Die Professorin, die EU und der "Einigungskrieg"



Zu Gast: Ulrike Guerot

Diese Professorin dürfte vielen Deutschen erst seit ihrem Auftritt bei der Talkshow "Markus Lanz" vom 2. Juni 2022 ein Begriff sein. In diesem merkwürdigen Dokument deutscher "Diskussionskultur" im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (siehe Mediathek) durfte sie sich von einem Dreierteam (der Bundestagsabgeordneten Strack-Zimmermann, dem CNN-Journalisten Frederik Pleitgen und dem Moderator Markus Lanz selbst) nahezu permanent niederschreien und beschimpfen lassen, weil sie es wagte, beim Umgang mit der Ukraine-Krise für Verhandlungen zu plädieren.

Dass ein zivilisierter diskursiver Umgang mit ihr möglich ist, kann man in diesem etwa 90-minütigen Video erfahren: "Nationalstaat oder europäische Republik" (siehe hier). In diesem Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Matthias Burchardt sowie Moderator Gunnar Kaiser plädiert sie, wie schon seit Jahren, für eine "europäische Republik", die auf "Regionen" statt auf Nationalstaaten beruhen soll und in der alle rund 500 Millionen EU-Bürger gleiche Rechte haben sollen, sowohl bei der Repräsentanz im Parlament wie z.B. in der Sozialgesetzgebung. Vorsichtigerweise nennt sie das inzwischen "eine Utopie" und vermeidet das Wort "Vision", wohl wissend, dass nicht nur Altbundeskanzler Helmut Schmidt Visionen eher für medizinische Zustände hielt.

Dem Gespräch ist nicht unbedingt leicht zu folgen, da insbesondere Frau Guerot reichlich aus ihrem geistigen Fundus schöpft und in rascher Folge von "citoyen" zu "bourgeois", von "sacre du citoyen" zu "market citizens" springt und 'mal den einen, dann den anderen alten Philosophen zum Kronzeugen ihrer Intentionen erklärt.

Trotzdem ist das Gespäch hilfreich nicht nur in Bezug zum Titelthema, sondern weil mit etwas Überlegung die Denkfehler der Frau Guerot bei der Konstruktion ihres Utopie-Europas deutlich werden.



Denkfehler 1: Sprache

Frau Guerot blickt auf die deutsche Geschichte und erkennt ganz richtig, dass erst nach der Reichsgründung 1871 die deutschen Dialekte in ihrer Bedeutung von einer einheitlichen "Hochsprache" abgelöst wurden. Wo vorher ein Winzer am Kaiserstuhl sich kaum mit einem Fischer an der Nordseeküste unterhalten konnte, steht heute allen die Nutzung der gemeinsamen deutschen Hochsprache offen. Frau Guerot führt diese gemeinsame, auch sprachliche Sozialisierung auf die seit der Reichgründung eben (weitgehend) einheitliche rechtliche Stellung der nunmehrigen Reichbürger zurück. Das ist sicherlich nicht ganz falsch, aber im Hinblick auf die angestrebte europäische Republik stellt sich doch die Frage, wie man zu einer "EU-Sprache" kommen könnte.

Selbst wenn wir alle sonstigen Hemmnisse wegdenken und die 500 Millionen EU-Bürger, nach Wegfall ihrer Nationalstaaten und Rückkehr in die von Frau Guerot beschworenen Regionen (Savoyen, Baden, Katalonien, Elsass, Friesland...) nunmehr vom gemeinsamen Recht "sozialisiert" würden - wie sollten sie eine gemeinsame Sprache entwickeln? Die heutigen Sprachen sind, gerade durch die Nationalstaatsbewegung des 19. Jahrhunderts, hochgradig "kodifiziert" - es gibt verbindliche Wörterbücher und Grammatiken für das Französische, Italienische, Deutsche, Polnische und so fort. Da kann ein Versuch der Neuschaffung einer "EU-Sprache" nur ebenso scheitern wie das mittlerweile fast vergessene Esperanto.

Ohne gemeinsame Sprache kann es aber keine gemeinsame öffentliche Diskussion geben *1. Und die aktuelle Abwesenheit solcher gemeinsamen Diskussionen im Euroraum sind dafür auch der reale Beweis.

Tatsächlich gibt es nur eine Sprache, die in der Jetztzeit reale Chancen hätte, zur Sprache einer "europäischen Republik" zu werden, und das ist das Englische. Die europäischen Eliten haben sich auch schon ganz selbstverständlich auf diese Sprache geeinigt (wann hat man etwa Frau von der Leyen zuletzt öffentlich deutsch reden gehört?).

Diese von mir sehr geschätzte Sprache vereint allerdings gleich zwei Nachteile: Zum einen ist sie nur noch in einem einzigen, noch dazu sehr kleinen, Unionsstaat die "Muttersprache" der Einwohner (wobei Spötter anmerken, dass das Idiom der Iren mit "richtigem" Englisch nur entfernte Ähnlichkeit habe). Zum anderen und wichtiger: Damit würde man der kulturellen Invasion aus den USA noch hilfloser gegenüberstehen (was ein Blick in die TV-Programme deutscher Sender schon heute leicht bestätigt).



Denkfehler 2: Wirtschaft

Einer Geisteswissenschaftlerin mag man nachsehen, dass sie sich nicht so intensiv mit Wirtschaftsthemen beschäftigt. Aber den EU-Binnenmarkt schon deswegen für unbedingt erhaltenswert zu erklären, weil er "irgendwie die ökonomische Prosperität sichere", ist doch etwas sehr naiv. Schon die angenommene "Prosperität" ist zweifelhaft, denn im Vergleich der grossen Wirtschaftsblöcke (EU, USA/NAFTA, China) kommt die EU schon seit Jahrzehnten immer nur auf den 3. Platz.

Zumal der EU-Binnenmarkt, der nun tatsächlich nicht nur gigantische Gütermengen bewegt, sondern auch "Dienstleistungen" und die Arbeitnehmer selbst hin und her schaufelt, spätestens seit Einführung der gemeinsamen Währung EURO gleichzeitig zu einem Wohlstandstransfer von der Peripherie in die zentralen Regionen, insbesondere Deutschland, geführt hat. Ich habe das in verschiedenen Texten schon erläutert (etwa hier) und möchte das hier nicht wiederholen.

Indem sie Binnenmarkt und gemeinsamer Währung so unhinterfragt eine positive Rolle bei der Wohlstands-Erzeugung zuschreibt, liefert sie eine scheinbare Bestätigung für die Notwendigkeit weiterer "Integration" und "Vertiefung" hin zur erträumten EU-Republik. Auch wird damit die Übersteuerung der politischen Institutionen durch grosse Wirtschafts-Akteure (Konzerne, Lobbygruppen) aus dem Blickfeld gebracht. Jedoch gerade die EU-Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt die Zentrifugalkräfte, die Frau Guerot an anderer Stelle so sehr bedauert.



"Der unsichtbare Dritte"

Leider wird auch in diesem Streitgespräch der Rolle, die da einer nicht-europäischen Macht bei allen strategischen Entscheidungen der EU zufällt, nicht wirklich Rechnung getragen. Indem die meisten EU-Mitglieder, meist schon vor ihrer Aufnahme, ebenfalls NATO-Mitglieder waren bzw. sind, hat die "Führungsnation" dieses Blocks automatisch wesentlichen Einfluss auf die EU, und zwar nicht nur in rein militärischen Fragen. Die USA sitzen also "unsichtbar" immer mit am Tisch, wo immer es in der EU um's "Eingemachte" geht.

Sollte es sich um "ewigen Dank" für die erfolgreiche Niederringung des NS-Regimes 1945 handeln? "Dankbarkeit" wäre im politischen Raum ohnehin ein seltenes Phänomen, in diesem Fall umso mehr, als es da ja noch einen anderen Allierten im Osten gab, der sicher nicht weniger zum "Victory-Europe-Day" beigetragen hat als die USA.

Hier ist kein Platz, um die wechselvolle Geschichte der Nach-Weltkriegs-Beziehungen zwischen den USA und den (west-)europäischen Staaten nachzuzeichnen. Aber den spätesten 1991 geopolitisch eigentlich angesagten Rückzug aus Europa haben die USA nie umgesetzt, wofür die zahlreichen US-Miltärbasen nur ein Beleg sind.



Frontbericht aus Brüssel

Das US-Magazin TIME hat in seiner letzten Ausgabe (June 20/June 27,2022) das Titelbild der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewidmet und mit dem Satz "How Ursula von der Leyen is leading the E.U. through yet another crisis" eingerahmt. Im zugehörigen Artikel erfahren wir nicht nur von der schockierenden Tatsache, dass "vdL" immer noch keine "offizielle Residenz" habe und deswegen schon während der Covid-19-Krise im März 2020 öfter in einem 30-Quadratmeter-Räumchen neben ihrem Büro nächtigen musste. Die Autorin, eine Naina Barekal, liefert in ihrem Artikel eine "leadership"-Saga, wie sie bei TIME so populär geworden ist.

Und die jüngste Krise, die Mrs. "wondalayen" zu bewältigen hat, ist offenbar von ihr genauso energisch angegangen worden wie Covid-19. Über den 24. Februar wird von der Leyen wie folgt zitiert: "It was a nightmare, but we were prepared, and then we could really act rapidly." Die Autorin weiter: "How rapidly took the world by surprise. Within a week of the invasion, Brussels had already approved three packages of sanctions against Russia,..." ("Innerhalb der ersten Woche nach der Invasion hatte Brüssel schon drei Sanktionspakete gegen Russland beschlossen,...").

Ob Frau von der Leyen nun bei der Vorbereitung der Sanktionspakete ebenfalls auf ihr Schlafkämmerchen neben ihrem Büro zurückgreifen musste, ist nicht überliefert. Aber man war also vorbereitet, und auch unser Bundeskanzler sprach damals immer von "sorgfältig vorbereiteten" Sanktionen. Von ebenso sorgfältigen Vorbereitungen zu Vermittlungen, zu Waffenstillstands- bzw. Friedens-Verhandlungen war und ist demgegenüber nichts zu erfahren.

Die Vermutung liegt nahe, dass der Wunsch, noch stärkere Sanktionen gegen Russland umsetzen zu können, als sie ja ohnehin schon in Kraft waren (wegen der "Annexion" der Krim, wegen der angeblichen Mordversuche Skripal und Nawalny etc.), schon lange vor dem Krisenausbruch im Februar gegeben war. Und dass insofern die russische Ukraine-Offensive im Februar in Brüssel und Washington geradezu herbeigesehnt worden war.



Reichseinigungskriege

Ein Fakt, den Frau Guerot bei ihrer ansonsten geglückten Beschreibung der "gemeinsamen Sozialisierung" der Deutschen nach 1871 entgangen ist, besteht im vorher stattgefundenen Krieg. Denn der 1870 von Bismarck recht bewusst herbeigeführte Krieg gegen den "Erzfeind Frankreich" war im genauen Sinne auch ein Reichseinigungskrieg. Die Funktion der beschleunigten nationalen Einigung erfüllten auch andere Kriege, etwa in Italien. Manchmal lagen diese Reichseinigungskriege schon lange zurück, jedenfalls kann man den Krieg der ersten Königin Elisabeth gegen Spanien um 1588 ebenfalls zumindest auch als solchen betrachten.

Für die bis in die 1930er Jahre innenpolitisch recht instabile Sowjetunion kam der Reichseinigungskrieg dagegen eher spät, nämlich mit der Abwehr der NS-Invasion ab 1942. Aber auch hier führte der erbittert, buchstäblich ums Überleben geführte Kampf gegen die Eroberungstruppen zu einer (nachträglichen) Einigung im Vielvölkerstaat Sowjetunion. Darüber braucht man die natürlich weiterhin bestehenden internen, insbesondere ideologischen Auseinandersetzungen in der UdSSR nicht vergessen. Aber der bald als "Grosser vaterländischer Krieg" betitelte Kampf blieb, über das Ende der Sowjetunion hinaus, das grosse verbindende Element *2 der post-sowjetischen Völker.

Frau von der Leyen ist, wie es auch der TIME-Artikel nochmal hervorhebt, eine Proponentin der "ever closer integration". Ohne weitere Integration würde das "Europäische Projekt" kollabieren. Was genau dieses "Europäische Projekt" nun sein soll, darüber schweigt sich von der Leyen wie die meisten Eurokraten lieber aus - ganz im Gegensatz zur Utopie-skizzierenden Frau Guerot *3.

Kann es sein, dass der von den Eurokraten und den meisten europäischen Regierungschefs geradezu überstürzt ausgeweitete Sanktionskrieg gegen Russland auch als Chance zur Reichseinigung hin zu einem zentralistischen EU-Superstaat betrachtet wurde? Die kritiklose Übernahme auch der hanebüchensten ukrainischen Propaganda-Erzählungen, die Stilisierung der Ukraine zum prototypischen demokratischen Musterstaat und umgekehrt die Dämonisierung Russlands zum überragenden "Schurkenstaat" sprechen ebenso dafür wie die in Endlosschleife wiederholten Beteuerungen der grossen Einigkeit aller EU-Staatschefs. Mit der medialen Schaffung eines neuen Erzfeindes, der praktischerweise wie schon zu Sowjet-Zeiten im Osten steht, soll womöglich der bislang in den Bevölkerungen fehlenden Begeisterung für einen EU-Superstaat, für die "United States of Europe", nachgeholfen werden. Und wie ehedem beim Deutschen Reich soll das neue Staatsschiff mit so vielen Kanonen wie möglich ausgerüstet werden.

Nachdem sich die "Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch" als nicht so erfolgreicher Slogan erwiesen hat, wird nun die Ukraine umso lauter zum definitiven "Verteidiger unserer Werte und Prinzipien" *4 erklärt oder besser verklärt. Und intern nimmt die Diskussion z.B. über die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips an Fahrt auf.

Freilich trägt auch dieses nation building den Stempel "made in USA", und die diesbezüglichen Operationen der "letzten Supermacht" sind meist unglücklich ausgegangen.



(Juni 2022)




*1 Wer etwa heute ein halbwegs stimmiges Bild über den Diskussionsstand zu einem beliebigen EU-Thema (etwa der monetären Staatsfinanzierung oder den "Eurobonds") auch nur auf der Ebene der 6 EU-Gründungsstaaten erlangen wollte, müsste mehrere Zeitungen bzw. Medien aus diesen 6 Staaten studieren und entweder 4 Sprachen selbst beherrschen oder Zugriff auf qualitativ hochwertige Übersetzungen haben. Für eine Professorin vielleicht leistbar, für den Normalbürger sicher nicht.

*2 Insofern überrascht auch nicht, dass Russlands Präsident Putin genau diesen "Grossen vaterländischen Krieg" ins Zentrum einer durchaus mit Intensität betriebenen staatlichen Erinnerungskultur stellte.

*3 Nur als Neben- und Randbetrachtung: Im Interview wird nicht nur in der Wortwahl der Professorin deutlich, dass das "Europäische Projekt" eigentlich ein Eliten- oder Intellektuellen-Projekt ist. Sie verweist auch mehrfach auf Roaming-Abkommen oder den Wegfall des Geldumtausches an Landesgrenzen als sehr praktisch für ihr Leben, da sie ja permanent von einer europäischen Stadt zur nächsten unterwegs sei. "Praktisch" ist das für sie sicherlich, aber es ist auch eine Kategorie, die für die meisten arbeitenden Europäer eher nebensächlich ist, weil sie meist nur im Urlaub Landesgrenzen überschreiten. Inwieweit die Zertrümmerung der Nationalstaaten, auch in ihrer Eigenschaft als soziale Schutzräume, um der Sicherstellung dieser "Praktikabilitäten" willen gerechtfertigt ist, darf angezweifelt werden.

*4 Mit der modernen Ukraine wird ein Staat glorifiziert, der als korruptester Staat in Europa gilt (siehe hier) und offen nazistische Gruppierungen in die eigene Nationalgarde aufgenommen hat (u.a. ASOW-Batallion). Der schon im letzten Jahr nahezu alle Oppositions-Parteien verboten hat und jetzt auch das Eigentum dieser Organisationen konfisziert. Und in dem Pressefreiheit schon länger ein Fremdwort ist.



www.truthorconsequences.de