FIAT: Wörgl, MMT und MiniBOTs



1. Das Seminar und ein Film

Es wird in diesem Text nicht um die Automarke FIAT gehen, ebensowenig um neueste Entwicklungen der Robotik. Anlass ist ein vom Verein "Freiburger Diskurse" ausgerichtetes Seminar zum Thema Geldtheorien und Staatsverschuldung am 6. Juli, an welchem teilzunehmen ich Gelegenheit hatte. Hauptreferenten waren die "bekennenden MMT'ler" Dr. Dirk Ehnts, Dr. Günther Grunert und Dr. Michael Paetz *1, während sich Prof. Dr. Oliver Landmann *2 bereitgefunden hatte, den sozusagen "konventionellen" oder "Mainstream"-Standpunkt zu vertreten. Der Zufall fügte es, dass am Vorabend im Kanal ARTE der Fernsehfilm "Das Wunder von Wörgl" lief, der weniger von einer Geldtheorie als von einem sehr realen historischen "Geldexperiment" handelte (z.Zt. unter arte.tv abrufbar) .





2. "Das Wunder von Wörgl"

Der Fernsehfilm von 2018 behandelt die Ereignisse in dem kleinen Ort Wörgl bei Innsbruck von Anfang der 1930er Jahre, die als "Wunder von Wörgl" bekannt wurden. Auch Wörgl war damals schwer von der Weltwirtschaftkrise getroffen, die örtliche Zellulose-Fabrik geschlossen, und die hohe Arbeitslosigkeit hatte auch die Stadtkassen geleert. Für irgendwelche öffentlichen Investitionen schien kein Geld mehr verfügbar zu sein, und die Leute hatten sich scheinbar auch an verfallende Schulgebäude, löchrige Strassen und orientierungslose Jugendliche gewöhnt.

Der Film beginnt im Jahr 1931, als der Bahnbeamte Michael Unterguggenberger etwas widerstrebend von seinen Gemeinderatskollegen zum Bürgermeister gewählt wird (mir als Eisenbahnfan gefällt der einem Ratskollegen in den Mund gelegte Satz: "Du Michl, als Lokomotivführer bist du es doch gewohnt, Verantwortung zu übernehmen!").

Als Fernsehfilm muss natürlich auch dieser Film auf dramaturgische Konventionen Rücksicht nehmen und kann also weder faktengetreue Dokumentation noch ökonomisches Grundlagenseminar sein. Als Drama benötigt es natürlich einen Held oder eine Heldin und eine klare Handliungslinie. Der Held dieses Films ist Bürgermeister Unterguggenberger und die Handlung sein Kampf um die später als "Freigeld" bezeichnete lokale Alternativwährung.

Ebenso sind gewisse Kürzungen unumgänglich: So scheint im Film Unterguggenberger ganz allein, nur angeregt durch die intensive Lektüre eines Buches von Silvio Gesell ("Die natürliche Wirtschaftsordnung") auf sein Konzept einer von der Stadt ausgegebenen "Währung" gekommen zu sein. In der Realität hatte es allerding schon ähnliche "Notgelder" unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg in verschiedenen Orten Österreichs (und auch Deutschlands) gegeben.

Aus juristischen Gründen offiziell "Arbeitsbestätigungsschein" genannt, wird das Geld an jedermann ausgegeben, der bereit ist, für die Stadt Arbeiten auszuführen. Nach und nach kann der Bürgermeister zahlreiche öffentliche Projekte beginnen und umsetzen, die teilweise schon lange anstehen: Strassenbau, Schulsanierung, Brückenbau. Auch die Zellulose-Fabrik wird wieder "unter Dampf" gesetzt. Bis es soweit ist, müssen allerdings zahlreiche Widerstände überwunden werden. Das grösste Problem, und da scheint mir der Film auch recht realitätsnah zu sein, war wohl die Akzeptanz der "AB-Scheine" durch die örtlichen Geschäftsleute zu erreichen. Es gelang jedenfalls, und im Film kann sich der Bürgermeister diesbezüglich auch voll auf das diplomatische Geschick seiner jungen Frau Rosa verlassen.

Eine andere Handlungslinie stellt der Kampf gegen die örtlichen Nazis dar, im Film zugespitzt durch den Konflikt zwischen dem Bürgermeister und seinem von den Nazis umworbenen Sohn.

Eine Eigenart der Wörgler AB-Scheine war, dass man sie durch monatlich fälligen Nachkauf von Wertmarken ("Notmarken") gültig halten musste. Das sollte dazu führen, dass die Scheine nicht gesammelt oder gehortet, sondern statt dessen möglichst schnell für andere Ausgaben verwendet werden sollten. Diese beabsichtigte Erhöhung der Zirkulation soll auch recht gut gelungen sein.

Unbestritten war die kurze Zeit des "Freigeldes" in Wörgl sehr erfolgreich, öffentliche und private Investitionen erhöhten sich erheblich, die Arbeitslosenrate sank deutlich. Kurz - Wörgl erschien wie eine Oase (bescheidenen) Wohlstands inmitten einer depressiven Umgebung, weshalb auch der Begriff "das Wunder von Wörgl" von der zetgenössischen Presse geprägt wurde.

Freilich wurde das "Wunder" nach 14 Monaten beendet, sozusagen abgeschlagen wie eine Blüte am Wegrand - durch die österreichische Nationalbank AG, die die Nutzung des Freigelds gerichtlich untersagen liess: "Nach Androhung von Armeeeinsatz beendete Wörgl das Experiment im September 1933" (Wikipedia).





3. Die Modern Monetary Theory - MMT

Es wäre natürlich vermessen, die neuerdings mit einiger Aufmerksamkeit bedachte "Modern Monetary Theory" im Rahmen dieses kurzen Textes "umfassend" darstellen zu zu wollen, selbst wenn ich es könnte. Den Referenten des Seminares war es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass MMT zuallererst einfach die Geldschöpfung an sich und dann auch den Prozess der Finanzierung staatlicher Ausgaben möglichst realitätsnah beschreiben will. Weitergehend will sie mögliche Handlungspfade für eine staatliche Geld- und Fiskalpolitik aufzeigen.

Ein paar Stichpunkte müssen also genügen: Zunächst einmal betont die MMT die unbestrittene Tatsache, dass alle modernen Währungen "fiat money" sind, also intrinsisch wertlose Geldscheine oder (heutzutage vorherschend) Buchgeld (also Zahlenwerte auf typischerweise elektronisch verwalteten Konten). Den Wert erhält dieses Geld nur durch Vereinbarung, eben durch den GLAUBEN *3, dass man dadurch eine Ware oder Dienstleistung erwerben kann - deshalb also FIAT (lateinisch "ich glaube"). Freilich hat der Staat ein sehr gutes Mittel, um seinen Bürgern den Glauben an die Fiat-Währung "nahezubringen": Er verpflichtet sie, die verlangten Steuern in eben dieser Währung zu zahlen. Da jeder Staatsbürger (mehr oder minder) steuerpflichtig ist, kann er davon ausgehen, dass auch seine Mitmenschen mit der staatlichen Währung etwas "anzufangen" wissen, er kann es also als allgemeines Zahlungsmittel verwenden.

Weiter versucht die MMT zu ergründen, wie sich ein Staat (mit eigener Währung) eigentlich "finanziert". Jahrzehnte entsprechender "monetaristischer" Propaganda haben uns Laien beigebracht, dass der Staat sich aus Steuern und aus Kreditaufnahme am "Kapitalmarkt" finanziert und letzteren Vorgang auch gleich mit dem Zusatz "schädlich" belegt, weil so der Staat der "freien Wirtschaft" knappe Liquiditätsmittel entziehe. Die MMT legt demgegenüber (für mich überzeugend) dar, dass jede Kreditaufnahme des Staates, auch wenn sie z.B. nach den hiesigen gesetzlichen Vorschriften über Geschäftsbanken laufe, letztendlich nur Buchungsvorgänge entsprechender Zentralbankkonten bewirke. Und diese Buchungen seien wiederum Gelderzeugung duch "Federstrich" oder durch "eintippen".

Daraus folgt, dass ein Staat mit Währungssouveränität (eigener Währung und Zentralbank), solange er sich nur in eigener Währung "verschuldet", eigentlich nie bankrott gehen kann. Und dieser Befund wird auch durch Empirie gut bestätigt: Wenn es in den letzten rund hundert Jahren überhaupt zu Staatsinsolvenzen kam, dann praktisch nur bei solchen Staaten, die in hohem Umfang in ausländischen Währungen verschuldet waren.

Weiter verweist die MMT darauf, dass - wie es einige Zentralbanken auch selbst ausführen - eine "Rückzahlung" dieser Art Staatsschulden nie vorgesehen und eben auch nicht notwendig ist. Wenn aber der (geldsouveräne) Staat nicht bankrott gehen kann, würde ja einer antizyklischen staatlichen Investitionstätigkeit - ganz im Sinne des Keynes'schen "deficit spending" - nichts entgegenstehen.

Dies ist dann auch gleich der heftigste Kritikpunkt der konventionellen Ökonomik: MMT verspreche einfach "märchenhafte Zustände", in der eine Art "Tischlein-deck-dich" alle staatlichen Ausgabenwünsche ermöglichen solle - und vergesse dabei, dass der "Kuchen ja nicht mehrfach verteilt" werden könne. Unter anderem mit diesen Worten versuchte Professor Landmann, die Glaubwürdigkeit der "MMT'ler" zu erschüttern. Er war allerdings höflich genug, seine akademischen Podiumspartner nicht direkt anzugehen, sondern auf dem Umweg über in der Fachwelt bekanntere Vertreter wie z.B. Bill Mitchell.

Mindestens das Argument des "nicht mehrfach verteilbaren Kuchens" zieht aber wohl nicht: Denn nach Ehnts, Grunert und Paetz geht es, wenn denn Staat und Zentralbank um des Zieles "Vollbeschäftigung" willen die Investitionen erhöhen, sozusagen um das Backen eines grösseren Kuchens - eines Kuchens, der möglichst allen Bürgern ein Auskommen ermöglicht. Oder, etwas fachlicher formuliert: Es geht um die Aktivierung sonst brachliegenden Produktionspotentials. Unser Bürgermeister Unterguggenberger hätte es wieder simpler formuliert: "Wieso soll ich den Arbeitslosen beim Nichtstun zuschauen, wenn ich - nur indem ich ihnen irgendein Geld gebe - dafür sorgen kann, dass nützliche Dinge geschaffen und die Familien versorgt werden?"

Und die MMT plädiert auch garnicht für grenzenloses Investieren des Staates: Vielmehr sollen, wenn Vollbeschäftigung erreicht ist, die Ausgaben nicht mehr erhöht oder gegebenenfalls sogar verringert werden. Erkennbar sei das sehr gut an der Inflationsrate, die - wenn keine hinreichende Produktionsreserve mehr gegeben sei - dann steigen müsse.





4. MMT und Freigeld

Ohne die Grundlagen des Freigeldexperiments in Wörgl (also z.B. das oben erwähnte Buch von Gesell) zu kennen, ist eine Einschätzung der Berührungspunkte schwer möglich. Mindestens hatten auch die Wörgler klar erkannt, dass ihr Geld zum Funktionieren den Glauben - FIAT - braucht. Weiter hatte man auch eindeutig eine gesellschaftliche Aufgabenstellung im Blick: Eine Beseitigung oder wenigstens Verringerung der Arbeitslosigkeit und gleichzeitig die Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur. Beides hat damals, solange das Experiment lief, recht gut funktioniert.

Würde heutzutage ein Freigeldexperiment ähnlich gut funktionieren, könnten so vielleicht Hagen oder Halle, Saarbrücken oder Suhl eine ökonomische Wende erreichen? Vermutlich nicht. Ein Grund dürfte sein, dass heutige Städte weitaus weniger autark sind als das damals noch recht kleinstädtische Wörgl. Wenn man Holz für den Brückenausbau benötigte, so konnte man es einfach im Gemeindewald schlagen. Farbe für die Verschönerung von Rathaus oder Gasthof konnte man, zumindest für den Anfang, einfach aus dem Lager des örtlichen Malermeisters holen. Für die grundlegenden Strassenbauarbeiten wurden Schaufeln und Spitzhacken benötigt, die im Gemeindeschuppen bereitlagen oder die man sich beim nächsten Bauern leihen konnte. Und zur Wiederinbetriebnahme der Zellulosefabrik benötigte man keine Spezialisten aus Wien oder München.

Wichtiger noch: Um die Akzeptanz als Zahlungsmittel sicherzustellen, würden dem neuzeitlichen Bürgermeister nicht mehr nur ein paar freundliche Gespräche mit der Zenzi vom Gasthof, dem Toni von der Fleischerei und der Gerdi von der Bäckerei genügen.

Insofern nicht verwunderlich, dass die von den verschiedensten Städten heutzutage herausgegebenen "Lokalgelder", selbst wo sie sich "Freigeld" nennen, meist nur eine Art von PR für lokale Wirtschaftsförderung darstellen. Manchmal sogar nur auf ein spezielles Projekt fokussiert: "Kauft den xyz-Taler, damit unser neues Jugendzentrum gebaut werden kann."





5. Die MiniBOTs kommen

Was aber auf der kommunalen Ebene vermutlich nicht mehr funktionieren könnte, wäre auf der nationalen Ebene noch recht gut möglich. Und damit kommen wir zu den "MiniBOTs", mit denen die italienische Regierung der EU-Kommission wohl soviel Angst eingejagt hat, dass (zumindest vorläufig?) kein Defizitverfahren gegen Italien eingeleitet wird.

Was sind also die MiniBOTs? Sogenannte "BOTs" gibt es schon lange - das Kürzel steht für "buoni ordinari del tesoro", eine Art Staatsanleihe. Das Neue war die Idee, diese als "Mini"-Version in Stückelungen von 5 bis 500 Euro an die Bürger auszugeben. Und damit wäre das Akzeptanzproblem schon im Wesentlichen gelöst gewesen, denn der Bürger hätte damit zumindest seine Steuern zahlen können - klassisches Kennzeichen eines "allgemeinen" Zahlungsmittels. Im Gegensatz zum "richtigen" Euro wäre dieses Zahlungsmittel aber in der Kontrolle des italienischen Staates gewesen.

Denn die Staaten der EURO-Zone sind, wenn man das Geldsystem unter MMT-Gesichtspunkten betrachtet, allesamt in Fremdwährung verschuldet. Und damit nicht währungs-souverän. Zwar agiert auch die EZB, die Zentralbank der Eurozonen-Länder, nicht vollkommen im politisch luftleeren Raum, aber ihre immer wieder proklamierte Unabhängigkeit erlaubt es ihr eben auch, im Fall der Fälle ein Land in den "monetären Abgrund" zu stossen - so geschehen in Griechenland. Seither hat auch die EZB gewisse Skrupel bekommen, aber Mario Draghis berühmter Spruch vom "whatever it takes" bezog sich immer auf den EURO als Ganzes. Noch hat man also (bezüglich Italien) vor dem wirtschaftlichen Absturz eines der grösseren EU-Länder zurückgeschreckt. Wie aber die EZB unter neuer Leitung (voraussichtlich Christine Lagarde) agieren wird, bleibt abzuwarten.

Für die deutschen "Linken", besonders in ihrer falsch verstandenen "internationalistischen" und pro-EU-euröpäischen Ausprägung, sind natürlich die MiniBOTs oder andere kreative Lösungen des EURO-Dilemmas kein Thema, weil sie aus der falschen Ecke kommen. Was von diesem Unsympathling names Salvini kommt, kann ja nix sein...





6. Mrs. Thatchers Handtasche

Als es bei einer Tagung der EU-Regierungschefs anfangs der 1980er Jahre zu einer Auseinandersetzung über die Höhe der jeweiligen Mitgliedsbeiträge ging, soll die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher ihre Handtasche mit den Worten "I want my money back !!!" auf den Tisch gedonnert haben.

Soviel Entschlossenheit würde einem wirklich verantwortungsvollen Regierungschef eines EU-Landes auch heute gut anstehen, allerdings müsste seine Forderung lauten "we want our financial sovereignty back !"

Denn die Anpassungsmechanismen aus der vor-EURO-Zeit, also vor allem das Instrument der Auf- oder Abwertung der eigenen Währung, sind ja mit der gemeinsamen Währung weggefallen. Prinzipiell ist es zwar möglich, auch in einer Währungsunion trotz verschiedener allgemeiner Wirtschaftsleistung, aber auch verschiedener Fiskal- und Sozialsysteme sowohl die Währung stabil zu halten als auch eine relative Vollbeschäftigung zu erreichen. Das würde aber insbesondere in der Lohnpolitik durch Befolgung der sogenannten "goldenen Regel" *4 ein solches Mass an Koordination und wechselseitiger Rücksichtnahme erfordern, zu welcher die EURO-Staaten und insbesondere Deutschland offensichtlich nicht bereit sind.





7. Aber die Ökologie?

In diesen Zeiten, in denen selbst die Bundeskanzlerin die bekannte jugendliche Klimaaktivistin ganz vertraut nur noch als "Greta" bezeichnet, ist die Frage nach den ökologischen Auswirkungen neuer "Theorien" natürlich gerechtfertigt. Auch wenn die eigentliche "MMT" möglicherweise in Bezug auf Wachstum neutral ist, so zeigen die Verweise etwa auf die "goldene Lohnregel" an, dass da vermutlich doch unterschwellig von einer beständig wachsenden Volkswirtschaft ausgegangen wird. Für die neuzeitlichen Klima-"Retter" ist das schon ein Unding, da ja unübersehbar ist, dass wir in einer Vielzahl von Bereichen schon längst mehr Güter produzieren, als es die Ökologie diese Planeten verträgt (u.a. Plastik, Pestizide, Elektronikschrott und natürlich CO2).

Wer allerdings auf Basis dieser Gedanken ein generelles "Negativwachstum" fordert, liegt m.E. nicht richtig. Dazu zwei Beispiele:

Die Bundesrepublik des Jahres 2010 hatte eine 5-6-fach höhere Wirtschaftsleistung als das Deutsche Reich von 1910 (gemessen am BIP - siehe *5). Hätte man einen Ökonomen des Jahres 1910 gefragt, wie denn so eine Vervielfachung der Wirtschaftsleistung sicherzustellen wäre, so hätte er unzweifelhaft vor allem einen umfassenden Ausbau der Förder- und Transportkapazität für Kohle gefordert - also konkret neue Zechen, mehr Güterwaggons und Dampflokomotiven, neue Schienen und Ausbau der Wasserstrassen. Denn die Wirtschaft des Jahres 1910 war ohne Kohle nicht vorstellbar. Es wurden nach heutigen Maßstäben unvorstellbare Mengen von Kohle benötigt - für Lokomotiven, Stahlerzeugung, Heizung und natürlich auch Stromerzeugung. Offensichtlich funktioniert die heutige Wirtschaft aber im Wesentlichen *6 ohne Kohle, und niemand geht mehr davon aus, dass wir für 2% Wirtschaftswachstum auch 2% mehr Kohle fördern müssten.

Ein anderes Beispiel: Wenn wir für die rund 2000 Unternehmensberater der Firma Roland Berger ein neues Gehalt dekretieren könnten, dass auf der Höhe eines durchschnittlichen Kindergärtner/innen-Gehaltes läge, und gleichzeitig 2000 Kindergärtner/innen das durchschnittliche Unternehmensberater-Gehalt zukommen liessen, würde sich offensichtlich am Gesamt-BIP der Bundesrepublik nichts ändern.

Oder zusammengefasst: Natürlich behandelt die MMT genau wie die "konventioniellen" Wirtschaftstheorien zuallerst GELD-Werte. Und es ist Prof. Flassbeck zuzustimmen, dass eine wie auch immer "kapitalistisch" organisierte Wirtschaft ohne ein nominelles Wachstum dieser Geldwerte kaum vorstellbar ist. Was aber zunächst nichts darüber aussagt, was da konkret produziert oder eben nicht produziert oder welche Dienstleistung wie entlohnt wird. Wirtschaftswachstum "an sich" lässt sich ebensogut über die Herstellung von Windturbinen oder Kohlekesseln erzeugen *7. Der Bau von 100 Schulen mag genausoviel BIP-Zuwachs generieren wie der Bau einer Lenkwaffenfregatte, nur sind eben die - auch wirtschaftllichen - Folgen des Schulbaus ganz andere als der von Rüstungssteigerung.





8. Von der Wall Street zur Berliner Suppenküche

Ist die "Modern Monetary Theory" nun also richtig? Darüber kann und will ich gar kein Urteil fällen. Vermutlich würde es schon reichen, wenn sie "richtiger" wäre als die Konzepte, nach denen unsere nationalen und europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitiker handeln. Den Bürgern von Wörgl wird es damals ähnlich gegangen sein - ob sie alle die Ausführungen des Michl Unterguggenberger verstanden haben? Als sie damals das Experiment des Freigelds mitgetragen haben, dann hätte man ihre Überlegungen wohl auch so fassen können: "Etwas besseres als den (ökonomischen) Tod finden wir überall!"

Vom "schwarzen Donnerstag" 1929 in New York *8, dem Beginn der (ersten?) Weltwirtschaftkrise, führt eine erstaunlich direkte Linie zum Januar 1933, der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Auch der Fernsehfilm veranschaulicht diese Verbindung: Je schlechter es in Wörgl zugeht, umso mehr Leute finden sich bei den Versammlungen der lokalen Nazis ein - aber je besser das Freigeld-Experiment läuft, umso weniger verfangen die Nazi-Parolen. Und am Schluss des Filmes wird es durch eine Überblendung deutlich gemacht: Die Strasse, über die die gerichtlich geschlagenen Unterguggenbergers liefen, wird schliesslich von riesigen Hakenkreuzfahnen gesäumt.

Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht 1-zu-1, weswegen auch hysterischer Alarmismus fehl am Platz ist. Aber die grosse Fluktuation von "links" nach "rechts", von "altbewährten" Parteien zu scheinbar über Nacht entstandenen Neugründungen (wer erinnert sich noch an die Piraten-Partei?) oder wieder zurück, ist auf jeden Fall Zeichen einer manchmal schon verzweifelten Suche der Wählerschaft (oder eben des Volkes) nach Auswegen aus einer sich verstetigenden ökonomischen und sozialen Krise.



(Juli 2019)




*1 Die Herren Ehnts und Paetz arbeiten an der Universität Hamburg, Herr Grunert an an den Berufsbildenden Schulen der Stadt Osnabrück.

*2 Herr Landmann lehrt an der Uiniversität Freiburg.

*3 Dass ausgerechnet das "westlich-liberale" Gesellschafts- und Wirschaftssystem, welches sich (meist unausgesprochen) für das modernste, realistischte und wissenschaftlichste System aller Zeiten hält, in seinem innersten Kern auf einem ausgesprochenen Glaubensartikel beruht, ist keine geringe Ironie.

*4 Die "goldene Regel" nach Prof. Flassbeck besagt, dass die Lohnabschlüsse eines Landes im Mittel immer um die Zielinflationsrate über der jeweiligen Produktivitätszunahme liegen müssen.

*5 Die entsprechenden Zahlen habe ich einer Veröffentlichung des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft in Kiel entnommen:

https://www.econstor.eu/bitstream/10419/124185/1/4938_zb_dtindaten_150714_online.pdf

*6 Von den genannten Bereichen spielt nur noch die Kohleverstromung eine grössere Rolle, die aber auch nach den bescheidenen Plänen der aktuellen Bundesregierung immer mehr abnehmen soll.

*7 Was sich der Ökonom von 1910 ebensowenig hätte vorstellen können: Eine Lkw-Ladung voller Tinte (für Computerdrucker) hat heute mehr Verkaufswert als die gleiche Tonnage von Silber (oder, nach anderen Quellen, sogar von Gold) - zwischen 2000 und 8000 Euro pro Liter.

*8 In Europa eher als "schwarzer Freitag" bekannt, vermutlich weil die Wirkung erst am Folgetag auf die europäischen Börsen duchschlug.




www.truthorconsequences.de

diesen Text als PDF laden/drucken