Zweimal "Mord im Orientexpress"

Verfilmungen des Agatha-Christie-Krimis im Vergleich




1. Sendeplanerischer Zufall

Agatha Cristies' berühmte Erzählung "Mord im Orientexpress" ist mehrfach verfilmt worden, zuletzt 2017 von Regisseur Kenneth Branagh. Der sendeplanerische Zufall bei ARD und ZDF führte dazu, dass man am 31.Mai in ZDF neo die Kinofassung von 1974 und kurz danach, am 3. Juni, auf ARD one die TV-Fassung von 2010 anschauen konnte.

Gelegenheit also für einen Vergleich der beiden Umsetzungen, wobei ein Vergleich zwischen Kino- und TV-Produktionen fast immer etwas unfair ist. Denn in der Regel wird die Kino-Produktion ein deutlich höheres Budget zur Verfügung haben, was gleich eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt: Ausstattung, Technik, Besetzung und vieles mehr können opulenter ausfallen als bei den "Vettern" vom TV-Geschäft. Und oft haben Kino-Produktionen am Ende auch eine höhere Lauflänge als die TV-Pendants, was in Letzteren oft Kürzungen in Plot oder Exposition bedingt.

Auch bei unseren Vergleichskandidaten war dieses Ungleichgewicht sicher gegeben. Der Kinofilm von 1974 versammelt unter der Regie von Sidney Lumet eine Riege Weltstars als Darsteller; neben Albert Finney in der Hauptrolle als Hercule Poirot glänzen u.a. Ingrid Bergman, Sean Connery, Anthony Perkins, Sir John Gielgud und Lauren Bacall. Und obwohl es doch von der Geschichte eher ein Kammerstück ist, kann sich das Auge an Aussenaufnahmen des Bosporus oder verschneiten winterlichen "Balkan"-Landschaften erholen.

Der TV-Film von 2010 ist dagegen Teil einer von 1998 bis 2013 vom englischen Fernsehen produzierten Reihe unter dem Sammeltitel "Agatha Christie's Poirot", die in 70 Folgen wohl alle entsprechenden Geschichten auf den Fernsehschirm brachte. Hier wird der Meisterdetektiv Poirot von David Suchet dargestellt, und anhand anderer gesehener Episoden aus der TV-Reihe würde ich behaupten, dass er sich keinesfalls hinter den berühmteren Poirot-Darstellern wie Albert Finney oder Peter Ustinov zu verstecken braucht.

Und gerade diese TV-Produktion hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, auch wegen des hohen Ausstattungs-Aufwandes, der sorgfältigen Umsetzung und der guten schaupielerischen Leistungen.

Freilich, den Nachteil der kürzeren Lauflänge hat auch diese Episode - 89 Minuten im TV-Format lassen "weniger Platz" als die 131 Minuten des Kinofilms. Abgesehen von Barbara Hershey sind in dieser Episode keine Weltstars auf der Besetzungsliste *1 . Dem deutschen Zuschauer fällt in dieser Liste (siehe am Ende dieses Textes) vermutlich nur die allzu früh verstorbene Susanne Lothar (als Zofe bzw. Köchin "Frau Schmidt") auf.



2. Die Stimmung

Im Gegensatz zu anderen Episoden der TV-Reihe fällt an der "Orientexpress"-Folge schon am Beginn eine eigenartig düstere Stimmung auf. Jenes Gespräch zwischen dem Liebespaar Debenham-Arbuthnot , welches Poirot in beiden Versionen zufällig belauscht, findet im Kinofilm an Bord einer auf die Abfahrt wartenden Bosporus-Fähre statt - im TV jedoch in einer Istanbuler Gasse, die Poirot zufällig durchschlendert. In der TV-Fassung werden gleich darauf alle drei späteren Bahnreisenden Zeuge einer scheusslichen Szene: Eine türkische Frau flieht vor Ihrem prügelnden Mann, der sie des Ehebruchs bezichtigt, und wird dann von einer aufgebrauchten Menge mit Steinen beworfen (möglicherweise tödlich, das bleibt unklar). Miss Debenham ist ausserordentlich entsetzt und aufgebracht darüber, wird aber von Poirot zurechtgewiesen, der erklärt, dass man sich unbedingt an das Gesetz halten müsse, auch wenn es einem in einem fremden Land nicht verständlich sei.

Auch die von Poirot am Ende der Geschichte wie üblich vor der Versammlung aller Mordverdächtigen präsentierte Auflösung des Falles (oder hier der zwei Auflösungen) findet zwar hier wie dort im Restaurantwagen statt, aber in gänzlich anderer Stimmung: Im Kinofilm ist der Waggon lichtdurchflutet bei offensichtlich voll funktionierender Heizung und Beleuchtung, während im TV-Film ein angeblicher elektrischer Defekt *2 alle Gäste frierend und im nur mit Kerzen spärlich beleuchteten Raum Poirots Ausführungen folgen lässt.

Und während der Kinofilm fast schon heiter mit einem Sektumtrunk der von Poirot entlasteten Gruppe endet, stapft im TV-Film ein steifer Poirot mürrisch auf die Lokalpolizisten am Waldesrand zu, um die (angeblichen?) Beweismittel zu übergeben.

Sogar der später als skrupelloser Krimineller enttarnte Mr. Ratchett, das spätere Mordopfer, kommt im Kinofilm (in der Darstellung von Richard Widmark) recht glaubwürdig als reicher US-Amerikaner daher, und seine Konversation mit Poirot folgt den Konventionen, wie man sie unter Erster-Klasse-Passagieren des Orientexpress' erwarten mag. Im TV-Film dagegen wirkt der Charakter schon durch seine Physiognomie so schmierig, dass man nur halb erstaunt ist, wenn Poirot trotz des von Ratchett für Leibwächter-Dienste reichlich angebotenen Geldes diesem nur den Rücken zuwendet. Jene Waffe, die Ratchett Poirot zum Beweis seiner Bedrohtheit zeigt, ist dann auch folgerichtig im Kinofilm eine elegante kleine goldplattierte Pistole, während der TV-Bösewicht offenbar einen alten schwarzen Armee-Revolver in den Kissen verbirgt.



3. Der Plot

Agatha Christie hat sich 1934, als sie den "Mord im Orientexpress" schrieb, offenbar vom damals aktuellen Kriminalfall der Entführung des Lindbergh-Babys 1932 inspirieren lassen. Im Roman wird das Kind des Ehepaares Armstrong, Daisy, von Unbekannten entführt und später, obwohl das Lösegeld bezahlt wurde, tot aufgefunden. Der unmittelbar Ausführende der Tat wurde gefasst, aber dem eigentlichen Hirn der Unternehmung, einem Berufsgangster namens Cassetti, gelingt die Flucht ausser Landes, wo er offenbar unter falschem Namen weiterlebt.

Fünf Jahre später findet sich Poirot mit rund einem Dutzend weiterer Reisender im Orientexpress wieder, genauer im Kurswagen nach Calais. Bis Belgrad scheint die Reise, abgesehen vom schon beschrieben Anwerbeversuch des vorgeblichen Kunsthändlers Ratchett, ohne besondere Vorkommnisse zu verlaufen. In der folgenden Nacht wird Poirot verschiedene Geräusche und Gesprächsfetzen hören, die noch bedeutsam sein werden. Am Morgen steht der Zug, aufgehalten durch eine Lawine oder Schneeverwehung, kurz vor Brod. Und der Butler des Mr. Ratchett entdeckt, nachdem er den Waggonschaffner Michel zu Hilfe gerufen hat, die Leiche seines Herrn im Bett. Der herbeigerufene Arzt Dr. Constantine zählt zwölf Messerstiche, die allerdings sehr unterschiedlich kräftig ausgeführt zu sein scheinen. Ausserdem gibt der Geruch des im Glase verbliebenen Restes des Schlaftrunks Anlass zur Vermutung, dass das Opfer vorher betäubt wurde. Weiter finden sich am Tatort drei nicht dem Opfer gehörende Dinge: ein Pfeifenreiniger, ein Taschentuch mit Monogramm "H" und ein abgerissener Uniformknopf. Ausserdem der Rest eines verbrannten Zettels.

Vom ebenfalls mitreisenden Direktor der Eisenbahnlinie *3 (Bianchi bzw. Bouc) heftig bedrängt, willigt Poirot ein, den Fall zu untersuchen, um den örtlichen Behörden möglichst ein "fait accompli" präsentieren zu können.

So setzt also Poirot seine berühmten "kleinen grauen Zellen" ein und widmet sich zuerst dem verbrannten Zettel. Mit einem Kniff gelingt es ihm, darauf das Fragment "aisy Arms" zu erkennen - und erinnert sich des spektakulären Entführungsfalles Daisy Armstrong. Aus Zeugenaussagen folgert er, dass Ratchett in Wirklichkeit der skrupellose Hintermann Cassetti gewesen sein muss, und seinen unfreiwilligen Mit-Ermittlern Bianchi und Constantine erklärt er, dass Ratchett/Cassetti eben nicht nur für den Mord an der kleinen Daisy, sondern eigentlich für vier weitere Todesfälle verantwortlich sei: Die damals schwangere Mrs. Armstrong erlitt durch den Schock eine Frühgeburt, das Kind starb. Daraufhin nahm sich erst Mrs. Armstrong, dann ihr Mann das Leben. Ebenfalls Selbstmord beging das Kindermädchen, welches zwischenzeitlich von der Polizei fälschlicherweise der Mitbeteiligung an der Entführung beschuldigt wurde.

Das Mitgefühl für den Erstochenen hält sich daraufhin auch bei Poirot sehr in Grenzen - war es nicht gut, wenn der Verbrecher - aufgrund welcher verschlungenen Umstände auch immer - einer Art ausgleichender Gerechtigkeit zugeführt wurde?



4. Ein Mörderkollektiv?

Den Grossteil des Films (in beiden Versionen) machen nun die Bemühungen Poirots aus, aus Befragungen der Mitreisenden mehr zum Tathergang und - fast noch wichtiger - zu den Beziehungen der Reisenden zur Familie Armstrong zu erfahren. Denn so scheinbar zufällig, wie es zunächst den Anschein hatte, sind die Personen des Kurswagens nach Calais nicht zusammengekommen.

Wie am Ende klar wird, hatten - bis auf die drei Aussenstehenden Poirot, Dr. Constantine *4 und Bianchi/Bouc - alle ein sehr persönliches Verhältnis zu den Armstrongs: als Patentante, als Mutter, als Schwester, als Regimentskamerad, als Vater des Kindermädchens, als Diener, als Chauffeur, als Köchin etc.

Und hier läuft der Poirot-Darsteller Albert Finney in der Kinofassung zu Hochform auf, zweifellos unterstützt von den hochkarätigen Darstellern der "Neben"-Rollen: Wie er dem schüchternen Mr. McQueen seine Verehrergefühle zu Mrs. Armstrong entlockt; wie er mit kühl kalkulierter Grobheit gegenüber Miss Debenham ihren Geliebten, Colonel Arbuthnot, zu einem Geständnis provoziert; wie er die Zofe der Gräfin geschickt zur Anerkennung ihrer früheren Tätigkeit als Köchin bringt; und wie er schliesslich die Ablenkungsversuche der Prinzessin Dragomiroff als solche enttarnt: "ausweichend, unglaublich ausweichend" donnert er.

Und in all dem wunderschöne Details: Die in den Mundwinkeln John Gielguds wahrzunehmende Verachtung des Butlers "Beddoes" für seinen kriminellen Herrn Ratchett oder der Kommentar desselben zu den Sprachkenntnissen seines Abteilkollegen "Foscarelli": "Er spricht eine Art von Englisch, ich glaube, er hat es in einer Stadt namens Chicago gelernt". Die von ausgesuchter Höflichheit bestimmte Konversation mit der exilierten russischen Prinzessin Dragomiroff: "Sie lächeln niemals, Madame le Princess?" - "Mein Arzt hat mir davon abgeraten."

Im Vergleich wirkt die TV-Version gerade hier farblos, tatsächlich habe ich dort z.B. permanent die Figur des Butlers (Beddoes bzw. Masterman in der TV-Version) mit der des Colonel Arbuthnot verwechselt. In der Kinoversion wäre das dank der überzeugenden Darstellungen Sean Connerys (als Colonel) und John Gielguds (als Butler) nicht möglich gewesen.

Auch die sonst so beeindruckende Susanne Lothar erscheint als Fräulein Hildegard fehlbesetzt: man kauft ihr mit ihrer eher asketisch schlanken Figur die leidenschaftliche Köchin einfach nicht ab, jedenfalls viel weniger als der korpulenteren Rachel Roberts in der Filmversion.



5. Finale

Zu den fast unverrückbaren Versatzstücken in den Poirot-Geschichten Agatha Christie's gehört die "feierliche" Auflösung der scheinbar verworrenen Spuren und Indizien durch den Detektiv, meist eben vor versammelter Runde der betroffenen und/oder tatverdächtigen Personen. Im "Orientexpress" leistet sich die Autorin den Luxus, gleich zwei Lösungen zu präsentieren: Einmal die "lapidare" Variante, in der ein Unbekannter mit der später aufgefundenen Schaffner-Uniform vermutlich in Belgrad den Zug bestieg, mit dem mitgebrachten Generalschlüssel Ratchett's Abteiltür öffnete und den Mord verübte, schliesslich unter Zurücklassung von Uniform und abgerissenem Knopf den zum Halt gezwungenen Zug verliess. Bei der Frage, wer denn dieser Unbekannte gewesen sein könnte, übernimmt Poirot die Vermutung von Foscarelli, der Ratchett spontan als "Mafioso" bezeichnet hatte: "un altro Mafioso".

Die andere, komplizierte Variante macht aus den 12 Reisenden ein Tat-Kollektiv: Nachdem McQueen die wahre Identität von Ratchett (also Cassetti) erkannt hat, informiert er die anderen. Unter der Führung von Mrs. Hubbard (Kinoversion) bzw. der Prinzessin Dragomiroff (TV) fällen Sie wie ein klassisches englisches oder amerikanisches Gericht ("...mit 12 Geschworenen, wie es sich gehört...") ihr Urteil und schmieden gemeinsam den Racheplan, der dann im Kurswagen nach Calais auch ausgeführt wird. In beiden Filman wird die Ausführung der Tat durch die 12 selbsternannten Richter dann auch als Rückblende geschildert, in der Kinoversion besonders eindringlich *5.

Schliesslich überlässt Poirot die Entscheidung, welche der beiden möglichen Tatversionen man der Polizei präsentieren solle, dem Direktor (Signor Bianchi bzw. Monsieur Bouc). Dieser entscheidet sich für die "einfache" Variante.



6. Blut und Geld

Frappierend auch der Unterschied bei der Darstellung des Tatorts: In der Kinoversion werden, erst nachdem der Arzt die unversehrte Bettdecke zurückschlägt, einige Blutflecken sichtbar - in der TV-Fassung scheint dagegen literweise Blut geflossen zu sein: Auf den Bettdecken, an den Abteilwänden und auf dem Boden - überall Blut.

Geld ist in der Kinoversion nur verbal ein Thema - zu sehen bekommt man es nie. Im TV-Stück dagegen reist der Gauner Ratchett/Cassetti mit reichlich Dollarbündeln im Gepäck. Ein Teil davon wird bei Ratchetts Versuch, Poirot als eine Art Leibwächter anzuheuern, sichtbar, aber eben von Poirot indigniert abgewiesen. Später erfahren wir den Grund für das viele Geld: Danach wurde Ratchett (eben von der Rächergruppe) erpresst und soll sich am Zielort Calais damit sozusagen "freikaufen". Und nachdem die blutige Tat ausgeführt ist, wird die TV-Prinzessin Dragomiroff das entwendete Geld in ihre Kleider einnähen lassen. Auch ein Punkt, der das Mörderkollektiv in der TV-Version wesentlich unsympathischer erscheinen lässt.

So haben wir zahlreiche Details, in denen die TV-Version deutlich andere Akzente setzt als die Kino-Produktion. Für sich genommen kein Grund, die Neuverfilmung abzuwerten. An anderer Stelle hatte ich schon erwähnt, dass man einem Film gewisse logische Fehler oder Motivations-Implausibilitäten nicht übelnehmen darf - im Gegensatz zur Schriftstellerei ist ja Film bzw. Fernsehen immer Teamarbeit, in die sich ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ideen einbringen. Auch nicht selten ist es, dass sich im Verlaufe der wochen- oder monatelangen Dreharbeiten die Akzente verschieben, so dass manche Szene aus den ersten Drehtagen nicht mehr so recht zu den späteren passen mag.

Bei einem guten Film jedoch bemerkt man solche Implausibilitäten nicht (zumindest nicht beim ersten Sehen), sondern der Erzählfluss trägt darüber hinweg. Genau hier ist der Schwachpunkt der TV-Version - beständig ist man geneigt, ähnlich wie die Poirot-Figur im Kinofilm, ein "unglaublich ausweichend" oder besser ein "unglaubhaft" einzuwerfen: Ein mehrfacher Killer, der sich von einer Gruppe Amateur-Erpresser in Todesangst versetzen lässt - unglaubhaft! Eine angeblich durch die Vorfälle im Armstrong-Haus in übersteigerten religiösen Eifer versetzte Angestellte, welche aber auf dieser Reise alles und jeden fröhlich anplappert - unglaubhaft! Eine fast schon ungesund schlank wirkende Person soll eine leidenschaftliche deutsche Köchin darstellen - unglaubhaft! Eine exilierte russische Prinzessin, die sich Dollarbündel in die Kleidung stopft - unglaubhaft! Eine als Mutter der unglücklichen Mrs. Armstrong präsentierte Mrs. Arden (bzw. Hubbard), die aber kaum älter als ihre andere Tochter Elena zu sein scheint - unglaubhaft! Ein über und über mit Blut besudelter Tatort, obwohl doch das Opfer vor den Messerstichen absichtlich mit Schlafmitteln bewusstlos gemacht worden sein soll - unglaubhaft!



7. Werktreue?

Im Wikipedia-Artikel zur TV-Reihe wird darauf hingewiesen, dass die Macher bei der letzten Staffel bewusst einen recht düsteren Ton angeschlagen hätten, um den ebenfalls düsterer werdenden literarischen Vorlagen besser gerecht zu werden.

Ob hier in dieser Hinsicht die TV-Version sozusagen "werktreuer" ist, kann ich mangels Kenntnis der Originaltexte nicht beurteilen. Allerdings könnte ich auch zwei andere Erklärungen anbieten:

--- Die Macher der TV-Version haben den Kinofilm von 1974 natürlich gekannt und vielleicht auch nochmals intensiv studiert. Um nicht in den Verdacht einer fantasielosen Nachverfilmung zu geraten, haben sie bewusst die Akzente verschoben und aus dem fröhlich-heiteren, selbstbewussten Poirot einen geradezu misanthropischen Grübler gemacht, der da inmitten einer Schneewüste an den falschen und echten Indizien fast verzeifelt.

Ein nicht unverständlicher Ansatz, der aber zumindest mich im Resultat nicht überzeugt.

--- Es könnte aber auch mit dem veränderten gesellschaftlichen Klima im beginnenden 21. Jahrhundert zu tun haben. Eine Art neuer "moralischer Prüderie" hat sich da breitgemacht, die es nicht mehr ertragen mag, wenn ein - auch nur fiktiver - Mordfall nicht mehr zur behördlich vorgesehenen Bestrafung führt. Gleich ein ganzes Dutzend Mörder nicht nur straffrei zu lassen, sondern auch noch verhalten fröhlich, gar sekttrinkend in eine Art Happy-End zu verabschieden, das konnte dieser Art von "Korrektheit" nicht gefallen. Deshalb also die Verschiebung des verbrecherischen Odiums weg vom Gangster Ratchett (der in der Todesnacht gar noch zu beten beginnt!) auf das "Mörderkollektiv". Keine ersatzweise anstelle einer britischen Jury ("...mit 12 Geschworenen, wie es sich gehört...") der Gerechtigkeit nachhelfende Gruppe mehr, sondern Leute mit auch sehr profanen (Geld-)Interessen.

Und deshalb wohl muss am Ende dieser Geschichte ein mürrisch dreinblickender Poirot mit den falschen Beweisstücken in der Hand auf die jugoslawischen Polizisten zustapfen - womit wir bei einem letzten "unglaubhaft!" wären: Wieso eigentlich lässt er sich überhaupt darauf ein, die Verschwörer zu decken, wenn er doch zuvor mehrfach versichert hat, dass man auf jeden Fall dem Gesetz zu gehorchen habe, selbst wenn man es nicht verstehe? Denn schliesslich kann ihn niemand zwingen, so zu handeln - weder der Eisenbahndirektor noch die Mitreisenden.

Ich gestehe, das ich mit dem Poirot dieser TV-Episode nicht viel anfangen kann. Wo in der Kinoversion ein selbstbewusster Poirot vor dem Zubettgehen in der Zeitung blättert und beim Anblick eines Fotos der attraktiven Gräfin Elena ins Träumen (und "luft-fideln") gerät, zückt in der TV-Version ein ernster Poirot den Rosenkranz und dankt seinem Herrn, dass er "mich als Katholik geboren" hat *6 - sehr merkwürdig...



8. Statt eines Oscars...

Der Kinofilm in der Regie von Sidney Lumet war für 9 Oscars nominiert, verliehen wurde am Ende aber nur einer an Ingrid Bergman. Und man darf vermuten, dass dieser Oscar weniger ihrer Leistung in diesem Film geschuldet war, sondern der schon schwer Erkrankten als eine Art "Oscar für ihr Lebenswerk" zugesprochen wurde.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man neben Albert Finney vor allem Lauren Bacall auszeichnen sollen: Jedenfalls halte ich es schon für hohe Schauspielkunst, glaubhaft eine Figur zu spielen, die selbst wiederum glaubhaft eine andere Person darstellen soll (Laura Arden / Mrs. Hubbard).

- - -

Liebe Leserin, lieber Leser, lassen sie sich bitte von diesem "Verriss" dieser TV-Episode nicht davon abhalten, andere Epsisoden aus der Reihe "Agatha Christie's Poirot" anzusehen: Die anderen von mir betrachteten Episoden waren m.E. sehr wohl gute TV-Unterhaltung, und insbesondere David Suchet wurde zurecht viel gelobt - vielleicht hätte ihn Mrs. Christie sogar zum Lieblingsdarsteller für ihren belgischen Meisterdetektiv erkoren.



(Juni-Juli 2020)


- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -


Besetzung 1974:


Albert Finney: Hercule Poirot

1. Lauren Bacall: Mrs. Hubbard

Martin Balsam: Signor Bianchi

2. Ingrid Bergman: Greta Ohlsson

3. Michael York: Graf Andrenyi

4. Jacqueline Bisset: Gräfin Andrenyi

5. Jean-Pierre Cassel: Pierre Paul Michel

6. Sean Connery: Colonel Arbuthnot

7. John Gielgud: Mr. Beddoes

8. Wendy Hiller: Prinzessin Dragomiroff

9. Anthony Perkins: Hector McQueen

10. Vanessa Redgrave: Mary Debenham

11. Rachel Roberts: Hildegarde Schmidt

Richard Widmark: Mr. Ratchett

12. Colin Blakely: Mr. Hardman

George Coulouris: Dr. Constantine

13. Denis Quilley: Antonio Foscarelli




Besetzung 2010:


David Suchet: Hercule Poirot

Toby Jones: Samuel Ratchett

1 Brian J. Smith: Hector MacQueen

2 Hugh Bonneville: Edward Masterman (vgl. Beddoes)

3 Denis Ménochet: Pierre Michel

4 Jessica Chastain: Mary Debenham

5 David Morrissey: Colonel Arbuthnot

6 Eileen Atkins: Prinzessin Dragomiroff

7 Susanne Lothar: Hildegard Schmidt

8 Barbara Hershey: Mrs. Hubbart

9 Stanley Weber: Graf Andrenyi

10 Elena Satine: Gräfin Andrenyi

11 Marie-Josée Croze: Greta Ohlsson

12 Joseph Mawle: Antonio Foscarelli

Serge Hazanavicius: Xavier Bouc (vgl. Bianchi)

Samuel West: Dr. Constantine



*1 In einigen Episoden der TV-Reihe treten aber auch bekanntere Schauspieler wie Edward Fox auf.

*2 Dazu gibt es keine wörtliche, aber eine bildliche Erklärung: Während der Zug in der Schneewehe festsitzt, lösen ein paar Arbeiter einen Kurzschluss an der Unterseite eines Waggons aus. Ohne ein Experte für Eisenbahnfahrzeuge der 1930er Jahre zu sein, bleibt mir aber rätselhaft, wieso damit auch die Heizung ausfallen soll. Mindestens hätte es im Tender der Lok jede Menge Kohle für provisorische Öfen gegeben.

*3 In der Kinoversion "Signor Bianchi", in der der TV-Version "Monsieur Bouc" genannt, ist damit wohl eher der Direktor der "Compagnie Internationale des Wagon Lits" gemeint, die aber nur bedingt als "Eisenbahngesellschaft" gelten kann, da sie nie eigene Loks besass.

*4 In der TV-Version allerdings wird der griechische Arzt schliesslich von Poirot überraschend zum Mittäter erklärt, da die Gräfin Andrenye - ebenso überraschend - von ihm für nichtbeteiligt gehalten wird.

*5 In der Kinoversion nennt jeder der Rächer den Namen der betrauerten Person ("...für Mutter Armstrong von Ihrem Hector"). Ist es Fehler oder Absicht - jedenfalls stechen in dieser Version schliesslich insgesamt 13 (und nicht 12!) Personen auf den betäubten Ratchett ein.

*6 Natürlich will ich auch dem fiktiven Herrn Poirot zubilligen, was ich auch jedem echten Menschen zubillige, nämlich seinen Glauben zu praktizieren und eben auch nach aussen zu "bekennen". Was mich an diesem Gebet stört, eben weil auch sonst nicht zur Auslegung der Figur Poirot passend, ist dieser Dank dafür, gerade "als Katholik geboren" zu sein. Gerade Christen sehen ihren Glauben ja nicht als ererbte Eigenschaft an, sondern als durch Taufe und Bekenntnis erworbenen Zustand.


www.truthorconsequences.de