"Bernd wird Flugkapitän" - ein "Jungenroman"





In der Buchhandlung



Eine Stadt in Westdeutschland Ende der 1950er Jahre: Eine Frau mittleren Alters betritt eine Buchhandlung auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihren Neffen Bernd.

Wird es ihr empfohlen, oder springt es ihr selbst ins Auge - des Namens der Titelfigur wegen? Jedenfalls kauft sie das Buch, und wird damit ihrem Neffen eine Freude bereiten.

So könnte es gewesen sein - jedenfalls kommt das 1956 erschienene Werk eines gewissen Herrn Neugebauer in den von drei "Jungens" bevölkerten Haushalt in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt.

Und wie es damals üblich war (und vielleicht heute noch in manchen Familien üblich ist): Das Buch wird mit gewissem Zeitabstand vom ältesten Kind auf das nachfolgende und schliesslich an das jüngste weitergereicht.

Auf diese Art bin ich, vermutlich Ende der 1960er oder Anfang der 1970er, an dieses Buch gekommen. Von den vielen damals gelesenen Büchern ist mir dieses deutlich in Erinnerung geblieben, und im Folgenden will ich versuchen zu ergründen, was diesen bleibenden Eindruck verursacht hat.



Im Cockpit

Lag es an dem, was man damals "Umschlaggestaltung" nannte und heute "Cover-Design" nennt? Es soll ja das Cockpit eines (in den 1950er Jahren) modernen Airliners, der Douglas DC-7, darstellen. Und ich muss zugeben, dass mich der Anblick eines Flugzeug-Cockpits, besonders von mehrmotorigen Maschinen, immer noch fasziniert - nicht nur in Flugzeugmuseen *1.

Aber es war wohl doch eher die Geschichte, die ich damals wahnsinnig spannend fand.

Es geht also - natürlich - um Bernd, der am Anfang der Geschichte "zwischen 14 und 16 Jahre" alt ist. Bernd ist sportlich (u.a. ein guter Schwimmer), fleissig und - im Gegensatz zu manchen seiner Klassenkameraden - normalerweise sehr höflich. Und er ist, das darf man wohl sagen, besessen von Flugzeugen. Auch ein festes Berufsziel hat er eigentlich schon - er möchte Flugkapitän werden. Aber er weiss auch, dass er sich angesichts des bescheidenen Einkommens seiner Eltern vermutlich nie die dazu notwendige kostspielige Ausbildung wird leisten können.

Das könnte der Startpunkt der Geschichte eines früh Depressiven werden ("...und das Geld reichte hinten und vorne nicht..."), aber die Götter (bzw. der Autor) lassen Hilfe in Form einer von der Schule angeregten Brieffreundschaft *2 auftauchen. Denn Bernds Brieffreund wird der Brite Harris Brooke, der Sohn eines vermögenden Konzernrepräsentanten mit Privatflugzeug.





Damit ist der weitere Verlauf vorgezeichnet: Nach Briefwechsel und den ersten gegenseitigen Besuchen *3 zeigt sich Harris' Vater so grosszügig, dass er dem deutschen Freund seines Sohnes sogar eine Privatpilotenausbildung ermöglicht. Mit 17 Jahren *4 darf unser Held also zum ersten Male selber fliegen - allerdings nur eine kleine einmotorige "Auster Aiglet" mit zwei Sitzplätzen.

Mit den nächsten Sommerferien kommt das grosse Abenteuer: Harris' Vater hat geschäftlich in Tanger zu tun und lädt seine beiden Kinder und den deutschen Freund Bernd ein, ihn dabei zu begleiten. Gleichzeitig möchte er seine neueste Erwerbung dabei "einweihen": Er hat die kleine "Aiglet" gegen eine vierplätzige "Cessna 180" *5 eingetauscht. So fliegen die vier, mit Harris' Vater am Steuerknüppel, von Hannover bis nach Nordafrika - und die Beschreibung dieses Flugs, der auch heute noch als durchaus anspruchsvoll gelten mag, ist dann auch einer der Höhepunkte im Buch.

Doch statt der "unbeschwerten Tage in einem Strandbungalow", die Mr. Brooke für seine Schützlinge vorgesehen hat, braut sich am anderen Ende Afrikas etwas zusammen, was - wie man es von einem rechten Jungenroman ja auch erwarten kann - das Leben unseres Helden "für immer verändern" wird.



Hijacking mit Bambusstangen

Nun - 1956 war das Wort "Hijacking" vielleicht noch nicht erfunden, oder zumindest ebensowenig wie "Flugzeugentführung" Teil des alltäglichen Vokabulars. Genau dies ist jedoch die Absicht einer Gruppe von Männern, die in Johannesburg eine Linienmaschine mit dem Ziel Amsterdam besteigen. Ihr Plan ist, die Maschine nach mehrstündigem Flug auf einen von Komplizen vorbereiteten, improvisierten Landeplatz am Rande der Sahara zur Landung zu zwingen. Dort sollen die Piloten in ein Auto verfrachtet werden, welches sie in eine abgelegene Oase bringen soll, während das so immobilisierte Flugzeug damit ganz in der Gewalt der Entführer bleibt.

Ziel des Ganzen sind nämlich nicht irgendwelche politischen Forderungen (wie es dann in den 1970er Jahren "Mode" werden sollte), sondern ganz banal die Ladung Rohdiamanten, die ein Vertreter der Kimberley-Diamanten-Mine nach Amsterdam begleiten soll.

Das Team der Ganoven besteht aus dem "Boss", der als fast aristokratisch wirkender Mann mit "rosigem Gesicht" beschrieben wird, und ein farblos bleibender gewisser "Matson". Der Dritte namens Bujew wird umso genauer beschrieben: "Ein athletisch gebauter, fast vierschrötiger Mensch …" (was für ein tolles, leider fast ausgestorbenes Wort: "vierschrötig").






Bewaffnet sind die Gangster mit Pistolen (von Metalldetektoren an den Flughäfen ist in jenen seligen [?] 1950er Jahren noch keine Spur) - und mit "mit Blei ausgegossenen Bambusstangen". Ein Schlag mit einer so präparierten Bambusstange macht dann auch, als der Plan schliesslich umgesetzt wird, dem Funk-Sendegerät noch in der Luft den Garaus.

Tatsächlich wird der Plan vollständig ausgeführt, und nach der dramatischen Landung der viermotorigen DC-7 auf dem Behelfs-Flugfeld machen sich die Ganoven mit der Beute in einem weiteren vorbereiteten Auto auf den Weg zur Atlantikküste, wo ein Motorboot bereitstehen soll.

So bleiben die 63 Passagiere in der Obhut einer bald überlasteten Stewardess in einer tagsüber kochend heiss werdenden Blechröhre quasi gefangen, denn ohne Kenntnis des eigenen Standorts und ohne Navigationsmittel werden sie einen Weg aus der Wüstenlandschaft nicht ausfindig machen können.

Die viel zu knappen Wasservorräte sind bald aufgebraucht, und die folgende Agonie wird ausführlich beschrieben. Wer hierfür Hollywood-Filmbilder heranziehen möchte, könnte sich z.B. "Flug des Phoenix" von 1965 anschauen.



Ein Held wird geboren

Helden werden also gebraucht, aber noch planschen die beiden "Boys" mit Harris' Schwester Patsy in den Atlantikwellen. Sobald sie jedoch im Radio von der Suche nach der verschollenen DC-7 erfahren, sind sie fest entschlossen, mit der Cessna des Vaters an der mittlerweile angelaufenen Suchaktion teilzunehmen. Den Vater erreichen sie aber (zum Glück für die Geschichte...) nicht, denn der befindet sich auf See. So beladen Sie die Cessna mit reichlich Reservebenzin, und Harris und Bernd (ohne Patsy, es ist schliesslich "eine Männersache") starten.

Die an die ursprüngliche Flugroute unmittelbar angrenzenden Gebiete nochmals "abzugrasen", wie es vermutlich die professionellen Suchkräfte schon mehrfach getan haben, erscheint den jungen Piloten wenig sinnvoll, und so gehen sie etwas weiter ab auf die Suche. Und (natürlich...) - kurz bevor sie die schwindenden Benzinvorräte zur Umkehr zwingen würden, entdecken sie die DC-7. Kurzentschlossen landen sie - aber natürlich haben sie keinen Plan, was sie mit Dutzenden halb verdursteten Passagieren anfangen sollen. Ihr Funkgerät hat keine genügende Reichweite, um in Tanger oder Casablanca oder Tetuan Alarm zu schlagen - und in der Cessna mitnehmen könnten sie höchsten eine oder zwei Personen.



Kurz bevor die Aufgebrachteren unter den männlichen Passagieren beginnen, die kleine Einmotorige ernsthaft zu beschädigen, nötigt Bernd seinen Freund Harris, alleine abzufliegen und Rettung zu holen. Derweil beschwichtigt Bernd die Passagiere und beginnt mit einer Inspektion des Zustandes der Douglas.

Aussen und innen, auch im Cockpit, findet er - bis auf das Funkgerät - alles scheinbar betriebsfähig vor. Sein Jugendtraum - "...einmal am Steuer einer Viermotorigen sitzen... " - drängt sich ihm wieder auf, und hier könnte er die Rettung für die unglücklichen Passagiere bedeuten. Er fasst einen Entschluss: "Er wird die DC-7 von dieser elendigen, kochenden Sandbahn hochreissen und heimwärts führen, er wird die dreizehntausend PS unter seine Gewalt zwingen und dem Schicksal seine Beute entreissen!"

Der Rest der Geschichte dürfte klar sein: Bernd wagt den Start und bringt die Maschine sicher nach Casablanca, und trotz beim Start beschädigtem Fahrwerk bringt er das Flugzeug sicher zu Boden (noch eine Heldentat!). Die Begeisterung der Öffentlichkeit bringt Bernd (und Harris) dann auch den verdienten Lohn: das Anbebot einern kostenlosen Flugzeugführerausbildung bei einer grossen Airline.



Faschistoide Ästhetik?

Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre begann die aufmüpfig werdende akademische Jugend (etwa unter dem Slogan "unter den Talaren - Muff von Tausend Jahren"), Vergangenheit und Gegenwart ihrer Vätergeneration kritisch zu beäugen.

Ein Lieblingsthema war dabei, an diesen oder jenen Texten "faschistische" oder mindestens "faschistoide Ästhetik" dingfest zu machen. Wer mit dieser Vorgabe an den Text von Neugebauer geht, wird reichlich fündig. So macht der Titelheld "einen verdammt guten Eindruck auf die Reisenden, dieser schlanke, blonde Junge mit den stahlblauen Augen" (S.8). Oder auf Seite 34: "Die Blicke der Umstehenden streifen die straffe Haltung des Jungen und sein sonnenbraunes, männliches Gesicht mit Wohlgefallen."

Bei einer Rangelei unter Jugendlichen: "…wer ihn kennt, sollte gemerkt haben, wie das Lächeln aus seinen Augen einer eisernen Härte gewichen ist...", und dem Angreifer bekommt es nicht gut: "...wuchtet ihm die Faust unters Kinn und wirft ihn zugleich rechts ins Schwimmbecken." (S.38).

Sehr viel später in der gestrandeten DC-7: "Fest umspannen seine Fäuste das griffige Steuer..." (S.134). Und als er den Entschluss zum Start in der Wüste gefallen hat: "Er denkt an nichts Vergangenes mehr. Für ihn gibt es nur noch den Augenblick, der jetzt alles von ihm fordern wird." (S.137).



Und weiter: "Er reisst das Höhensteuer an den Leib. - Die DC 7 macht einen Satz in die Luft und fällt zurück. - Verflucht das Ganze. - Seine Faust schlägt die Gashebel ins Armaturenbrett, die Motoren heulen zum Zerbersten..." (S.139). "Seine Faustsehnen spannen sich wie Stahldrähte, seine Halsschlagadern quellen daumendick." (ebenda). Der Start ist geschafft, aber: "Seine Kehle ist ausgebrannt, sein Mund schmeckt nach Blut, seine Armmuskeln schmerzen - aber er hat es geschafft." (S.140).

Auch zur endlichen, glücklichen Landung gibt es ein Wortgewitter: "...Funkenfontänen stieben haushoch, krachend zerbersten die Propeller zu heulend abschwirrenden Metallfetzen - ein harter Knall - die Fahrwerksreste spritzen beiseite - Stahlblech schreit jetzt auf Eisenbeton - Aluminiumplatten radieren, reissen los, wirbeln rotglühend und donnernd im Sog hinter der unaufhaltsam weitertobenden Douglas, deren räderloser Metallrumpf wie ein brüllendes Ungeheuer über den dampfenden Beton rast. Nicht aufgeben, noch nicht aufgeben!" (S.155).

Mich hat das, beim erneuten Lesen in diesen Tagen, fatal an die Wortwahl und Ästhetik von NS-Propagandafilmen wie "Feuertaufe" (1940) erinnert, wo die unerschrockenen Luftwaffen-Piloten nach "Erfüllung des Kampfauftrags" fröhlich das Lied "Bomben auf Engelland" anstimmen.



Ein Nazi-Autor?

Meine Suche im allwissenden Internet nach biografischen Details zu Ralf Neugebauer blieb bisher erfolglos (was dem Anschein der Allwissenheit des WWW doch etwas abträglich ist...). Vielleicht weiss eine Leserin / ein Leser mehr?

Aber aus dem Veröffentlichungsdatum 1956 kann man schliessen, dass der Autor vermutlich für mehrere Jahre unter dem Einfluss der NS-Ideologie stand - sei es in der Hitlerjugend, sei es im NSKK oder einer der anderen uniformierten Organisationen des NS-Staates. War er Soldat, vielleicht gar freiwillig? Oder ging es ihm wie dem früheren Kanzler Schmidt, der gegen Kriegsende unfreiwillig als Luftwaffenhelfer an eine Flakbatterie eingezogen wurde?

Aber selbst wenn er sich, etwa durch Behinderung oder Krankheit, bis 1945 von allen NS-Organisationen hätte fernhalten können *6 - dem Dauerbombardement mit NS-Propaganda durch Presse, Radio und Kino hätte er sich schwerlich entziehen können.

Und mindestens diese Ästhetik, diese feste Anschauung, wie ein rechter deutscher Junge auszusehen und sich zu verhalten habe (fleissig und ehrlich, aber eben auch blond und blauäugig, flink und eisenhart), hat er wohl voll aufgesogen und gibt sie in seinem Buch, wie die zitierten Textstellen zeigen, auch wieder.

Kann man das Buch also kurzerhand als "faschistisch" bezeichnen?



Wortwahl und Perspektive stehen zwar mindestens stellenweise in der NS-Tradition, aber es gibt auch einige Aspekte, die nicht in ein NS-Buch passen würden.

Zunächst einmal der Berufswunsch: Bernd will ja unbedingt Pilot von zivilen Passagiermaschinen werden. Diesen Männern *7 gilt seine uneingeschränkte Bewunderung: "Wie gebannt starren seine Augen auf die männlich straffe Gestalt des Flugkapitäns, […], verfolgen jeden seiner elastischen Schritte, jede seiner sicheren Gesten." (S.12). Dabei hätte er wenige Seiten später (S.16 ff.), bei einem weiteren Ausflug mit seinen Klassenkameraden zu einem "Düsenjäger"-Flugplatz doch reichlich Gelegenheit, andere Piloten-Helden zu adorieren. Aber die Worte, mit denen der Autor diese Militär-Piloten beschreibt, sind recht blass - überhaupt scheint die Sache dramaturgisch mehr den Zweck einer weiteren Mutprobe zu haben, die unser jugendlicher Held veranstaltet, um seinen Konkurrenten um die Gunst der Kameraden (mit dem Spitznamen "Lautsprecher Bumke") schlecht aussehen zu lassen.

Das andere Thema, das es wohl kaum in ein Buch der 1940er Jahre geschafft hätte, ist "Sexualität". Wobei das Buch natürlich heutigen Lesern vollkommen harmlos vorkommen wird - mehr als etwas intensiveres Händchenhalten wird es zwischen Bernd und Patsy bis zum Schluss nicht geben. Andererseits wird diesen für den Helden neuen Gefühlen reichlich Raum gegeben, und zum Happy-End wird auch angedeutet, dass es mit den beiden weitergehen könnte: "Sie zwei wissen es wohl, sie wissen es für heute und alle Zukunft."



Exkurs: Perioden der Luftfahrt

Wenn man die Geschichte der (motorisierten) Luftfahrt in Perioden mit griffigen Namen einteilen wollte, so könnte man die erste, bis etwa 1918 reichende die "Pionier- und Bastel-Periode" bezeichnen. Von den unbeholfenen Luftsprüngen in Kitty Hawk über die Kanalüberquerung Bleriots bis zu den im "grossen Krieg" manchmal im Wochentakt an die Front geworfenen Neuentwicklungen (heute Doppeldecker, morgen Eindecker, übermorgen Dreidecker...) - es war (technisch betrachtet) ein grosses Suchen nach überhaupt zuverlässigen Geräten und Methoden.

Danach - bis etwa 1930 - folgte die "erste heroische Periode", die bestimmt war von der Auslotung der Möglichkeiten des neuen Transportmittels. Es war das Zeitalter der Ozeanüberquerungen und Kontinental-Erkundungen, auch erste Weltumrundungen (allerdings mit vielen Zwischenlandungen) wurden in Angriff genommen und manchmal auch erfolgreich überstanden. Diese Helden wagten sich, wie Charles Lindberg 1927, mit etwas Tee, Sandwiches und vermutlich viel Leichtsinn bewaffnet, in mit Flügeln ausgestatte Benzintanks und "besiegten" Müdigkeit, Orientierungsverlust und technische Pannen aller Art.

Die folgende Periode könnte man mit Konsolidierung und Evolution beschreiben. In den 1930er Jahren gab es schon einige Flugzeugmuster, die hinreichend zuverlässig waren, um regelmässige Linienverbindungen einzurichten - etwa die Ford Trimotor, die Junkers Ju 52, die Handley Page H.P.42 oder die Douglas DC-3. Auch erste Standards für Flugplätze, Navigation und Anflugkontrolle wurden eingerichtet.

In den Kriegsjahren ist die Evolution vorangeschritten, die Leistung der bewährten Kolbenmotoren wurde von wenigen hundert auf 1000, 1500, 2000 oder mehr PS gesteigert.

Nach dem Krieg aber, und damit beginnt die "zweite heroische Periode", wird die schon länger "erfundene", aber bislang kaum einsatzreife Strahlturbine (der "Düsenantrieb") sowohl die militärische als auch die zivile Luftfahrt vollständig umkrempeln. Die Helden dieser Periode sind freilich meist Militärpiloten wie Charles "Chuck" Yeager, der als erster (dokumentiert) die sogenannte "Schallmauer" durchbrach. Auch weitere ehemals scheinbar unerreichbare Rekorde wurden in jener Ära, die bis etwa Mitte der 1950er Jahre andauerte, gebrochen, z.B. mehrfach der Höhenrekord. Den Gipfelpunkt (und gleichzeitig den Übergang zur Raumfahrt) stellte die North American X-15 dar, die rund siebenfache Schallgeschwindigkeit erreichte und auf ihrer "Dienstgipfelhöhe" nur noch mittels Steuerdüsen wie eine Raumkapsel gesteuert werden konnte *8.

Mit der Einführung der Strahlturbine in die Passagierluftfahrt (De Havilland Comet ab 1957, Boeing 707 ab 1958, Douglas DC-8 ab 1959) beginnt sozusagen die "Jet-Set-Periode": Erstmals ist nun (prinzipiell) jeder Ort der Erde innerhalb einer Tagesreise erreichbar, aber aufgrund der hohen Kosten bleibt die regelmässige Nutzung dieser Möglichkeit einer noch recht kleinen Schicht vorbehalten, für die sich der Name "Jet-Set" einbürgert. Es sind nun weniger die Piloten als die mehr oder minder berühmten Passagiere, die die "Helden" dieser Ära darstellen, als Beispiele mögen Gunther Sachs oder Brigitte Bardot genügen.



Luftfahrtbegeisterung

Mit der Einführung der Grossraumjets oder "wide bodies" (Boeing 747 ab 1970, Airbus A300 ab 1974) beginnen die Ticketpreise stetig zu fallen. Flugreisen werden, mindestens in den Industrienationen, zum Massenphänomen. Manche "Destinationen" veränderten durch den ungebremsten Zustrom an Touristen so nachhaltig ihren Charakter, dass die "Eingeborenen" sie nach einiger Zeit kaum mehr wiederzuerkennen vermochten (Mallorca, Teneriffa, Ibiza, Miami...).

Die heutige Ausprägung der Zivilluftfahrt könnte man schliesslich als "Ära der Kosten-Controller" bezeichnen. So unerbittlich sind die Manager der sogenannten "Billigflieger" in ihrem Bestreben, die Kosten immer weiter zu senken, dass der ehemalige Prestigeberuf Pilot (zumindest in den USA) von den Angestellten oft schon durch einen Zweitjob ergänzt werden muss, damit man "über die Runden" kommt.

Zurück zu unserem Buch: Mit der Begeisterung für den Pilotenberuf knüpft der Autor sehr offensichtlich an die damals gerade abklingende "zweite heroische Periode" an. Insofern nicht überraschend, dass ein paar Jahre später das Buch von Scott Crossfield "Ich flog die X-15" von mir ebenfalls "verschlungen" wurde. Auch der schon erwähnte Film "Flug des Phoenix" *9 bezog für mich seine Faszination aus ähnlichen Themen.

Da ist zum einen das universelle Thema "Held werden", also etwa durch eine spektakuläre Aktion das Leben vieler Menschen retten und damit die Beachtung oder Hochachtung der Mitmenschen erlangen. Ein Wunschtraum, den sicher auch heute noch viele junge Menschen gerade in der Zeit der Pubertät (mit ihrer immanenten Bedrohung des Selbstwertgefühls) haben.



Um dem jungen Leser (oder Kinozuschauer) die Identifikation mit der fiktiven Heldenfigur zu erleichtern, sollte die Figur den Heldenstatus trotz widriger Umstände erlangen. So ist unser Buchheld Bernd ja keinesfalls durch Herkunft oder Reichtum prädestiniert, zum Flugkapitän (und Retter) zu werden - aber gerade weil er angesichts der knappen Finanzmittel seiner Eltern nicht aufgibt und trotzdem sich z.B. alle Fachbegriffe und Techniken im Selbststudium aneignet, wird er in der Romanlogik zum Held.

Das andere grosse Motiv ist "die Technik beherrschen". Im Roman wird es mehrfach in verschiedenen Varianten formuliert, z.B.: "...er wird die dreizehntausend PS unter seine Gewalt zwingen...".

Die Vorstellung, dass man die offenkundig mächtige, aber vielleicht a priori ziellose Technik erst durch menschliche Steuerung einer sinnvollen Funktion zuführen könne, war sicherlich für die Nachkriegsgenerationen ziemlich akzeptiert. Man kann freilich auch Parallelen zu den Initiationsriten von Naturvölkern ziehen: So wie früher ein junger Massai erst durch das erfolgreiche Erlegen eines Löwen zum "Mann" wurde, so markierte die erfolgreich bestandene Führerscheinprüfung in der Nachkriegs-BRD den Übertritt in die "Erwachsenenwelt".

Und der manchen vielleicht noch bekannte Werbeslogan einer Münchener Automobilfirma "aus Freude am Fahren" verhiess auch den Lohn für die Anstrengung, die Technik beherrschen gelernt zu haben: Dann konnte man sich an der Kraft der Motoren und der enorm erweiterten Mobilität erfreuen.



Neue Ideale?

Der schon erwähnte Film "Der Flug des Phoenix" treibt übrigens das "Technik beherrschen"-Thema noch weiter: Hier geht es nicht nur darum, am Steuerknüppel eine Flugmaschine in die richtige Richtung zu zwingen - hier muss ein flugfähiges Gerät aus den Trümmern eines abgestürzten Blechvogels erst wieder neu konstruiert werden! Nebenbei ist der Film noch eine spannende Gruppenstudie und gibt in der Figur des Ingenieurs Dorfmann (gespielt von Hardy Krüger) vermutlich auch recht genau wieder, wie die US-Amerikaner der 1960er "die Deutschen" wahrnahmen: unheimlich tüchtig, sachbezogen, gelegentlich sogar "genialisch", aber moralisch vollkommen indifferent.

- - -

Ist das Thema "Technik beherrschen" heute noch eines, welches junge Menschen begeistern kann? Für eine Feldstudie dazu fehlen mir natürlich alle Voraussetzungen. Die sogenannten "Blockbuster"-Filme aus Hollywood könnten einen Hinweis geben, aber es fällt mir schwer, unter all den mit CGI-Grafik überladenen Filmen der letzten Jahre einen Trend in dieser Richtung festzumachen. Gewiss - die "Batman"-Figur hantiert mit allerlei technischem Gerät, aber zum einen sind diese Filme auch schon mehrere Jahre alt, zum anderen scheint jener Batman nicht die geringste Zeit damit zu verbringen, den besten Einsatz seiner Hilfsmittelchen irgendwie vorzubereiten oder zu üben.

Blicken wir auf ein gänzlich anderes Sujet - vielleicht zwei Werbefilme eines (sehr) grossen (darf man noch sagen "niedersächsischen"?) Automobilherstellers.



Im ersten Werbefilmchen ist eine Familie mit 2 Teenager-Kindern zu sehen, die im blitzblanken VW durch eine Stadt fahren. Am Steuer sitzt die Mutter, die irgendwann eine Parklücke erblickt. Sie hält an, drückt ein Knöpfchen und nimmt die Hände vom Steuer, woraufhin das Lenkrad sich "von allein" zu bewegen beginnt und das Auto in einem glatten Zug in die Parklücke rangiert. Die meisten werden dieses "Assistenzsystem" schon kennen - bei VW heist es "park assist". Hier soll garnicht über Sinn oder Unsinn des Systems an sich referiert werden - in diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass die Filmemacher ihr Filmchen damit enden lassen, dass die ganze Familie nach erfolgreich abgeschlossenem Parkvorgang mit Klatschen und Rufen applaudiert.

Ein Applaus für "Mami" kann es wohl eher nicht sein, schliesslich hat sie nichts anderes getan, als ein Knöpfchen zu drücken (bzw. eine Fläche auf einem "Touchscreen" zu berühren). Gilt der Applaus dann "Vati", weil er so ein tolles Fahrzeug gekauft hat? Wohl auch eher nicht. Sondern der Applaus gilt der Technik selbst, die hier scheinbar selbständig eine konkrete Aufgabe gelöst hat.

Im zweiten Filmchen sieht man ein (Ehe?)Paar mittleren Alters, die offenbar in Vorbereitung erotischer Aktivität sich gegenseitig Kleiderteile abstreifen und diese auf dem Weg ins Schlafzimmer unbeachtet fallen lassen. Endlich auf dem Bett angekommen, werden sie aber durch ein Signal eines "Smartphones" unterbrochen: Die Frau schaut auf das Gerät, ruft "er kommt gleich", und schon beginnen die beiden, die fallengelassenen Sachen wieder aufzusammeln und sich dabei hektisch anzukleiden. Noch nervös an ihren Sachen nestelnd stehen sie im Raum, als der junge Fahrer des Pkws eintritt: "High Mama, high Papa - habt ihr etwa aufgeräumt?".

(siehe hier: Golf "innovative Gebietsbenachrichtigung" *10 )



"iSheep" TM

Natürlich ist das zweite Filmchen insofern spassig, als die Erwartungshaltung umgedreht wird: Normalerweise sind es sonst eher die Teenager, die ihre erotischen Aktivitäten vor den Eltern zu verbergen suchen. Aber das macht den Film nicht so interessant. Schon eher die Tatsache, dass für ein Automobil mit einem "Feature" geworben wird, dass vollkommen losgelöst ist von der Funktion eines Autos: Der Golf federt kein bisschen besser, wird um keinen Deut geräumiger oder komfortabler, beschleunigt nicht besser oder verbraucht nicht weniger durch die Option "innovative Gebietsbenachrichtigung".

Aber es wird "Sicherheit" geliefert: Jawohl, "unser Golf" bewegt sich zu den von uns zugelassenen Zeiten innerhalb der von uns festgelegten Gebietsgrenzen *11. Damit ist diese Funktion in bester Gesellschaft mit den momentan ebenfalls heiß beworbenen "Smart home"-Apparaturen. Auch diese bieten "Sicherheit": Jawohl, das Wohnzimmer wird auf exakt 22,3 Grad vorgewärmt sein, wenn ich um 23:35h von der Geschäftsreise komme; jawohl, die Jalousien werden sich um Punkt 6:45h öffnen und um Punkt 20:35h schliessen; jawohl, die Akustiküberwachung erlaubt mir, den für ein paar Stunden alleingelassenen Haushund von allzu heftigem Bellen abzuhalten; jawohl, die Videotürklingel mit Internetverbindung erlaubt es mir, ungebetene Besucher des heimischen Bungalows mit harschen Worten abzuwehren, während ich auf dem Messestand in X die Produkte der Firma präsentiere.



Freilich sind das alles eher Pseudo-Sicherheiten, denn die wirklich lebens-wichtigen Sicherheiten werden ja zunehmend abgebaut: Die Sicherheit, eine unbefristete Anstellung zu erhalten; die Sicherheit, nicht bei leichtesten Konjunkturschwankungen "freigestellt" zu werden; die Sicherheit, eine bezahlbare Wohnung zu haben; die Sicherheit, dass dieselbe nicht durch den Verkauf an eine "Heuschreckenfirma" zum Spekulationsobjekt wird etc. pp.

Und konkret beim Auto wäre ja mindestens die Sicherheit einzufordern, dass das Fahrzeug die versprochenen und (Kfz-)verbrieften Schadstoffklassen auch einhält. Etwas, welches der VW-Konzern offenbar nicht konnte oder nicht wollte - aber das ist ein anderes Thema.

Bringen wir diese Pseudo-Sicherheit mit der im ersten Film demonstrierten Bewunderung für die Technik selbst zusammen:

Der von vielerlei realen, teilweise existentiellen Unsicherheiten bedrohte Neuzeit-Mensch sucht sich Ersatz-Felder, die er mittels elektronischer Helferlein möglichst vollkommen kontrollieren kann. Gleichzeitig ist er bereit, als Lösung für Technik-Probleme mehr Technik zu akzeptieren, und wenn sie dabei hinreichend "autonom" erscheint, dieselbe auch zu bewundern. Dagegen schwindet das Verlangen, Technik zu beherrschen, und macht einer Bereitschaft platz, diesen Automatismen nicht nur die ehemals eigenen "Handfertigkeiten" zu übertragen, sondern auch gleich noch die Verantwortung dazu. Spötter nennen die so konditionierten Mitmenschen auch gerne "iSheep" *12.



Deutungsmöglichkeiten

Wenn ich in den vorigen beiden Absätzen aus den Inhalten von 2 Automobil-Werbeclips so weitreichende Schlüsse ziehe, ist das natürlich höchst angreifbar. Allerdings werden solche Filme ja mit der Absicht erstellt, damit grundlegende Erwartungen und Emotionen des Zielpublikums zu treffen - so wie die Katzenfutterwerbung mit dem Entzücken der Katzenliebhaber über lustig herumtollende Katzenbabys rechnet, so rechnet auch VW hier mit Erwartungshaltungen gegenüber moderner Technik, die mindestens sehr unkritisch sind.

Und wenn ich in meinem Umfeld oft genug das Entzücken über neue Smartphone-"Features" und gleichzeitig das achselzuckende zur-Kenntnis-nehmen immer neuer Überwachungsmechanismen (Metadaten-Speicherung, Facebook-Datenabschöpfung durch Cambridge Analytica, Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Ostkreuz etc.) wahrnehme, habe ich schon das Gefühl, dass sich eine gänzlich andere Technikwahrnehmung breitgemacht hat.

In diesem Zusammenhang kann ich sehr das Buch "Die smarte Diktatur" von Harald Welzer empfehlen (ISBN 978-3-59603-552-6).






Und natürlich kann man umgekehrt an der "Baby-Boomer"-Generation sehr kritikwürdige Einstellungen festmachen. Wenn ich zum Beispiel einen Satz wie "Meine Ehre heisst Treue" zwar für ziemlich gestelzt und pathetisch halte, aber dem Wortsinne nach nicht für prinzipiell böse, dann könnte ich ihn als Motto irgendeines Feierabend-Vereins durchaus akzeptieren. Aber natürlich sollten wir das nicht, denn "Meine Ehre heisst Treue" war das Motto der Waffen-SS, und damit ist der Satz zumindest für uns Deutsche auf lange Zeit unbenutzbar geworden.

Wenn ich aber "Ehre" und "Treue" zwar ganz sicher nicht für Primär-Tugenden, aber eben doch für eher positive Eigenschaften *13 halte, kann durchaus die "Sozialisation" mit solchen Büchern wie dem von Herrn Neugebauer eine Mitschuld tragen.

Ein anderes "Erbe", welches ich mit mir "herumschleppe", ist jener Hang zur kritischen Überprüfung überkommener Regeln, der von der sogenannten "68er-Generation" zwar nicht erfunden, aber eben intensiv gepflegt wurde. Und gerade als Abwehrmittel gegenüber Diktaturen aller Art m.E. immer noch sehr notwendig ist.

- - -

Für Bernd zum 16. Mai 2018

www.truthorconsequences.de

(diesen Text als PDF laden oder drucken)

*1 Zwar sind Wandposter nicht mehr so beliebt wie in den 1970er Jahren, bei den verbliebenen Posterverlagen scheinen aber "Flugzeugcockpits" als Motiv immer noch Absatz zu finden.


*2 In der Form des "auf Papier geschriebene, in Briefumschläge gesteckte und mit Briefmarken versehene Mitteilungsträger" sind Brieffreundschaften natürlich längst ausgestorben. Man könnte allerdings die Facebook-Freundschaften der Neuzeit, sofern sie über das engere Lebensumfeld hinausgehen, durchaus als Nachfolger dieser Sitte ansehen.


*3 Der Flug nach England ist dann tatsächlich die erste Flugreise, die der Titelheld erlebt.


*4 Damals war in England offenbar der Erwerb des Flugscheins schon mit 16 Jahren möglich.


*5 Einmotorige Cessnas wie diese waren in jener Zeit in etwa das Äquivalent zum Volkswagen Käfer - technisch anspruchslos, aber robust und zuverlässig und deswegen "überall" anzutreffen.


*6 Dieses umfassende Einbinden der Bevölkerung in möglichst straff organisierte (und letztlich von der Partei gelenkte) ausserberufliche Organisationen geschah im "Dritten Reich" durchaus mit voller Absicht. Hitler sprach in diesem Zusammenhang dann sogar von Sozialismus: "… wenn ich die Menschen fest in eine Disziplin eingeordnet habe, aus der sie nicht heraus können … Wir sozialisieren die Menschen."

*7 An Frauen als Piloten bzw. Pilotinnen war in jener Zeit "natürlich" nicht zu denken.


*8 Je nach Definition, ab wann "Weltraum" beginnt, zählen dadurch einige der X-15-Piloten als "Astronauten".


*9 Mit damaliger Starbesetzung: James Stewart, Richard Attenborough, Peter Finch, Ernest Borgnine, George Kennedy und Hardy Krüger. Übrigens ein so "reiner Männerfilm", dass Frauen tatsächlich nur als fotografische oder halluzinatorische "Projektionen" vorkommen.


*10: VW erläutert die Funktion so: "Dank der optionalen Gebietsbenachrichtigung automatisch erfahren, wenn Ihr Golf bestimmte Gebiete zu definierten Tageszeiten befährt oder verlässt. Dafür können im Car-Net Portal bis zu zehn Gebiete für dynamische Gültigkeitszeiträume festgelegt, aktiviert und deaktiviert werden."

*11 Auch hier geht es mir nicht darum, die Funktion an sich als prinzipiell wertlos darzustellen. Nur ist sie so offenschtlich nachrangig zu den "originären" Funktionen eines Pkws, dass die Bewerbung dieses "Features" eigentlich lächerlich ist.

*12 In Anlehnung an die Namen der erfolgreichen Produkte der Firma Apple wie iPod, iPhone und iPad gilt als ein iSheep jemand, der wie ein treudoofes Schaaf alle neuen Varianten der Firmenprodukte und Software kauft und einsetzt.

*13 Mindestens die "Ehre" hat sich ja in der Form von "Berufsehre" bis in den heutigen "Diskurs" hinein die positive Konnotation erhalten können.