53 Jahre Boeing 737 - oder:

Die Dosis macht das Gift




1. Ein Erfolgsmodell

Schon in diesem Text aus dem Jahre 2016 ("2,9 - oder Passagierluftfahrt im 21. Jahrhundert") hatte ich auf die Erfolgsgeschichte hingewiesen, die das 1967 eingeführte Modell 737 für die Firma Boeing darstellt. Mittlerweile sind von den verschiedenen "Generationen" dieses Typ über 10'000 Exemplare verkauft worden, und ein Redakteur der Zeitschrift Flugrevue schrieb damals gar: "Mit Sicherheit fliegt die Boeing 737 in 60 Jahren noch!". Dabei meinte er natürlich nicht, dass die heute produzierten Exemplare dann noch im Dienst sein würden, sondern dass das Modell - wie in den vergangenen Jahrzehnten auch - durch schrittweise Modifikationen auf dem aktuellen Stand der Technik und damit verkaufsfähig gehalten werden würde.

Im letzten Jahr haben jedoch fast alle Flugaufsichtsbehörden der letzten Generation der 737, der sogenannten MAX, die Flugzulassung entzogen. Dieses "grounding" wurde notwendig, nachdem zwei Abstürze von MAX-Modellen *1 auf einen grundlegenden Konstruktionsfehler bzw. dessen unzureichende "Reparatur" zurückzuführen waren.

Mittlerweile sehen die Aussichten auf eine Wiederzulassung, von Boeing zunächst binnen kürzester Frist angekündigt, recht düster aus - vom Jahresende 2020 ist die Rede. Manche Kommentatoren meinen sogar, dass Boeing sich vom "Markennamen" 737 besser ganz verabschieden solle, da "niemand mehr in eine 737-MAX einsteigen" wolle.

Es sind also nicht nur die vielen Todesopfer der beiden Abstürze zu beklagen. Die Firma Boeing hat nun, neben den wirtschaftlichen Verlusten, auch einen erheblichen Reputationsschaden zu verbuchen.



2. Die Traditionsfirma

Boeing ist seit über 100 Jahren im Flugzeugbau aktiv und hat seitdem eine Unzahl an zivilen und militärischen Flugzeugen konstruiert und in die Luft gebracht. Im zivilen Bereich vielleicht das einflussreichste Design war die 1959 auf den Markt gebrachte 707. Sie war zwar nicht das erste Passagierflugzeug mit den damals neuen Strahltriebwerken *2 , aber es wurden gleichzeitig Merkmale eingeführt, die in der Folgezeit sozusagen der Standard im Passagierflugzeugbau wurden:

- stark gepfeilte Tragflächen

- ein, von relativ kurzen "Endstücken" abgesehen, kreisrunder Rumpf konstant gleichen Durchmessers

- Triebwerke in einzelnen, mittels Pylonen unterhalb der Tragfläche angebrachten Gondeln

Zusammengenommen sorgten diese Details dafür, dass nicht nur die gewünschten technischen Parameter (Nutzlast, Geschwindigkeit, Reichweite etc.) erreicht wurden, sondern die Fertigung kostengünstiger (Rumpfform) und auch die Wartung der Triebwerke (wegen der gut zugänglichen Gondelanordnung) wirtschaftlicher wurde *3.

Das machte Boeing dann für viele Jahre zum Marktführer, die Maschinen mit dem "7x7"-Namen wurden fast gleichbedeutend mit "Jet Travel" an sich. Wie tadellos der Ruf der Firma war, mag eine Szene aus einem Spielfilm von 1969 ("Airport") beleuchten: Am Ende des Films betrachten Crew und Flugplatzleitung das von einer Sprengladung in den Heckbereich einer 707 gerissene riesige Loch. Trotzdem hatte das Flugzeug sicher landen können, und der von George Kennedy gespielte Ingenieur darf sagen: "Bedankt euch bei den Leuten von Boeing, die euch so ein robustes Flugzeug gebaut haben!"

Das ist natürlich nur Fiktion, aber zeigt das grosse Vertrauen, das man damals in diese Firma setzte. Und es gab ja auch genügend Beispiele aus der realen Welt, wo Flugzeuge trotz heftiger Beschädigungen flugfähig blieben, wie etwa die 1988 als "Cabrio Boeing" bekannt gewordene 737 der Aloha-Airlines (siehe Wikipedia-Artikel).

Die Unfälle, die zum "Grounding" der MAX führten, haben allerdings das Zeug, diese Reputation dauerhaft zu beschädigen. Wie konnte es dazu kommen? Schauen wir uns doch einmal ein frühes Modell und eines der fraglichen 737-MAX8-Modelle etwas näher an *4.







Schon bei der frühen 737-200 der Lufthansa fällt das recht kurze Fahrwerk auf, was aber beim damaligen schlanken Turbojet-Triebwerk offenbar kein Problem darstellte. Bei der MAX8 der AirItaly scheinen sich dagegen die voluminösen Turbofan-Triebwerke nur noch eine Fussbreit über der Fahrbahn zu befinden. Laienhafterweise könnte man zum Schluss kommen, dass das Fahrwerk Ursache der Probleme war. Erstaunlicherweise liegt man damit garnicht so falsch, wie die bisherigen Untersuchungsergebnisse zeigen. Aber der Reihe nach...



3. Was nicht passt, wird passend gemacht...

Im Lastenheft der MAX war ein zentraler Punkt der Einbau der neuesten Triebwerke von CFM *5 mit dem etwas anmassenden Namen LEAP. Ein "grosser Sprung für die Menschheit" *6 sind diese Triebwerke zwar sicher nicht, aber sie setzen den Trend der letzten Jahre hin zu höherem "Nebenstromverhältnis" und damit höherer Treibstoffeffizienz und weniger Lärmentwicklung konsequent fort. Dass gleichzeitig die weiteren Parameter des Flugzeugs (Nutzlast, Reichweite etc.) möglichst nicht schlechter werden sollten, versteht sich von selbst.

Das CFM LEAP hat aber einen rund 20cm grösseren Durchmesser als das Vorgängertriebwerk und hätte damit beim besten Willen nicht mehr am bisherigen Pylon unter die Tragfläche gepasst.

Was hätte ein Boeing-Ingenieur der 1950-60er oder 70er Jahre angesichts dieser Sachlage vorgeschlagen? "Wir müssen das Fahrwerk verlängern, damit wir wieder ausreichend Bodenabstand gewinnen!"

Freilich hätte es auch damals schon Einwände gegeben: Das verlängerte Fahrwerk hätte das Eigengewicht erhöht und damit die Nutzlast verringert. Die verlängerten Fahrwerksstreben hätten wiederum vermutlich grössere Fahrwerksschächte erfordert, und diese hätten den Raum für Gepäck oder Treibstoff reduziert.

Im 21. Jahrhundert hatten die Ingenieure eine andere Lösung: Wie auf dem Foto zu erkennen, wurde das Triebwerk deutlich nach vorne und etwas höher positioniert, so dass der obere Rand des "fans" nunmehr fast auf gleicher höhe wie die Flügelvorderkante liegt.

Das unmittelbare Platzproblem war dadurch gelöst, aber man hatte sich unvermittelt zwei andere Probleme eingehandelt: Problem 1 war noch einfach anzugehen – die geänderte Gewichtsverteilung lässt sich i.d.R. durch Trimmen ausgleichen. Wichtiger aber war der aerodynamische Effekt: Bei hohen Anstellwinkeln lieferten die vorgelagerten Triebwerksgehäuse deutlich Auftrieb. Nun ist Auftrieb bei einem Flugzeug prinzipiell eine gute Sache - das ist es schliesslich, was das Konglomerat aus Metall und Kunststoff in der Luft hält.

In dieser Fluglage allerdings (hoher Anstellwinkel) und an diesem Ort (mit einem Hebel vor der Tragfläche wirkend) war das höchst unerwünscht: Das Flugzeug neigt dann dazu, den Anstellwinkel noch mehr zu erhöhen, bis die Strömung abreisst und schlagartig gar kein Auftrieb mehr da ist - der klassische "Stall", den es unbedingt zu vermeiden gilt.



4. Ein neues Flugzeug

Man hatte also ungewollt ein Luftfahrzeug mit mindestens im Grenzbereich gänzlich anderen Eigenschaften konstruiert als die bisherige, als gutmütig bekannte 737. Die Verkaufsabteilung hatte aber diese neue Generation genau mit dem Argument verkaufen wollen, dass die bisherigen 737-Piloten keine neue Musterprüfung würden ablegen müssen - für die Airlines ein gewichtiges Kostenargument.

Aus dieser Zwickmühle sollte, wie heutzutage leider allzu üblich, ein Stückchen kostengünstiger Software heraushelfen. Denn heutige Passagierflugzeuge werden meist mit "fly-by-wire"-Systemen betrieben, bei denen Computer ohnehin alle Piloteneingaben auf ihre "Zulässigkeit" prüfen und gegebenenfalls modifizieren oder ignorieren. Das neue Stückchen Software bekam den harmlosen Namen "Maneuvering Characteristics Augmentation System" oder MCAS *7 verpasst und regelte im Normalfall Trimmung und weitere Parameter so, dass dem Piloten der "Vogel" wie sein altbekanntes Vorgängermodell vorkam. Im Extremfall allerdings sollte es, durch entsprechende Ruderausschläge, die Stall-Gefahr durch "Nase-runter"-Kommandos abwenden. Allerdings hatte man bei Boeing, vermutlich auch aus Kostengründen, die Zahl der dafür abgefragten Anstellwinkelsensoren *8 standardmässig auf einen reduziert. Dies widerspricht eigentlich allen Regeln, die man bisher, auch aus leidvollen Erfahrungen, hergeleitet hatte - dass nämlich immer mindestens zwei Sensoren Werte liefern und bei hohen Abweichungen derselben die Elektronik dann statt Steuerungsmassnahmen eine Warnung liefern soll *9.

Zynisch formuliert war dann das "Sahnehäubchen" dieser Mimikri-Strategie, dass man die Piloten bei den Kurzeinweisungen nach Möglichkeit nicht auf das MCAS und seine (im Fall der Fälle wesentliche) Wirkungsweise hinwies. Tatsächlich sollen diese Einweisungen oft nur aus Simulationsprogrammen auf Tablet-PCs (!) bestanden haben...

Schwere Fehler sind also bei der Entwicklung der "MAX" gemacht worden. Die "pros" und "cons" wurden, wie wir inzwischen aus bekanntgewordenen internen Unterlagen wissen, durchaus auch innerhalb der Firma erörtert. Die gefundenen "Lösungen" wurden von einigen Ingenieuren folgerichtig als hochproblematisch erkannt. Ein Satz aus diesen eMails wurde inzwischen vielfach zitiert, auch von der Wochenzeitung TIME: "This airplane is designed by clowns, who in turn are supervised by monkeys."

Nun zu glauben, dass - wenn man nur alle "clowns" und "monkeys" feuert - alles sich wieder zum Besseren wenden würde, ist aber m.E. naiv.



5. Exkurs: Die Dosis macht das Gift

Der Normalbürger, nach "giftig" oder "ungiftig" gefragt, wird schnell und eindeutig Beispiele für beide Rubriken nennen können: Brot und Milch sind ungiftig, das von der Krimiautorin Agatha Christie so gern in ihre Mordgeschichten eingebaute "Zyankali" ist giftig, genauso wie Methylalkohol oder Abbeizerlauge.

Biologen oder Toxikologen aber lernen früh den Merksatz "Die Dosis macht das Gift." So ist in den meisten Haushalten genügend Kochsalz vorrätig, um einen Menschen umzubringen (es ist nur nahezu unmöglich, jemandem die dafür notwendige Menge auch einzuverleiben). Auch mit harmlosen Trinkwasser kann man jemanden umbringen - die hierfür benötigte Menge ist zwar sehr hoch, aber in den USA mit ihrer unseligen Neigung zu "unterhaltenden" Essens- oder Trink-Wettkämpfen ist es schon zu Todesfällen aufgrund "Wasservergiftung" gekommen.

Umgekehrt umgeben wir uns oft mit hochgiftigen Stoffen, ohne uns in Gefahr zu wähnen: Wer mit offenen Flammen, ob am Holzofen oder mit Kerzen, hantiert, wird fast unweigerlich geringe Mengen Kohlenmonoxid einatmen, ohne dadurch zu (fühlbarem) Schaden zu kommen. Noch komplizierter wird es dadurch, dass wir manche "giftigen" Stoffe mit voller Absicht einnehmen, weil wir die Begleitumstände dieser "leichten Vergiftungen" als zumindest subjektiv angenehm empfinden. In den meisten Industrieländern dürfte das häufigste "Genussmittel" dieser Art Alkohol sein. Ohne alkoholhaltige Getränke ist etwa in der Bundesrepublik eine gesellige Veranstaltung schwer denkbar.

Dass Alkohol trotzdem hohes Vergiftungspotential hat, erfahren die Ärzte und Pfleger unserer Krankenhäuser regelmässig, wenn wieder jemand mit akuter Alkoholvergiftung eingeliefert wird. Trotzdem wird niemand dem Normalbürger das Feierabendbier oder das Glas Wein zum gepflegtem Essen verbieten wollen, weil "Kampftrinker" sich mit denselben Stoffen ins Koma trinken. Die Dosis macht eben den Unterschied!



6. Eine gewagte Metapher?

Boeing war und ist eine private Firma und fertigt seine Flugzeuge noch immer überwiegend in den USA, einem Land, das sich oft selbst als Bannerträger des Kapitalismus versteht. Nie gab es in diesem Land in den letzten 100 Jahren eine ernsthafte Gefahr, dass das kapitalistische System etwa zugunsten einer Form von Sozialismus aufgegeben werden würde. In diesem Umfeld ist es Boeing (ein Marxist würde sagen: trotzdem!) jahrzehntelang gelungen, kontinuierlich moderne Flugzeuge in hoher Qualität zu konstruieren und zu fertigen. Wenn das MAX-Debakel ein Zeichen ist, dann dafür, dass sich in den letzten Jahren etwas Wesentliches in der Firma oder dem Land oder beidem verändert hat.

Betrachten wir doch "den Kapitalismus" einmal versuchshalber nicht als komplexes Wirtschafts- oder Gesellschaftssystem, sondern denken wir ihn uns als eine Art "Gift", welches je nach Dosis verschiedenen auf die betroffenen Gesellschaften wirkt (Gesellschaft hier sowohl im soziologischen als auch im handelsrechtlichen Sinne gemeint). Könnte es sein, dass "der Kapitalismus" unterhalb einer gewissen "Dosis" wenig Einfluss auf die Struktur und das Funktionieren der Gesellschaften hat? Könnte ein gewisses Mass, ähnlich dem "zivilisierten" Alkoholkonsum, durchaus als Stimulans wirken - ähnlich wie das Singen von Arbeitsliedern in früheren Zeiten die Produktivität erhöhte?

Und wenn wir die Metapher weiter treiben, müsste eine zu grosse Dosis dann nicht ein Umschlagen ins Schädliche, gar Zerstörerische bewirken?

Bezogen auf das 737-MAX-Desaster wäre mein Erklärungsversuch wie folgt:

Die simple, das ursächliche Problem am wirkungsvollsten behebende Lösung, nämlich die Verlängerung des Fahrwerks, wäre meines Erachtens von der Boeing Corp. noch in den 1970er Jahren umstandslos angegangen worden. Und zwar nicht deshalb, weil die weiteren Sophistereien wie das MCAS damals noch nicht zur Verfügung standen, sondern weil in der "ingenieurs-getriebenen" damaligen Unternehmenskultur das Wort der Ingenieure ungleich höheres Gewicht gehabt hätte als die natürlich auch damals schon vorgebrachten Einwände ökonomischer Art. Trotz der absehbaren ökonomischen Nachteile hätte man, der Ingenieurseinschätzung vertrauend, diese Änderung umgesetzt: "Das müssen wir halt machen".

In der Boeing Corp. des 21. Jahrhunderts sind aber offenbar ökonomische Argumente zur alles übersteuernden Maxime geworden: Es muss "wirtschaftlich" sein, die Kosten müssen - sowohl für die eigene Firma als auch für die die Flugzeuge abnehmenden Airlines - unbedingt gesenkt werden. Lieber den Kunden etwas vorspiegeln, was es so garnicht mehr gibt (die "gutmütige", "alte" 737), als möglicherweise Marktanteile an die Konkurrenten abgeben. Der Aktienmarkt hatte diesen Kurs offenbar honoriert: Im Zeitraum 2011-2019, in welchem Boeing rund 1200 Ingenieure entliess, stieg der Kurs der Aktie stetig an.

In einem anderen Text (Buchbesprechung "Bernd wird Flugkapitän") hatte ich mich an einer groben Einteilung der Luftfahrtgeschichte in "Epochen" versucht. Der als "zweite heroische Periode" bezeichneten Nachkriegszeit mit ihren diversen Rekordversuchen hatte ich die "Jet-Set-Periode" der 1960-1970er Jahre folgen lassen. Die heutige Zeit aber hatte ich als "Ära der Kosten-Controller" beschrieben. Und vermutlich waren an allen Entscheidungspunkten der tragischen MAX-Geschichte eben jene Kosten-Controller die Ausschlaggebenden.



7. "Affen" als Supervisor?

Der erwähnte Satz des Boeing-Angestellten von den "clowns" und "monkeys" führt auch zur Frage, wer denn da letztendlich als "supervisor" tätig war. Nach einigen Berichten war nämlich von der Federal Aviation Authority (FAA) im Laufe der letzten Jahre immer mehr Zuständigkeit an die Hersteller übertragen worden, d.h. die Hersteller waren in vielen Bereichen zu ihren eigenen Aufsehern geworden. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass im stetigen Bemühen um einen "schlanken Staat" auch der FAA - zumindest im Verhältnis zum ansteigenden Arbeitsvolumen - weniger Mittel zur Verfügung standen. Umso eher war man wohl bereit, Kompetenzen an die Firmen abzugeben - nach dem Motto "Unsere Schreibtische quellen doch schon über, lass doch diese Kleinigkeit die Jungs von Boeing selber kontrollieren". Mindestens jenes Detail, dass das MCAS die Werte zum Anstellwinkel von einem einzigen AoA-Sensor bezog, hätte aber von der FAA nie abgesegnet werden dürfen. Hier beginnt auch der Bereich, wo vermutlich von "criminal negligence", also krimineller Nachlässigkeit, gesprochen werden muss.

Übrigens hat sich da auf einer anderen Ebene das wiederholt, was sich schon bei der Aufklärung der Challenger- Katastrophe *10 gezeigt hatte: Auch dort hatte die staatliche NASA aus Geldmangel immer mehr Kontrollfunktionen an die "contractors" selber delegiert. Am Ende hatten diese dann Systeme für flug- bzw. startfähig deklariert, bei denen begründete Zweifel an der Eignung bestanden *11.



8. Vom "stimulierenden" Kapitalismus zum "giftigen" Oekonomismus

Die Metapher vom Kapitalismus als einem in geringen Dosen "stimulierenden" Agens, welches in höherer Dosis giftig wirkt, fordert natürlich die Frage heraus, wo diese Schwelle denn liegt bzw. ab wann der Umschwung erfolgt.

Dies wird vermutlich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sein (und auch hier "Gesellschaft" wieder sowohl im soziologischen als auch im handelsrechtlichen Sinne gemeint).

Für die Boeing Corp. würde ich den Wendepunkt am Datum des Umzuges des Firmensitzes von Seattle (dem Haupt-Produktionsstandort) nach Chicago (bis dato nur Verkaufsbüros) im Jahre 2001 festmachen wollen. Das war die Abkehr vom Credo der Firmengründer, die jederzeit im Blicke haben wollten, was in den Produktionhallen lief oder eben schief lief, hin zu einem auf Marketing, Verkauf und Controlling ausgerichteten Managementapparat.

Für deutsche Firmen war vermutlich die Kampfansage der Schröder-Fischer-Regierung von 1999 an die vorgeblich veraltete "Deutschland-AG" der Wendepunkt. Mit verschiedenen Gesetzesänderungen wurde ausländichen "Investoren" der rote Teppich ausgerollt, mit dem Ergebnis, dass in einem Grossteil der deutschen DAX-Konzerne heute die grossen US-Investmentkonzerne wie BlackRock oder State Street das Sagen haben. Ein guter Indikator auf Firmenebene ist auch das Verschwinden von "hausgemachten", mit einer Fachausbildung im jeweiligen Geschäftsbereich aufwartenden Personen aus den Vorständen der jeweiligen Konzerne. So waren die Chefs der grossen deutschen Chemiekonzerne früher fast ausnahmslos selber Chemiker, bevor sie in den Vorstand berufen wurden. Heutzutage haben die Vorstände in der Regel nur noch Management- oder Finanz-Ausbildungen hinter sich. Noam Chomsky hat den gleichen Vorgang (das Verschwinden der fachlich ausgebildeten Vorstände) auch für die USA konstatiert.

Bei Boeing war der jetzt zurückgetretene Vorsitzende Muilenburg zwar noch "vom Fach", seine Vorstandskollegen aber in der Mehrzahl nicht mehr. Dass unter diesen neben dem "obligatorischen" ex-Blackrock-Mann ein ex-Navy-Admiral und mit Nikki Haley (der früheren UNO-Botschafterin der USA) eine prominente ex-Politikerin zu finden sind, betont noch einmal die enge Vernetzung von wirtschaftlich-militärisch-industrieller und politischer Macht in den USA.

Global gesehen war der wichtigste Impuls für den Übergang zum "giftigen" Oekonomismus sicherlich der Untergang der "realsozialistischen" Staaten des sogenannten "Ostblocks" nach 1989. Der Notwendigkeit beraubt, auch sozial eine Alternative zum marxistischen System aufzubauen, fanden die Propagandisten des Neo-Liberalismus immer mehr Unterstützung, auch durch die vielfach in Selbstgefälligkeit erstarrten Politikerkasten.



8. Wenn das Sterben keinen Sinn hat

Die Opfer von Flugzeugabstürzen werden oft im Wortsinne "aus dem Leben gerissen", entsprechend ist für die Angehörigen der Verlust meist schwer zu verkraften. Sicher ist es für sie bestenfalls ein schwacher Trost, dass die dafür zuständigen Behörden *12 nach solchen Unfällen viel Energie, Zeit und oft auch Geld investieren, um möglichst eindeutig die Ursache (oder Ursachen) für den Unfall zu bestimmen und, darauf aufbauend, Änderungen bei Konstruktion, Wartung oder anderen Regeln anordnen, damit sich die untersuchte Katastrophe nicht noch einmal wiederhole.

Insofern war der Tod der betroffenen Menschen dann nicht vollkommen sinnlos, indem er die Voraussetzung zur Vermeidung weiterer Opfer schafft. Sogar die 176 Opfer der am 8. Januar von iranischen Luftabwehrraketen getroffenen ukrainischen Boeing *13 sind in diesem Sinne nicht ganz sinnlos gestorben, da man davon ausgehen kann, dass die iranischen Militärs und regierenden Politiker bei der nächsten ähnlichen Aktion *14 zivile Flugbewegungen entweder ganz untersagen oder mindestens genauestens verfolgen werden, um ein ähnliches Desaster zu vermeiden.

Leider gibt es im Falle der bei den beiden 737-MAX-Abstürzen ums Leben gekommenen Menschen noch nicht einmal diesen Trost. Denn eigentlich waren dies "Katastrophen mit Ansage", Ereignisse, die nur darauf warteten, zu geschehen.

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In seinem Lehrschreiben Evangelii Gaudium soll Papst Franziskus recht eindeutige Worte zur Wirkung der heutigen Wirtschaftschaftsordnung gefunden haben: "Diese Wirtschaft tötet." Die Opfer der 737-MAX-Abstürze muss man wohl auch zu "Kollateralschäden" dieser zum Oekonomismus gesteigerten Wirtschaftsordnung zählen.



(Januar 2020)



Fussnoten:


*1 Eine 737-MAX8 der Lion Air stürzte am 29.10.2018 kurz nach dem Start in Jakarta in die Java-See, eine Maschine gleichen Typs der Ethiopian Airlines stürzte ebenfalls kurz nach dem Start in Addis Abeba am 10.03.2019 in der Nähe des Flugplatzes ab.

*2 Die erste seriengefertigte Passagiermaschine mit Strahltriebwerken war die De Havilland DH.106 COMET von 1949 (Erstflug) bzw. 1952 (Indienststellung bei der BOAC).

*3 Man vergleiche etwa die Röhrenform des 707-Rumpfes mit der von Luftfahrtliebhabern hochgeschätzten Lockheed Constellation bzw. Super Constellation, deren besondere Eleganz auch durch die geschwungene Rumpfform bedingt ist. Bei einer solchen ist aber fast jedes Segment etwas anders geformt, was die Fertigung generell teurer und eventuelle spätere Verlängerungen (die später so beliebten "Stretch"-Versionen) sehr aufwändig macht.

*4 Das Bild der AirItaly-Maschine wurde von Simone Previdi im Mai 2018 angefertigt, dasjenige der Lufthansa-Maschine im Oktober 1975 stammt von Ken Fielding (Attribution: Ken Fielding/https://www.flickr.com/photos/kenfielding). Wiedergabe erfolgt in beiden Fällen aufgrund der "Creative Commons"-Lizenz der Wikimedia. - - - Die dargestellte Lufthansa-Maschine hat für uns Deutsche übrigens einen besonderen historischen Bezug, ist es doch die "Landshut", deren mehrtägige Entführung samt schliesslicher Geiselbefreiung die BRD im Herbst 1977 in Atem hielt. Wer genau hinsieht, kann auf dem Foto auch den Schriftzug "Landshut" erkennen.

*5 CFM International ist ein Joint Venture der langjährigen Triebwerkshersteller General Electric (USA) und SNECMA bzw. SAFRAN (Frankreich).

*6 Der von Neil Armstrong beim erstmaligen Betreten der Mondoberfläche 1969 geäusserte Satz "A small step for man, a giant leap for mankind!" war von ihm durchaus nicht spontan, sondern vorher wohlüberdacht formuliert worden. In der Rückschau kann man sich fragen, ob das Mondlandeprogramm nun wirklich so ein "gigantischer Sprung für die Menschheit" war. Für Jugendliche wie mich war es damals aber auf jeden Fall "das grösste Ding überhaupt". Weswegen ich den Namen LEAP für das sicherlich wohlkonstruierte, aber keineswegs revolutionäre Triebwerk der CFM dann doch für anmassend halte.

*7 Im Wikipedia-Artikel zur 737-MAX wird zum MCAS wie folgt ausgeführt: "Die größeren und weiter nach vorne versetzten Triebwerksgehäuse der MAX-Versionen erzeugen bei hohen Anstellwinkeln (um 14°) selbst so viel Auftrieb, dass den Piloten die Kontrolle über die Fluglage erschwert und durch eine weitere Erhöhung des Anstellwinkels ein Strömungsabriss wahrscheinlicher wird.[63] Deshalb führte Boeing das Trimmsystem Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) ein, welches kritische Situationen durch Reduzierung des Anstellwinkels verhindern soll. Dieses System war bereits zuvor in der KC-46A, einer Militärversion der Boeing 767, verwendet worden. Für die 737 MAX wurde das System vereinfacht, so dass es u. a. nur einen Geber (statt zwei bei der KC-46A) für den Anstellwinkel (AoA) benutzt. Als die Änderung der FAA zur Genehmigung vorgestellt wurde, betrug der einzelne Eingriff des MCAS 0,6°, bei dem später tatsächlich gelieferten Design waren es 2,5° (bei 5° Vollausschlag) mit sich endlos wiederholenden Eingriffen alle 10 Sekunden. Um die Umschulung von NG-Piloten auf die MAX-Modelle zu erleichtern, soll Boeing das MCAS und seine Funktionsweise verschwiegen haben. Nach Angaben von Piloten wurde es nicht in Handbüchern erwähnt und somit auch nicht seine Deaktivierungsmöglichkeiten."

*8 So ein Anstellwinkelsensor oder AoA-Sensor (für "Angle of Attack") ist zumindest vom Prinzip her ein überraschend simples Ding - eigentlich nicht mehr als ein auf einer leicht drehbaren Scheibe angebrachtes "Fähnlein im Wind". An der Seitenwand des Rumpfes an einer möglichst turbulenzfreien Stelle angebracht, meldet er bei normalem Geradeausflug 0 Grad. Wenn etwa im Steigflug beim Start die Luft nicht mehr in der Fluzeuglängslinie vorbeiströmt, werden positive Werte angezeigt. Die einfache Kontruktion ist aber auch leicht durch Verschmutzung oder Vereisung zu stören.

*9 Offenbar konnte man sowohl einen zweiten AoA-Sensor als auch die Differenzen-Warnmeldung als Aufpreis-Extra ordern. Die beiden abgestürzten Maschinen hatten diese Zusatzausrüstung nicht. - Man könnte meinen, dass die Nachrüstung auf Zweifach-AoA-Sensoren die einfachste Massnahme wäre, um wieder eine Flugzulassung zu erreichen. Der immer weiter hinausgeschobene Termin für eine mögliche Wiederzulassung deutet aber darauf hin, dass es damit allein nach (jetziger) Ansicht der FAA nicht getan zu sein scheint.

*10 Der sogenannte Space Shuttle mit dem Namen "Challenger" zerbrach mit nachfolgender Explosion im Januar 1986 keine 2 Minuten nach dem Start - vor den Augen nicht nur von Millionen Fernsehzuschauern, sondern auch zahlreich nach Cape Canaveral eingeladenen Ehrengästen.

*11 Die nachfolgende Untersuchung, an der auch der Nobelpreisträger Richard Feynman beteiligt war, musste erhebliche Widerstände sowohl aus NASA-Kreisen als auch seitens der diversen "contractors" überwinden. Der Spielfilm "The Challenger" aus dem Jahre 2013 über diese Untersuchung ist informativ und mit William Hurt eindrucksvoll besetzt. Einen tiefen Einblick in die lange Vorgeschichte des Unglücks, aber auch in das komplizierte Geflecht der Beziehungen zwischen NASA-Behörde, Raumfahrt- und Rüstungsindustrie und der Washingtoner Politikszene liefert das Buch "Prescription for Disaster" von Joseph J. Trento (ISBN 0-517-56415-7).

*12 In den USA sind die FAA (Federal Aviation Authority) und das CAB (Civil Aeronautics Board), in der BRD das Luftfahrt-Bundesamt (LBA) und die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) dafür zuständig.

*13 Diese Boeing war (zufällig) vom Typ 737-800, ein Zeichen der weltweiten Verbreitung der 737-Reihe. Zu diesem und anderen Luftfahrtunfällen finden sich im "Aviation Safety Net" recht informative Zusammenfassungen (auf englisch), so auch zu den drei hier behandelten Ereignissen:

https://aviation-safety.net/database/record.php?id=20181029-0 (Lion Air)

https://aviation-safety.net/database/record.php?id=20190310-0 (Ethiopian Airlines)

https://aviation-safety.net/database/record.php?id=20200108-0 (Ukraine International Airline)

*14 Die USA hatten am 3. Januar den iranischen General Kassem Suleimani samt Begleitern per Drohnenschlag auf irakischem Territorium ermordet, woraufhin die iranische Führung einen Vergeltungsschlag androhte. Dieser erfolgte in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar in Form von Raketenangriffen auf US-Stützpunkte im Irak (ohne gemeldete Opfer). Entsprechend war die iranische Luftabwehr in höchster Alarmbereitschaft, da ein Vergeltungs-Vergeltungsschlag hoch wahrscheinlich war. Den eigenen Luftraum für alle zivilen Bewegungen zu sperren wäre, wie man jetzt sagen kann, richtig gewesen. Aber es ist (leider) gut nachvollziehbar, warum das iranische Militär dies damals nicht tat - eine solche Aktion, die man ja mindestens mehrere Stunden vor dem Inkrafttreten hätte öffentlich ankündigen müssen, wäre ein klares Signal an den "Feind", eben die USA, gewesen, dass da eine militärische Aktion stattfinden wird. Und diese hätten dieselbe dann etwa durch Bombardierung der iranischen Raketenstellungen vereiteln können.




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