R2P als Rechtfertigung in West und Ost




1. Was ist "R2P"?

Der Begriff "responsibility to protect" oder eben kurz R2P wurde von mir zum ersten Mal bewusst in in einer Diskussionsendung zum Syrien-Krieg wahrgenommen (siehe auch meinen Text von 2016 dazu). Wobei diese "Verantwortung zur Schutzgewährung" natürlich vom "Wertewesten", manchmal mit anderen Metaphern verziert, auch schon vorher zur Rechtfertigung militärischer "Interventionen" verwendet wurde. Etwa in Jugoslawien, Lybien oder Syrien. Überall musste der so den "Werten" verbundene Westen angeblich aus reiner Grossherzigkeit helfen, wobei die "Hilfe" meist aus Bombenabwürfen oder Raketenbeschuss bestand.




2. "R2P" in Syrien

Insbesondere im Falle Syriens 2016/17 wurde in den deutschen Medien darauf verwiesen, dass man den "freiheitsliebenden Syrern", die sich da gegen den "Machthaber" Assad auflehnten, doch beistehen müsse - finanziell, ausrüstungsmässig und gegebenenfalls militärisch durch Luftschläge der NATO-Staaten USA, Grossbritannien und Frankreich, diese wiederum unterstützt durch Aufklärungsflüge bundesdeutscher Tornado-Jets.

Dass da ein Grossteil der im Rahmen dieser "Schutzmassnahmen" den meist verharmlosend als "syrische Rebellen" beschriebenen Gruppen geleisteten Hilfe dann bei extremistischen Terrororganisationen vom Schlage der Al Queida landete, wurde zwar schliesslich u.a. bei Anhörungen im US-Senat klar, bremste aber den "protektionistischen" Eifer der NATO-Staaten nicht aus. Etwas verwunderlich war auch, dass - solange nur die westlichen "Wertebewahrer" in Syrien bombardierten - das von den Kopf-ab-Islamisten namens IS (Islamischer Staat) beherrrschte Gebiet beständig an Umfang zunahm. Erst als Russland, seine einzige Lufwaffen-Basis in Nahost nutzend, militärisch eingriff, wendete sich das Blatt. Vom "IS" spricht heute niemand mehr - allerdings auch nicht davon, dass nach wie vor Teile Syriens von den USA (im Nordosten) und der Türkei (im Norden) besetzt gehalten werden.

In der Rückschau kann man die Intervention der NATO-Staaten in Syrien ganz klar als "regime change"-Operation *1 einordnen, die nun allerdings durch das (späte) Eingreifen Russlands vereitelt wurde. Der laizistische, autoritär-aufgeklärte Staat unter Baschar al-Assad hat den Anschlag des "Wertewestens", wenngleich schwer beschädigt, überlebt. Zur Strafe für ihre Unbeugsamkeit werden die Syrer, die man doch angeblich "schützen" wollte, jedoch nach wie vor mit Wirtschaftssanktionen bestraft, ebenso wie die unterstützenden Staaten Russland und Iran.



3. "R2P" in der Ost-Ukraine

Der in Syrien so heftig bemühte Begriff vom "Schutz der Bevölkerung" vor einem übergriffigen Regime wird nun, fünf Jahre später, ausgerechnet von der russischen Regierung als (ein) Grund für die "militärische Spezialoperation" gegen die Ukraine genannt. Und während man in Syrien nur rätseln konnte, warum nun ausgerechnet dieses Volk in den Genuss dieser "Unterstützung" gegen die eigene Regierung kam (und nicht z.B. die Völker Saudi-Arabiens, des Emirats Quatar, Jemens oder Ägyptens gegen die jeweiligen Regierungen), und warum sich nun ausgerechnet die tausende Kilometer entfernten USA zum "Protektor" ernannten, stellt sich die Sache in der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine doch deutlich anders dar.

Wenig umstritten ist, dass ein Staat seine eigenen Staatsbürger schützen darf, und wenn es notwendig und möglich ist, auch im Ausland. Wann immer in den letzten Jahren militärisch ausgerüstete Evakuierungs- oder Befreiungsaktionen für westliche Staatsbürger z.B. in von Revolten erschütterten afrikanischen Staaten in Gang gesetzt wurden, ging es genau um diese "responsibility to protect". Auch die berühmte Befreiungsaktion auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu, als 1977 eine kleine, aber schwer bewaffnete bundesdeutsche Polizeitruppe die von Terroristen entführten Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine "Landshut" befreiten, war im heutigen Wortsinne eine "R2P"-Aktion *2.

Unbestritten ist, dass im Gebiet der Donbass-Republiken Anfang des Jahres mehrere Hunderttausend Einwohner einen russischen Pass hatten. Das Magazin EURONEWS titelte noch Mitte Februar recht unbefangen "Ukrainer im umkämpften Donbass: Russische Pässe heiß begehrt" (siehe hier) *3. Unsere doppelt-staatstragenden (Berlin und Kiew!) ÖRR-Medien haben sich früh darauf verständigt, dies als "Putin verteilt Pässe im Donbass" zu denunzieren. Von Seiten der Regierung in Kiew waren dagegen zumindest Anfang 2021 sogar Strafmassnahmen gegen solche Inhaber von Doppel-Staatsbürgerschaften im Gespräch (siehe hier), inwieweit solche dann auch umgesetzt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.

Einerlei - nach allen üblichen zwischenstaatlichen Spielregeln hatte Russland Anfang des Jahres jedenfalls weitaus mehr Berechtigung, einen Schutz der eigenen Staatsbürger im benachbarten Donbass - also eine "responsibility to protect" - für sich zu reklamieren, als es die diversen NATO-Staaten bei ihren Operationen im nahen und ferneren Osten je hatten.



4. Noch ein NATO-Krieg

In offizieller NATO-Lesart geht es bei der militärischen und finanziellen Unterstützung der Kiewer Regierung auch wieder darum, "die Ukrainer" vor "den Russen" zu beschützen. Dass da einige Ukrainer, namentlich auf der Krim und im Donbass, gar keine Lust hatten, sich vor den Russen "beschützen" zu lassen, sondern im Gegenteil eher den Anschluss an die russische Föderation anstrebten (entweder kollektiv wie auf der Krim oder individuell mittels der zweiten Staatsbürgerschaft wie im Donbass), war und ist für die westlichen Mainstream-Medien nicht berichtenswert. Dass da angesichts der von der Kiewer Regierung schon in den Vorjahren mehrfach erklärten Absicht, die der Kontrolle verlorengegangenen Gebiete militärisch zurückzuerobern, es durchaus ernsthafte Ängste auf seiten der russisch-stämmigen Ukrainer in diesen Gebieten gab, ebensowenig.

Dass die russische Regierung mit dem am 24.Februar begonnenen offensiven Einsatz seiner Streitkräfte in der Ukraine das Völkerrecht gebrochen hat, ist wenig strittig. Dass dahinter aber, eben auch neben dem "R2P"-Aspekt, wesentlich essentiellere Motive der nationalen Sicherheit standen, kann nicht bestritten werden. Eine in die NATO aufgenommene Ukraine unter derart manisch anti-russischen Regierungen, wie sie seit 2014 in Kiew am Ruder sind, bedeutet für Russland mindestens die gleiche Art von Bedrohung wie es die "Kubakrise" von 1963 für die USA darstellte, zumal ja die Selensky-Regierung auch schon die atomare (Wieder-)Bewaffnung *4 eingefordert hatte.

Beim Rückblick auf 1963 stellt sich die Frage, warum man den damaligen Weg der Gespräche, Verhandlungen und schliesslichen gegenseitigen Rüstungsreduzierung heute seitens des "Westens" nicht mehr einschlagen mag. Haben die Endsieg- und Enthauptungsschlag-Planer aus der kältesten Kalten-Kriegs-Zeit, die LeMays und Groves, plötzlich Enkel im Washington des 21. Jahrhunderts bekommen?


(Juni 2022)



*1 Wenngleich die Türkei die "regime change"-Operation meist mitgetragen hat, muss man anerkennen, dass sie als einziger NATO-Staat (und als einziger NATO-Anrainer-Staat) tatsächlich "nationale Interessen" ins Feld führen kann, namentlich die Unterdrückung aller kurdischen Autonomie-Bestrebungen.

*2 Zumindest im Fall des GSG9-Einsatzes wurde von der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt auch penibel darauf geachtet, dass der Einsatz mit Zustimmung der örtlichen Regierung erfolgte. Zum Glück für Kanzler Schmidt (und für die später befreiten Menschen) hatte man mit Staatssekretär Wischnewski (Spitzname "Ben Wisch") einen hoch befähigten Unterhändler nach Somalia geschickt, der - vermutlich auch mit dem Versprechen von künftigen "Wohltaten" für Somalia - die Zustimmung des somalischen Herrschers erlangte.

*3 Die 1991 selbständig gewordene Ukraine setzt sich aus verschiedenen Ethnien und Sprachgruppen zusammen. Näherungsweise zwei Drittel geben Russisch als Muttersprache an, davon wiederum begreifen sich etwa die Hälfte als ethnische Russen. Das ist angesichts der langen gemeinsamen Geschichte, schon seit Zarenzeiten, kein überraschender Zustand. Gerade als Ukrainische Sowjetrepublik waren Umzüge in die Ukraine aus anderen Sowjetrepubliken oder aus der Ukraine in andere Republiken gang und gebe, nicht so sehr viel anders als Umzüge von einem deutschen Bundesland in ein anderes. Entsprechend vermischt sind (oder waren) die familiären oder freundschaftlichen Beziehungen. Trotzdem gab es auch ein deutliches Ost-West-Gefälle, wobei die "russischen Ukrainer" im Oststeil der Republik die Überzahl stellten. Nach dem Maidan-Putsch 2014, der die bisherige, Kompromisse suchende gewählte Regierung aus dem Amt jagte, gingen die Post-Maidan-Regierungen gleich mit Energie daran, die russischen Mitbürger zu Bürgern zweiter Klasse zu machen - ich habe das schon in früheren Texten erläutert. Als Reaktion darauf gründeten sich in der Donbass-Region zwei sogenannte Volksrepubliken, im Westen fortan als "Separatisten" bezeichnet. Diese Republiken suchten, und erhielten wohl mindestens materiell, Unterstützung aus dem Ausland - naheliegenderweise aus Russland. Trotzdem zögerte die russische Regierung bis Anfang dieses Jahres, diese Republiken diplomatisch anzuerkennen - obwohl es durchaus erheblichen innenpolitischen Druck in diese Richtung gab.

*4 Atomwaffen für die Ukraine wären insofern eine Wieder-Bewaffnung, als die Sowjet-Republik Ukraine - hätte man sie als eigenständigen Staat betrachtet - aufgrund der damals dort stationierten sowjetischen Atomwaffen eine der grössten "Atom-Mächte" gewesen wäre. Die Forderung nach atomarer Bewaffnung sprach Präsident Selensky bei der letzten Münchener Sicherheitskonferenz aus.



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