit allzuoft der flotten Formulierung und der Bedienung von modischen Erwartungen.

Zusammengefasst ist Hararis "Homo Deus" durchaus ein interessantes Buch mit einigen wertvollen Gedanken, aber eben auch unübersehbaren Schwächen.

Mit mehr Gewinn könnte man m.E. etwa Yvonne Hofstetters "Das Ende der Demokratie" (ISBN 978-3-570-10306-7) lesen. Oder man könnte gar, sozusagen um die "Geschichte der Geschichte der Zukunftsdeutung" auszuloten, auf "Summa technologiae" (ISBN 3-518-37178-9) zurückgreifen. Darin wagte der gelernte Mediziner und Autodidakt Stanislaw Lem 1964 einen Ausblick in die Zukunft, der heute so relevante Dinge wie Überlastung durch Informations-Überangebot oder "virtual reality" (bei Lem recht treffend "Phantomatik" genannt) erstaunlich klar voraussah.


Für Günther zum 18.02.2018




www.truthorconsequences.de

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*1 Dieses Zitat wird sehr verschiedenen Personen, u.a. auch Churchill, zugeschrieben. Auch ohne dezidiert bestimmbare Quelle ein schöner Aphorismus zu prognostischer Tätigkeit...

*2 Technisch interessierte mögen sich an den "Gossamer Albatross" erinnern, mit dem schon 1979 ein rein durch Muskelkraft angetriebener Flug über den Ärmelkanal gelang. Freilich haben die athletischen Voraussetzungen, die für eine solche Strecke notwendig sind, sowie die praktischen Beschränkungen, die der Betrieb eines filigranst aufgebauten Fluggerätes von fast 30 Meter Spannweite mit sich bringen würden, den Einsatz als "Flugmaschine für jeden" seither rigoros verhindert.

*3 Hararis Beispiel sind die Vampir-Fledermäuse, die ihre Jagdbeute Tierblut oft an ihre nicht so erfolgreichen Kolonie-Mitbewohner "ausleihen" würden und später ihren "Kredit" bei umgekehrtem Jagderfolg "zurück erhalten" würden. Vermutlich würden Tierverhaltensforscher dies aber eher als eine der zahlreichen Gruppen-Strategien für die Arterhaltung denn als Kreditsystem beschreiben.

*4 Ich benutze hier den altgewohnten Begriff "Lokführer" für diejenigen Personen, die Eisenbahnzüge in Loks, Triebzug-Führerkanzeln oder "Steuerwagen" durch die Lande führen, obwohl die DB AG, technisch nicht unbegründet, den Begriff "Triebfahrzeugführer" bevorzugt.

*5 Die Kraftstoff-Sparabsicht der DB AG könnte man freilich auch noch viel einfacher realisieren: Kraftstoff-Verbrauchslogger in den Fahrzeugen installieren und (Sach/Geld- oder sonstige) Prämien an diejenigen Lokführer ausloben, die auf gegebener Strecke den niedrigsten Verbrauch erzielen . Übrigens ein Ansatz, den nun ausgerechnet z.B. die DDR-Reichsbahn in vielen Fällen und meist mit gutem Ergebnis einsetzte. Aber dies würde Vertrauen in die Fähigkeiten der Angestellten voraussetzen. Vertrauen in Menschen können die "Dataismus"-Adepten jedoch eher nicht aufbringen, umso höher ist das Vertrauen in die IT und den "Algorhytmus".