"The Wall", Wall Street und die Mauer - oder: 70 Jahre Deportees



1. In diesen Tagen (Januar 2019) erheitert die deutschen Mainstream-Medien neben dem Brexit-"Theater" als weitere Posse jenseits des Atlantiks der erbitterte Haushaltsstreit zwischen der parlamentarischen Führung der "Democrats" und dem US-Präsidenten Donald Trump um die Finanzierung des Baus der Grenzmauer zu Mexiko - einem der Wahlkampfversprechen Donald Trumps.

Kurz gefasst geht es darum, dass Donald Trump mehrere Milliarden Dollar für den Bau einer Grenzmauer zu Mexiko im Haushalt dieses Jahres einstellen will, während die "Demokraten" dafür "nicht einen Dollar" geben wollen. Unangenehm für den Präsidenten ist, dass im Repräsentantenhaus seine Partei seit den Zwischenwahlen nicht mehr die Mehrheit hat.


Im Folgenden werde ich übrigens von Reps anstelle von "Republikanern" und von Dems anstelle von "Demokraten" reden, um keine Verwechslung mit den politischen Begriffen entstehen zu lassen, für die die Parteinamen einmal (lang ist's her) standen.

Die "Dems" werden in diesem Drama also medial hauptsächlich von Nancy Pelosi als "House Majority Leader" und Jack Schumer, dem Speaker der "Minority" im Senat, vertreten, während die Gegenseite scheinbar Donald Trump allein darstellt. Und der so bedrängte Präsident hat zu einem rabiaten Mittel gegriffen, um Pelosi und Co. zu Kompromissen zu zwingen, nämlich dem sogenannten "Government shutdown".




2. Die Idee, die (Bundes-)Regierung mit einem "shutdown" herunterzufahren wie eine im Herbst nicht mehr benötigte Klimaanlage, kommt uns Europäern und speziell uns Deutschen schon recht merkwürdig vor. Solange nicht Erdbeben, Hochwasser oder andere Katastrophen es verhindern, gehen wir davon aus, dass unsere Behörden kontinuierlich arbeiten, zu den publizierten Zeiten erreichbar sind und nicht durch irgendwelche Etat-Streitereien ausgebremst oder gar deaktiviert werden.

Es ist freilich nicht erstaunlich, dass die längstens "shutdowns" in der US-Geschichte meist von den "Reps" ausgelöst wurden - meist dann, wenn sie die Parlamentsmehrheit stellten. Denn eine gewisse Verachtung für den Staat, insbesondere in seiner sozialen Funktion, ist ein verbindendes Element der meisten Reps.

Der aktuelle Streitpunkt ist also "The Wall", jenes Wahlkampfversprechen Donald Trumps, dass er jetzt wohl wirklich umsetzen will und das wohl auch seine Anhängerschaft noch einmal mobilisieren soll.


Gründe für den Mauerbau hatte Donald Trump ja schon in seinem Wahlkampf zahlreich genannt, je nach Zuhörerschaft auch "gewürzt" mit heftigen fremdenfeindlichen oder rassistischen Anschuldigungen. Eines der Hauptziele soll der Schutz der "richtigen" US-Amerikaner vor illegalen Arbeitern aus Mexiko sein, um den Konkurrenzdruck von dieser Seite zu mildern.

Die "Dems" weisen das alles zurück und bekräftigen, dass eine Mauer "nichts bringe". Und das momentan am meisten betonte Argument ist, dass eine Mauer schlicht unmoralisch sei.

Die moralische Verwerflichkeit des Mauerbaus soll wohl sein, dass dieselbe dann arme (mexikanische) Menschen davon abhalte, sich in den USA eine neue Zukunft aufzubauen.

Bevor wir uns auf eine grundsätzliche Bewertung von Mauerbauten allgemein einlassen, soll kurz auf Präsident Trumps Gegenargumente eingegangen werden.



3. Dem Argument, dass die Mauer "nichts bringe" im Kampf gegen die illegale Einfuhr von Rauschgift und Waffen, ist der Präsident wie gewohnt plakativ begegnet. Bei einem Besuch bei einem Posten der Border Patrol wurden Stapel konfiszierter Waffen und Rauschgiftpakete demonstriert, und Mr. Trump beschwor seine Absicht, die Grenzen der USA entschlossen zu verteidigen.

Das ist natürlich vor allem Show, und der Hinweis, dass der Grossteil der Einfuhr solcher "Kontrabande" auf anderen Wegen (Schiffe, Flugzeuge) stattfinde, mag berechtigt sein. Andererseits weisen Befürworter der Mauerpläne zurecht darauf hin, dass das Argument etwas schräg ist. Selbst wenn das an der Grenze konfiszierte Kokain nur ein Bruchteil der Gesamtmenge sei, wäre es doch auf jeden Fall besser, dass nicht auch noch dieses Kokain ins Land komme.


Bezüglich der a-Moralität der Mauer an sich weist der Präsident genüsslich auf das Abstimmverhalten von Pelosi, Schumer und Co. in der Vergangenheit hin. Denn Trumps Mauer ist genaugenommen nur eine Verlängerung *1 einer bestehenden Mauer: Rund 1000 km Mauer oder fester Zäune wurden schon unter seinen Amtsvorgängern an der Grenze errichtet, und diesen Absperranlagen haben die Dems regelmässig zugestimmt.

Wieso waren diese Absperranlagen moralisch nicht zu beanstanden, während Trumps Vorhaben des Ausbaus plötzlich unmoralisch sein soll? Wird es, sollte Trump tatsächlich den Rest der Südgrenze der USA absperren, dann 1000 km moralische und 2000 km unmoralische Mauer geben?

Oder sind am Ende, wie ein Leser dieser Seite meinte, "alle diese Mauerbauten … un-vernünftig und un-ethisch..."?



4. Mauern generell als unmoralisch zu bewerten, ist vermutlich schwierig - mindestens müsste man die Frage nach unterschiedlichen Kategorien stellen. Schliesslich haben Hunderttausende Eigenheimbesitzer ihr Grundstück mit Mauern und/oder Zäunen "abgesichert" (eine Lesart) oder "abgeschottet" (eine andere Lesart). Soll man empört sein, dass die meisten Chemieanlagen mit Mauern und Zäunen abgeriegelt sind, oder doch eher froh, weil so keine Kinder oder Verrückte an den Ventilen hantieren und damit eine Katastrophe auslösen können? Und auch praktisch alle Verkehrsflughäfen sind mit Mauern und Zäunen recht effektiv abgeriegelt. Verständlicherweise, denn Fussgänger oder Radfahrer auf einer Lande- oder Startbahn können offensichtlich eine grosse Gefahr darstellen *2.


Gehen wir zum besseren Verständnis einen grossen Schritt zurück, und zwar ins Hochmittelalter, die Zeit des Baus der grossen gothischen Kathedralen.



5. Die Annalen der Münsterbauhütten, aber auch die der Rathäuser und bischöflichen Ordinariate (als Auftraggeber) sind eine wertvolle Quelle bei der Beschreibung mittelalterlichen Lebens. Die Rechnungen, Kontrakte und Protokolle zeigen u.a., dass sowohl die Baumeister, aber auch die höher spezialisierten Handwerker recht intensiv zwischen den verschiedenen Dombaustellen wechselten, und dass dabei u. a. die Grenzen zwischen den deutschen Grafschaften, Fürstentümern etc. und den "französischen" oder "fränkischen" Landen (Grafschaften, Fürstentümern etc.) recht häufig überschritten wurden. Recht eigentlich gab es auch keine Grenzen im heutigen Sinne, keine ausgebauten Grenzanlagen, keine regelmässig patroullierten Grenzgebiete und keine Schlagbäume an den Landesgrenzen.

Ebensowenig gab es Personalausweise im heutigen Sinne (bestenfalls Empfehlungsschreiben von einem Arbeitgeber im Sinne heutiger Arbeitszeugnisse, oder aber Begleittbriefe, die den Träger als Kurier einer weltlichen oder kirchlichen Authorität auswiesen).

Entsprechend konnte es auch keine Ausweispflicht geben. Personalausweise, wie wir sie verstehen, gab es überhaupt erst im 19. Jahrhundert, und wirklich "flächendeckend" eingeführt wurden sie tatsächlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


Scheinbar paradiesische Zeiten also, wo man ohne Ausweise vorzeigen zu müssen und ohne an Landesgrenzen angehalten zu werden, von La Rochelle bis nach Königsberg, von Kopenhagen bis nach Rom reisen konnte.

Allerdings: Ganz ohne Mauern kam auch diese Zeit nicht aus: Jede etwas bessere Kleinstadt hatte Stadtmauern, und jede Burg hatte mindestens eine Mauerlinie. Und mindestens die Stadtmauern mussten ja von den Bürgern regelmässig, oft mehrmals täglich, passiert werden. War die Bedrohungslage angespannt (heute würde man vielleicht von "yellow" oder "red alert" sprechen), dann konnte die Kontrolle auch recht unangenehm werden, bis hin zu "peinlicher Befragung" - worunter die mittelalterlichen Zeitgenossen nicht etwa Fragen nach sonderbaren Vorlieben verstanden, sondern eine "Pein verursachende" Methode oder schlicht Folter.

Auch das Reisen über Land führte zwar meist durch (im Vergleich zu heute) dünn besiedelte, "naturbelassene" Gegenden, konnte aber oft genug abrupt beendet werden, wenn man auf "Räuber" traf - die allerdings auch adelig sein konnten (die "Raubritter"). Einige Forscher haben versucht, aus verschiedenen Quellen z.B. die Mordfälle zu quantifizieren, und kommen dabei auf nicht geringe Werte. Wie auch immer man das bewerten will, ein gar so reines Idyll wie in manchen Filmen beschrieben war das Mittelalter dann doch nicht.

Aber gehen wir noch weiter zurück...



6. Ein altes Bauwerk, das die mittelalterlichen Bürger vorwiegend als Steinbruch betrachteten, war der sogenannte Limes. Dies war nun allerdings durchaus eine Grenzbefestigung im heutigen Sinne, mit Mauern und Kastellen entlang einer rund 500km langen, wohlüberlegten Grenzlinie (grob vom heutigen Regensburg bis zum Rhein verlaufend). Es war aber eben kein Werk des Mittelalters, sondern von den Römern der Antike ausgeführt.

Um das Jahr 100 n.Chr. gab es also einen "Staat" oder besser ein Reich, welches strategische Planungen zur Grenzsicherung anstellte und mit Grossprojekten umzusetzen wusste. Interessant, dass auch damals schon zur Rechtfertigung solcher Ausgaben gegenüber dem (stimmberechtigten) Bürgertum plausible oder wenigstens populäre Begründungen eingesetzt wurden. Der Limes wurde als "zur Abwehr der Barbaren" notwendig bezeichnet. Eigentlich klingt das merkwürdig modern - wievieles wird uns heutzutage als "zur Abwehr der Terroristen" notwendig dargestellt...

In der Ausführung war der (obergermanisch-rhätische) Limes allerdings keine lückenlose Mauer, sondern vielmehr ein System aus Mauern, Wällen und Kastellen mit durchaus absichtlichen Lücken. Eine absolute Abriegelung war damit wohl kaum umsetzbar, warum heutige Historiker den Hauptzweck der Anlage (neben der militärischen Funktion im Kriegsfall) eher in einer Kanalisierung des Einwanderungsstromes und nicht in einer totalen Abschottung sehen.


Denn Einwanderung gab es, gerade die Provinzstädte an der Peripherie des römischen Reiches wimmelten von dem, was man in Anlehnung an den US-amerikanischen Ausdruck "hyphenated americans" vielleicht "hyphenated romans" nennen könnte, also Gallo-Römer und Germano-Römer und Graeco-Römer etc. (statt italo-americans und irish-americans etc.).

Und auch die Gründe, die so einen "wilden germanischen Barbaren" antrieben, sein Glück in den Römerstädten zu suchen, kommen uns merkwürdig vertraut vor: der "roman way of life" war eben unheimlich attraktiv, nur zu gerne wollte man die Fellhütte gegen ein Steinhaus austauschen, über gepflasterte Strassen wandeln statt sich über Schlammpfade zu schleppen, sich in gewärmten Schwimmbädern entspannen, kurz mehr Wohlstand geniesssen - und mit ein bisschen Anstrengung konnte man gar Zugang zum "antiken Internet", der Welt der (lateinischen) Schriften und Bücher, erlangen.

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Die antiken Römer, die grossen Pragmatiker der Weltgeschichte, haben also in Teilen ihres Reiches Mauern errichtet, um (unter anderem) Migrationsströme zu begrenzen und zu kanalisieren. Kann das aber noch ein Mittel im 21. Jahrhundert sein?



7. Eigentlich müssten wir Deutschen die unbestrittenen Experten im Grenzmauerbau und dessen Folgen sein - schliesslich durchzog DIE MAUER runde 30 Jahre lang die deutsche Landschaft und trennte "sozialistische" DDR von "kapitalistischer" BRD. Wobei das technisch auch wieder ungenau ist: Nur in Berlin und manchen, durch die Grenzziehung zerteilten Kleinstädten war diese Anlage wirklich als Mauer ausgeführt, ansonsten handelte es sich meist um Stacheldrahtzäune unterschiedlicher Höhe, Dichte und Staffelung. Allerdings waren diese (zumindest in Teilen) mit tödlichen Minen und/oder Selbstschussanlagen "verstärkt", so dass ein Grenzübertritt sehr wohl tödlich enden konnte *3.

Das Besondere an der innerdeutschen Mauer war natürlich, dass sie nicht das Eindringen Fremder, sondern das Ausreisen der eigenen Bevölkerung gen Westen verhindern sollte - wobei der DDR-offizielle Beiname "antifaschistischer Schutzwall" natürlich das Gegenteil suggerieren sollte *4. Eine solche "Einkerkerung" der eigenen Bevölkerung war natürlich ein Armutszeugnis allererster Güte für die Regierung der damaligen DDR, und dies wird den Verantwortlichen auch sehr bewusst gewesen sein. Da man ja gleichzeitig immer noch einen missionarischen Eifer für die kommunistische Sache ("wir arbeiten für die Weltrevolution") behauptete, wird es Ulbricht, Honecker und Co. durchaus schwergefallen sein, den Entschluss zum Mauerbau zu treffen.

Dass sie es trotzdem taten, deutet auf die schwere wirtschaftliche und politische Notlage hin, in der sich die Regierung befand. Denn der stetig anschwellende Strom von Bürgern, die sich nach Westen aufmachten, bedeutete einen solchen Aderlass gerade an Akademikern und Facharbeitern, dass das schlichte Funktionieren des Staates auf dem Spiel stand. Die Mauer oder die "gesicherte" Zonengrenze wurde also gebaut, um das Überleben der DDR zu sichern.


Interessant ist, dass auf diese Mauerbau-Entscheidung seitens der westdeutschen Regierung vergleichsweise "dezent" reagiert wurde, wofür Kanzler Adenauer dann auch verschiedentlich herbe Kritik bekam. Allerdings war auch die BRD-Regierung durch den anwachsenden Ost-West-Migrationsstrom in eine, zugegeben weitaus weniger dramatische, Notlage gekommen: Die vielen Neubürger brauchten neben einem Begrüssungsgeld (sicherlich die leichteste Aufgabe) natürlich auch Unterkunft, Verpflegung und zumindest halbwegs begründete Aussicht auf Beschäftigung. Zwar brummte die Wirtschaftswunder-Gesellschaft auf hohen Touren, aber so leicht war es trotzdem nicht, allen ex-DDR-Bürgern eine angemessene Beschäftigung zu sichern (es waren ja eben die Akademiker und Facharbeiter...). Und vor allem war es auch eine bürokratische Herausforderung, denn in jenen Zeiten ohne Computer, Barcode und Chipkarten bedeutete das alles auch viel manuelle Arbeit auf Karteikarten, Formularen und an Saldiermaschinen.

All dies war Adenauer und überhaupt der administrativen Leitung der BRD wohl bewusst. Ob ihnen auch bewusst war, dass DIE MAUER, indem sie die Existenz des Ost-Staates garantierte, auch das fragile Gleichgewicht der Supermächte im kalten Krieg gewährleistete? Denn wäre die DDR weiter personell ausgeblutet, wären früher oder später entweder die Sowjetunion (zur Wahrung ihres so bitter errungenen ostdeutschen Glacis) oder die Westmächte (zur "Befreiung" der ostdeutschen "Brüder und Schwestern" *5) zu einer militärischen Intervention (und damit wohl zum 3. Weltkrieg) gezwungen gewesen.

Auf diese verquere Art ist DIE MAUER, vielleicht sogar gegen die Intention ihrer Erbauer, dann vielleicht sogar zu einem Instrument des Friedens geworden.

Umso trauriger, dass die Deutschen der Gegenwart u.a. durch die mediale "Dauerschleife" im Kanal ZDF Info den Eindruck gewinnen müssen (und sollen?), dass DIE MAUER schlicht der Misanthropie der DDR-Herrscher entsprang und dass mit deren Fall endlich "Friede, Freude, Eierkuchen" einkehrten.



8. Ganz so einfach ist das mit der moralischen Beurteilung von Grenzmauern also nicht. Aber kommen wir zurück zu Mr. Trump und seiner "grossen", "fantastischen", "schönen" Mauer zu Mexiko (man könnte oft den Eindruck gewinnen, dass er absichtlich seine eigene Karikatur spielt...).

Ist die ganze Sache nur ein mit hohem Drama bemänteltes Machtspiel, wo Trump rechtzeitig seine Wählerbasis mit mehr oder minder passgenau umgesetzten Wahlversprechen sichern und umgekehrt die Opposition der "Dems" den Amtsinhaber vorzeitig stürzen will? Möglicherweise - aber es kann auch durchaus tiefer sitzende Gründe für diesen Streit geben.

Mr. Trump unterscheidet sich ja nicht nur in Frisur oder Wortwahl von seinen Amtsvorgängern, ob sie nun "Reps" oder "Dems" waren, sondern vor allem durch den ungeheuren Widerstand, den der grösste Teil der US-Medienwelt ihm entgegensetzt. War es früher, allen parteilichen Differenzen und vergangenen Verbalinjurien im Wahlkampf zum Trotz, nach der vollzogenen Wahl üblich, dem neuen Amtsinhaber ein Minimum an Respekt zu zollen, so kann heute eine bekannte "Anchorwoman" einer US-Nachrichtensendung verlangen, dass man Mr. Trump keinerlei Redezeit im TV zugestehen solle, da "aus seinem Munde nur ein kontinuierlicher Strom von Lügen" komme *6 - ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch das Land geht.

Um das in Relation zu sehen, stelle man sich einmal vor, irgendein deutscher TV-Nachrichtensprecher oder -Kommentator würde ähnliches in Bezug auf die Weihnachtsansprache der Kanzlerin oder die Neujahrsansprache des Bundepräsidenten behaupten.

Es ist schwer vorstellbar, dass eine solche Art von medialer Fundamentalopposition ohne Zustimmung der Geschäftsleitungen der entsprechenden Medienkonzerne möglich wäre. Oder anders formuliert: Ein erheblicher Teil von "corporate America" ist gegen diesen Präsidenten und möchte ihn, je schneller desto lieber, loswerden. Aber wieso eigentlich, schliesslich ist der Multimilliardär Trump doch "einer der ihren"?

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Eines der festen Rituale moderner Demokratien ist die Ableistung des Amtseides durch den neuen Regierungschef. In den USA findet dies meist, aus Achtung vor dem Parlament, auf den Stufen des Capitols statt, während dies in der BRD im Parlament selber stattfindet, da Kanzler oder Kanzlerin von diesem (und aus deren Mitte) gewählt werden. Auch die entsprechenden Formeln sind uns, der vielen Wiederholungen wegen, schon recht bekannt: "...to defend the constitution of the United States of America..." oder "… seinen [des Volkes] Wohlstand mehren und Schaden von ihm wenden...".

Ist es möglich, das in den USA vor diesem offiziellen Eid unter freiem Himmel ein anderer, geheimer Eid vom neuen Amtsinhaber geleistet werden muss, diesmal vielleicht in einem gemütlichen holzgetäfelten Saal vor einem verlesenen Publikum aus Vertretern von "Wall Street" und "military-industrial complex"? Und dieser Eid würde verlangen, dass der Präsident jenen Machtgruppen treu zu dienen, deren Wohlstand und Macht zu mehren und Schaden von ihnen abzuhalten habe?

Ob nun formell oder informell - offenbar scheint Mr. Trump eine solchen Eid nicht abgeleistet zu haben, und damit haben CNN, CBS, MSNBC, TIME etc. einen "Freibrief" für mediale Breitseiten gegen den "Usurpator".



9. "Follow the money" ist unsere Devise. Runde 4,5 Milliarden US-$ wollte der Präsident für seine Mauer sichern, und die "Dems" wollen sie nicht zugestehen (obwohl sie an der Erhöhung des Verteidungsetats um 60 [!] Milliarden nichts auszusetzen hatten...). Dieses Geld wäre ohne Zweifel auch ein kleines Konjunkturprogramm gewesen, und zwar eines, dass zu grossen Teilen bei kleinen und mittleren Bauunternehmen in Grenznähe gelandet wäre.

Einer der "Kompromissvorschläge" der Demokraten war übrigens, etwa dieselbe Summe in andere Massnahmen zur Grenzsicherung ("aber keine Mauer!") zu investieren. Dies hätte wohl mehr Geld für die Border Patrol (Personal, Fahrzeuge, Waffen), aber auch für verschiedene Arten von elektronischer Sicherung (Videoüberwachung, Wärme- und Bewegungssensoren etc.) bedeutet. Damit wäre also ein grösserer Teil in die Kassen der ganz grossen Konzerne (General Motors, Ford, Raytheon, Colt...) geflossen - damit hätten wir ein Motiv für "big business", sich auf die Seite der "Dems" zu stellen.

Ein anderes Motiv könnte in einem ganz anderen Bereich der Wirtschaft liegen: Wir Europäer vergessen nämlich gerne, dass die USA auch eine grosse Landwirtschaftsnation sind. Und z.B. in Kalifornien, wo die Obsternte immer noch recht viel "manpower" benötigt, stellen die illegalen Immigranten einen Grossteil der Saisonarbeiter. Und damit die Löhne so niedrig bleiben können und damit die Leute nach Saisonende so problemlos entlassen werden können, ist es essentiell, dass sie als "Illegale" de facto schutzlos sind und bleiben. Mithin ist, von der Warte dieser Grossbauern oder Agrokonzerne her, eine gewisse Durchlässigkeit der Grenze durchaus erwünscht, und eine Mauer würde die Profite verringern.


Die beiden genannten wirtschaftlichen Motive sind zugegeben spekulativ, aber m.E. bedenkenswert. Wichtiger bei der Beurteilung der "Dems"-Aussage, die Mauer sein "unmoralisch", ist aber ein anderer Aspekt: Denn den ganzen Aufwand für alte und neue Mauern, für eine hochgerüstete Border Patrol usf. könnte man sich ja sparen; ebenso könnte das ganze menschliche Leid der Migranten, die sich auf den Weg in die USA machen, vermieden werden - und zwar mit einer einzigen Entscheidung: Man müsste schlicht allen Einwanderern aus Mexiko ein Aufenthaltsrecht und - vielleicht nach einem oder zwei Jahren Probezeit - das Recht auf volle Einbürgerung zuerkennen.

Aber diese eigentlich doch folgerichtige Gesetzesänderung wird von den "Dems" nicht vorgeschlagen. Wieso nicht? Fürchtet man etwa, dass die dann denkbare Einwanderung von sehr vielen Mexikanern (Mexiko hat z.Zt. rund 120 Millionen Einwohner) in das 300-Millionen-Land USA dann doch etwas zuviel an "kultureller Bereicherung" darstellen könnte?

Oder geht es genau darum, die illegale Einwanderung so zu steuern, dass den Arbeitgebern im "Niedriglohnsegment" genau jene Menge von Migranten zugeteilt wird, die diese benötigen. Die sie benötigen, um zum einen die "eherne Lohnregel" ("so wenig Lohn wie möglich") anwenden zu können und zum anderen durch den Abschreckungseffekt die restlichen Arbeitnehmer "handzahm" zu halten?

Denn dies sollte klar sein: Solange die Grenze zu Mexiko nur teilweise abgesperrt wird, werden Migranten die offenen Bereiche zur (illegalen) Einwanderung nutzen. Von 100 so in die USA gelangten "illegals" wird ein Teil schon an der Grenze von der Border Patrol aufgegriffen und deportiert, ein weiterer auf dem Weg zu den Arbeitsregionen. Der "glücklich" etwa auf den Obstplantagen Kaliforniens angekommene Rest (60-40-30% ?) lebt in ständiger Furcht, doch noch von den Behörden aufgespürt und deportiert zu werden. Manche Mexikaner haben auf diese Art die Grenze schon mehrfach in beiden Richtungen überschritten, quasi im Kreisverkehr - ob sie noch Hoffnung haben, irgendwann-irgendwie "normale" US-Staatsbürger zu werden?



10. Im Jahre 1948 schlug der damals schon legendäre Folksänger Woody Guthrie seine New Yorker Zeitung auf und stolperte über eine Meldung, die von einem Flugzeugabsturz in Kalifornien berichtete. Was seinen zunehmenden Zorn erregte, war, dass in der Meldung die Namen der Besatzungsmitglieder einzeln aufgeführt waren, die restlichen 28 Passagiere jedoch summarisch als "deportees" bezeichnet wurden. Diese vorwiegend mexikanischen Saisonarbeiter waren im Rahmen des US-mexikanischen "Bracero"-Programms von den US-Behörden tatsächlich als "Deportierte" in das Flugzeug gesetzt worden, um zurück nach Mexiko gebracht zu werden.

Woody Guthrie verarbeitete das Ganze zu einem zunächst als Sprechgesang aufgeführten Protestlied, dass unter den Namen "Deportee" oder "Plane wreck at Los Gatos" schliesslich weltbekannt wurde. So verschiedene Künstler wie Pete Seeger, Joan Baez oder auch Dolly Parton (neben vielen anderen) nahmen das Lied in ihr Repertoire auf. Es ist sicher zu Recht zu einem Protestsong-Klassiker geworden. Guthrie's "Trick", den deportierten Saisonarbeitern (erfundene) Namen zu geben (Juan, Rosalito, Jesus, Maria,...), lässt sie zu Menschen "wie du und ich" werden, mit deren Schicksal man mitfühlen kann. Und mit "Jesus und Maria" wählte er sicher mit Absicht zwei Namen, die jedem christlich erzogenen US-Bürger geläufig sein mussten und das Leid der mexikanischen Migranten mit der Leidensgeschichte des Neuen Testaments verknüpften *7.

50 Jahre nach Guthrie's Tod, 70 Jahre nach seiner Entstehung, wird das Lied immer noch gespielt *8 und wirkt immer noch aktuell. Das bedeutet aber bestürzenderweise auch, dass die im Lied beklagten Umstände tatsächlich fast genauso wirksam sind wie vor 7 Jahrzehnten: Die gefährliche Passage von Mexiko nach Norden, die alltäglichen Anfeindungen im fremden Land, die beständige Furcht vor Entdeckung, Einkerkerung und Deportierung.



11. Seit Jahrzehnten strömen also Mexikaner in das Land der "Yankees", zu einem kleinen Teil legal über die verschiedenen offiziellen Verfahren, und davon wird ein noch kleinerer Teil nach einiger Zeit sogar offiziell zu US-Bürgern. Der "problematische" Teil sind natürlich diejenigen, die ohne gültige Papiere - also illegal - einreisen oder eben buchstäblich einwandern.

Da ist natürlich zuerst zu fragen, warum so viele Menschen ihre Heimat verlassen und in ein fremdes Land drängen. An permanent schlechterem Wetter oder eintöniger Landschaft kann es wohl eher nicht liegen - im Gegenteil, gerade die "Yankees" nutzen ihre Urlaubszeit sehr gerne zu einem Aufenthalt im südlichen Nachbarland, etwa in Acapulco, Cancun oder Mexiko-Stadt. Aber auch jenseits touristischer Werte hätte Mexiko mit seinen Bodenschätzen (u.a. Erdoel) und seiner handelstechnisch günstigen Lage an zwei Ozeanen gute Voraussetzungen haben sollen, seinen Bürgern ein "anständiges" Leben zu ermöglichen.

Der wesentliche Grund liegt natürlich im, trotz der eigentlich günstigen Voraussetzungen, extrem ungleichen Volkseinkommen. Das BIP pro Einwohner wird für Mexiko auf rund 9000 US-$ beziffert, für die USA auf fast 60'000 US-$ *9. Diese Relationen unterliegen zwar einem stetigen leichten Wandel, sind aber in der Tendenz eben seit Jahrzehnten unverändert. Und so kommt es zum "Migrationsdruck" an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze, weil sich viele Mexikaner - berechtigt oder nicht - ein "besseres" Leben im Nachbarland erhoffen *10.



12. Was also tun mit den modernen "Juans und Rosalitos", wie ihnen wirklich helfen? Das Singen von "Deportee" hat, obwohl es doch seit Jahrzehnten auf Versammlungen und Konzerten aller Art stattfindet, offensichtlich nichts Grundsätzliches bewirkt. Eine mögliche politische Forderung wäre die nach Gewährung von bedingungslosem Aufenthaltsrecht und geregeltem Einbürgerungsverfahren, wie schon in Absatz 9 skizziert. Allerdings ist zu bedenken, dass alle US-Regierungen dies seit über 100 Jahren ablehnen - egal ob der Präsident Truman oder Eisenhower, Kennedy oder Nixon, Carter oder Reagan, Bush oder Obama hiess. Unwahrscheinlich auch, dass die (von Nixon als "silent majority") bezeichnete Mehrheit der US-"Bestands"-Bürger eine solche auch staatspolitisch radikale Wende mittragen würde.

Also Wasserdepots in der Wüste einrichten oder Leitern an den bereits errichteten Grenzmauern bereitstellen? Das mag in einem karitativen Sinne gut gemeint sein, mag auch die Chancen, um überhaupt in die USA zu gelangen, erhöhen, ändert aber an der Situation der "Illegalen" wenig - sie bleiben, wenn sie aufgegriffen werden, fast rechtlose Objekte der verschiedenen US-Behörden. Bleiben sie unentdeckt, müssen sie unterbezahlte und teilweise erniedrigende Arbeiten verrichten, um eben unentdeckt zu bleiben.

Der Schlüssel ist natürlich auch hier die Verteilungsfrage, die man stellen muss, wenn politisch und wirtschaftlich eine Besserung erreicht werden soll. Und zwar gleich dreifach: Einmal innerhalb Mexikos, dass eben auch obszön reiche Menschen kennt (z.B. Carlos Slim, der sich mit den Gates' und Bezos' und Buffets' in der Top Ten der Allerreichsten der Welt tummelt), dann innerhalb der USA und schliesslich im Verhältnis Mexiko-USA. Denn auch wenn nicht alles in den verschiedenen Handelsabkommen (von den "Bracero"-Abkommen im 2. Weltkrieg bis zu NAFTA) die USA bevorteilt, so bleibt die grosse Richtung asymmetrisch: Das Geld fliesst zu den grössten Konzernen, und die sitzen eben meist in den USA.

Wenn also in einer deutschen Talkshow ein einfacher Pfleger die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes stellt (und dafür ungläubiges Staunen seitens des Moderators erntet - siehe hier: https://www.derwesten.de/ ), dann liegt er damit wesentlich näher an der Lösung der eigentlichen Probleme als die Phalanx der "Migrationsfreundlichen", die sich in schrillen Tönen an "Trumps Mauer" abreagieren.



13. Ebenfalls im Jahre 1948 wurde ein sehr wichtiges Dokument von der Vollversammlung der gerade neu gegründeten Vereinten Nationen unterzeichnet, nämlich die Allgemeine oder Universelle Erklärung der Menschenrechte.

Die Paragraphen 13 und 14 befassen sich mit der Freizügigkeit der Menschen sowohl innerhalb als auch zwischen den Staaten sowie mit dem Asylrecht, und sie bilden nach wie vor die wesentliche Grundlage für nationale Gesetze und die internationale Beurteilung dieser Themen.

Interessanterweise konstituiert Artikel 13 zwar das Recht jedes Menschen, "jedes Land, einschliesslich sein[es] eigene[n], zu verlassen", aber es fehlt die sozusagen aus Symmetriegründen erwartbare Verpflichtung der Staaten, diese Menschen dann auch aufzunehmen. Entsprechend sichert Artikel 14 zwar das Recht jedes Menschen, "in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen", lässt aber jeden Verweis auf wirtschaftliche Notlagen als Asylgrund vermissen. Beide "Auslassungen" müssen vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsströme etwas verblüffen. Waren die "Mütter und Väter" der Erklärung der Menschenrechte zu einfältig, nicht auch diese Umstände zu berücksichtigen?

Nun, Stéphane Hessel - um einen aus dem Autorenteam zu nennen - war es sicher nicht *11. An Mangel an Erfahrung menschlichen Leids wird er, der Buchenwald-Überlebende, ebenfalls nicht gelitten haben. Er wie die meisten (alle?) seiner Mitautoren sind mittlerweile tot, insofern kann ich über die Motive für die beiden Auslassungen nur spekulieren.

Fangen wir mit dem möglichen Flucht- und Asylgrund "wirtschaftliche Notlage" an. Dass eine wirtschaftliche Notlage existenz- ja lebensbedrohend sein kann, dürfte den meisten klar sein - aber wann fängt eine solche Notlage an? Wenn das Einkommen plötzlich 20 % unter dem Vor-Krisen-Niveau liegt (danach wären die meisten Griechen asylberechtigt...), oder wenn es 20% unter dem Median-Einkommen liegt, oder 20% unter dem Mindestlohn-Niveau, oder aber erst, wenn es 20% unter dem (staatlich festgesetzten) Existenzminimum liegt?

Es ist verständlich, dass die Autoren den Text der Erklärung nicht mit einem erwartbar ewigen Konfliktpunkt belasten wollten. Und auch die Eindeutigkeit des "vor Verfolgungen Schutz suchen" hätte unter der Ergänzung um einen nur ungefähr definierbaren wirtschaftlichen Not-Zustand gelitten.

Auch bei der in Artikel 13 "fehlenden" staatlichen Verpflichtung, Emigranten aufzunehmen, mag man einen gewisse Rücksichtnahme auf die realen Möglichkeiten innerhalb der neu formierten Staatengemeinschaft erkennen wollen. Wichtiger war für die Autoren aber m.E., dass - nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges - oft genug gerade jene Staaten durch Flucht- oder Migrationsströme am meisten belastet werden, die am wenigsten für die konkrete Krise haftbar gemacht werden können (und aktuell kann man diese Einschätzung ja an den in Italien anlandenden afrikanischen Migranten oder den im Libanon gestrandeten syrischen Bürgerkriegs-Flüchtlingen bestätigt sehen). Ein festgeschriebenes Asyl-Aufnahmegebot hätte im Extremfall geradezu eine Einladung zu Vertreibungen darstellen können, weil dann z.B. der Agressor in einer Bürgerkriegssituation die unerwünschten Populationen einfach den Nachbarstaaten hätte überantworten können - mit einem frechen "ihr müsst sie ja aufnehmen" als Losung.

Für beide scheinbaren Auslassungen gilt weiter, dass das Jahr 1948 - drei Jahre nach dem blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte - doch von einem generellen Optimismus getragen war - sowohl was die politische als auch die wirtschaftliche Entwicklung anging. Allen grossen Konferenzen der Nachkriegszeit gemein war das Motto "nie wieder" - also hoffte man auch, nie wieder grosse Flüchtligsströme bewältigen zu müssen *12. Gewiss war klar, dass es hier und dort gelegentliche Auseinandersetzungen geben würde, aber die Zahl der dadurch Vertriebenen würde hoffentlich so klein sein, dass man sie dem "goodwill" der Nationen überlassen konnte.


Und auch wirtschaftlich sah man sich auf gutem Weg, nachdem die Notwendigkeit, ungeheure Militärapparate unterhalten zu müssen, weggefallen war. Und wenn die ehemaligen Kolonien nach und nach ihre Unabhängigkeit erhielten, dann sollten sie doch mit etwas Geschick beste Voraussetzungen haben, ein ähnliches Wohlstandsniveau wie die klassischen Industrienationen zu erreichen. Auch dieser Optimismus hat sich für weite Teile der Welt als Illusion erwiesen.



14. Wenn es also um die Migration geht (die ja in vielen Fällen auch als Vertreibung beschrieben werden kann), dann kann es m.E. nur darum gehen, in den Herkunftsländern die Situation so zu verbessern, dass es keinen (hinreichenden bzw. zwingenden) Grund mehr gibt, sein Land zu verlassen. Das bedeutet vor allem andere Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch - je nach Land - andere Rechtsnormen und reformierte staatliche Strukturen. Einen Grossteil davon wird man, will man nicht wieder in spätkoloniale Attitude verfallen, den Ländern selbst überlassen müssen, auch wenn einem das Ergebnis von einer europäischen Warte aus nicht immer gefallen mag.

Was man von den "Nordländern" im Allgemeinen und von USA, EU und der BRD im speziellen aber fordern kann und muss, ist die konsequente Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Verzicht auf alle wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen, auch wenn sie sich in scheinbar harmlosen "Freihandelsabkommen" *13 verkleiden.

Als Slogan verdichtet also "Nieder mit den EPAs!" statt "Nieder mit der Trump-Mauer!"



15. Damit sind wir wieder bei der medial so beachteten "Trump-Mauer" gelandet. Und wir beginnen zu ahnen, dass das ganze Getöse um Mauerbau, "government shutdown" und Moralität ganz hauptsächlich die wirklichen politisch-wirtschaftlichen Streitpunkte verdeckt und verdecken soll.

Natürlich sind die 1000 oder 2000 km weiterer Mauer, die Mr. Trump plant, nicht moralischer oder unmoralischer als die bereits unter seinen Vorgängern errichteten 1000 km.

Der unmittelbare Effekt einer im Bau befindlichen "Trump"-Mauer wird sehr ähnlich der des römischen Limes sein, es wird also zu einer weiteren Kanalisierung der bestehenden Migrantenströme kommen. Und auch eine lückenlos "gesicherte" Südgrenze wird die illegale Immigration nicht vollständig unterbinden können, "Fluchthelfer" oder "Schleuser" werden zunehmend andere Wege anbieten.

Andererseits wird die Mauer auch nicht "komplett sinnlos" sein, mindestens werden dann diejenigen abgeschreckt, die ihre Flucht unter allzu naiven Annahmen antreten ("… in 3 Tagesmärschen müsste ich doch in Lordsburg sein..."). Und wenn dann in der Wüste einige Menschen weniger verdursten oder an Schlangenbissen sterben, könnte "the wall" paradoxerweise sogar Leben retten.

Insbesondere wir EU-Europäer, die wir in letzter Zeit gerne von einem hohen moralischen Ross aus die Dinge in den USA bewerten, sollten an dieser Stelle sehr leise treten: Denn die Grenzzäune und Sicherungsanlagen, die wir an der Balkanroute oder in der spanischen Exklave Ceuta errichtet haben, dienen genau demselben Zwecken wie die Trump'sche Mauer. Glücklicher- (oder tragischer-)weise hat uns die Natur mit dem Mittelmeer einen weitaus effektiveren "Südwall" beschert, als es eine Mauer je sein könnte, und mit "FRONTEX" und lybischer Küstenwache tun "wir" im Effekt nichts anderes als die US Border Patrol.

Nun sind weder die EU-Grenzssicherungsanlagen noch die Grenz-Mauer der USA irgendwie "grossartig", sondern eher - wie schon DIE MAUER der DDR - Ausdruck einer staatlichen Hilflosigkeit.

Wer sich aber weder zu einer schrankenlosen Aufnahme aller Migranten entschliessen will oder kann, aber andererseits keine Anstrengung (monetär, rechtlich, organisatorisch) zur Abminderung des extremen Wohlstandsgefälles zwischen Süd und Nord unternehmen will, wird sich wohl oder übel mit Mauern und Zäunen abfinden müssen.


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Porfirio Diaz, General und mehrmaliger Präsident Mexikos, hat schon vor über 100 Jahren das ganze Dilemma seines Heimatlandes in einen griffigen Satz gepackt:


"Armes Mexiko - so fern von Gott und so nah an den USA."



(Januar-März 2019)




*1 Runde 1000 km sind ja schon unter Trumps Vorgängern errichtet worden, auch unter der Präsidentschaft des nachträglich zur Lichtgestalt stilisierten Obama.

*2 Gleichzeitig sind durch diese Absicherung die Flughäfen als die heutigen Hauptportale für grenzüberschreitende Reisen zu einer dichter und schärfer kontrollierten "Grenze" geworden, als es die altmodischen Grenzstationen mit ihren Schranken je waren. Insofern erstaunlich, mit welcher Inbrunst sich die EU des "grenzenlosen" Schengen-Raumes preist, aber gleichzeitig die effektiven Kontrollen an den Flughäfen laufend verschärft hat.

*3 An der ehemaligen innerdeutschen Grenze kamen in rund 40 Jahren je nach Zählweise zwischen 300 und 800 Personen ums Leben, an der US-Mexiko-Grenze in den letzten 25 Jahren jedoch über 5000 Menschen, gerade auch an den noch "offenen" Grenzbereichen.

*4 "Antifa"-Schutzwall war schon insofern falsch, als die BRD nicht "faschistisch" war - auch wenn in Regierung und Wirtschaft der frühen BRD (aber auch der frühen DDR!) natürlich mangels anderem Personal zahlreiche ehemalige Nazis aktiv waren. Andererseits - insofern "die Mauer" auch den Grenzübertritt von BND-Agenten erschwerte - war die Mauer in gewisser Weise doch (auch) ein "Schutzwall".

*5 Ein weiterer Fall, wo man leicht Gefangener der eigenen Propaganda hätte werden können.

*6 Der "Blitz-Twitterer" Trump verwendet wohl reichlich ungenaue oder falsche Zahlen in seinen Äusserungen, und es werden auch sicher einige klare Lügen darunter sein. Aber ein "continuous stream of lies" - so einen Vorwurf würde ich nicht einmal (beispielsweise) an Jean-Claude Juncker oder Ursula von der Leyen oder Alexander Gauland richten, auch wenn sich diese Politiker diesbezüglich sehr bemühen...

*7 Interessant ist, dass Guthrie, insofern er sein Lied als "Medienkritik" verstand ("aus rassistischen Gründen werden die toten Mexikaner zu >deportees< pauschalisiert"), eigentlich faktisch etwas "daneben" lag. Denn während die Ostküsten-Zeitungen tatsächlich meist nur von "deportees" berichteten, hatten lokale Zeitungen durchaus auch die Namen der Mexikaner (soweit bekannt) publiziert.

*8 Gesungen u.a. von Joan Baez auf ihrem Konzert in Strasbourg am 15.02.2019.

*9 Diese und weitere statistische Daten sind den entsprechenden Wikipedia-Artikeln entnommen. Dieser Quelle muss man heutzutage recht kritisch gegenüberstehen; da es in diesem Text nur auf die Grössenordnungen ankommt, ist das jedoch verschmerzbar.

*10 Interessanterweise nennt Wikipedia für das Jahr 2017 für Mexiko sogar eine geringere Arbeitslosenrate als für die USA, nämlich 3,9% statt 4,1%. Allerdings umfassen solche Statistiken nur die offiziell gemeldeten Stellen und Arbeitslosen. Beim "inoffiziellen" oder illegalen Arbeitsmarkt können ganz andere Verhältnisse vorliegen.

*11 Im hohen Alter von 93 Jahren verfasste Hessel die lesenswerte Streitschrift "Empört euch!" - auf deutsch erschienen bei Ullstein (ISBN 978-3-550-08883-4).

*12 Dass 70 Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte nach den Zahlen des UNHCR rund doppelt soviele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung und Hunger sind als während des Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, ist ein erschütterndes Armutszeugnis für die Politik im 21. Jahrhundert.

*13 Die Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen und südamerikanischen Ländern werden meist als "European Partnership Agreements" (kurz EPA) bezeichnet.



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