Grundkurs "Ostalgie für Wessies"




1. Was ist Ostalgie?

Wenn NOSTALGIE als ein romantischer oder gar verklärender Blick auf vergangene Zeiten beschrieben werden kann, bedeutet das in den 1990ern neu entstandene Wort OSTALGIE also einen romantischen oder gar verklärenden Blick auf den OSTEN oder hier speziell die untergegangene DDR. Diese Ostalgie kann sich zunächst einmal nur auf Bilder, Symbole oder vielleicht Lebensmittel beziehen, die den ehemaligen DDR-Bürgern aus Ihrer Kindheit und Jugend vertraut sind. Ein Ostalgiker mag vielleicht Spreewaldgurken und Beelitzer Spargel den entsprechenden West-Produkten vorziehen, er mag sich Kappen mit Interkosmos-Logo oder ähnlichem überziehen, sich ein Plüsch-Pittiplatsch (eine Figur aus dem DDR-Kinderfernsehen) kaufen oder seine Wohnung mit Bildern von DDR-Berühmtheiten wie Sigmund Jähn, dem ersten deutschen Kosmonauten, ausstaffieren. So ausgelebte Ostalgie kann dabei vollkommen unpolitisch sein, oft genug geht sie sogar mit ausgeprägter Affirmation der ab 1990 herrschenden Verhältnise einher. Und so wie sich mancher "Wessi" im Rentenalter einen VW-Käfer beschafft, um nostalgischerweise glückliche Kindertage nachzuerleben, so macht sich manch ein "Ossi"-Rentner den in der DDR vielleicht nie erfüllten Wunsch nach einem Trabant wahr und restauriert das Gefährt ebenso liebevoll wie das West-Pendant sein "Krabbeltier".



2. Von Äusserlichkeiten zu Innenansichten

Dies sind aber zunächst nur Äusserlichkeiten. Gibt es vielleicht in der ex-DDR etwas ähnliches wie in der jungen BRD, als mancher - auf die NS-Zeiten angesprochen - mit einem trotzigen "es war doch nicht alles schlecht" reagierte und oft noch das Argument "aber Hitler hat doch die Autobahnen gebaut" nachschob.

Wenn man den Bau der Autobahnen als "gut" klassifiziert, wie es die Nachkriegs-Bundesbürger sicher taten, dann freilich war eben "nicht alles schlecht" in den NS-Jahren von 1933 bis 1945. Kann nun ein "gelernter DDR-Bürger" mit ebensolchem Recht auf Positives in den rund 40 Jahren SED-Herrschaft verweisen?

Ein Beispiel dürften für viele Ex-DDR-ler die die dortigen Polikliniken darstellen. Der MDR beschreibt diese so:

>Polikliniken waren ambulante Behandlungszentren mit fest angestellten und vom Staat entlohnten Ärzten verschiedenster Fachrichtungen in einer Art sozialistischen "Großpraxis". Quasi Tür an Tür praktizierten Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Augenärzte, Zahnärzte, Hautärzte, Orthopäden etc. <

Das klingt garnicht unvernünftig und war es wohl auch nicht, was man auch daran erkennt, dass fortschrittliche (West-)Gesundheitsexperten so etwas auch für die Gegenwart empfehlen. Für die DDR, die zwar durchaus ausreichend Mediziner ausbilden konnte, aber - insbesondere bei West-Devisen - unter chronischer Geldknappheit litt, war das System ideal. Die Ärzte der verschiedenen Disziplinen konnten sich Apparate und Räumlichkeiten teilen und so ihre Behandlung optimieren.

Freilich, für den typischen "Wessi", konnte so etwas wie Polikliniken nicht das vernichtende Urteil über die DDR-Wirtschaft als Ganzes abmildern. Den Westbürgern, die ihre Identität lange zu einem Gutteil aus den Exporterfolgen der deutschen Automobilindustrie bezogen, genügte schon ein Blick auf diese merkwürdigen "Autos", die mit lautem "räng-deng-deng" über die Strassen der "Hauptstadt der DDR" husteten und dabei ihr Zweitakt-Odeur verbreiteten. Das war doch alles "steinzeitlich" verglichen mit den Hightech-Produkten von VW und Co. - wobei man geflissentlich vergass, dass nicht nur der hochgelobte "Golf" der ersten Generation seinen Besitzern oft "unter dem Hintern" wegrostete.

Vergessen auch, dass die DDR in ihrer Frühzeit durchaus Fahrzeuge exportierte, denn auch der verlachte "Trabant" galt ja bei seiner Markteinführung als fortschrittlich, Frontantrieb und Kunststoffkarosserie galten damals als hochmodern. Schliesslich gehörte auch beim in den späten 1950ern auf den Markt gebrachten US-Sportwagen "Chevrolet Corvette" eine Kunststoffkarosserie zu den technischen Höhepunkten.

Wer heute z.B. das Museum der einstigen "Automobilwerke Eisenach" (AWE) durchstreift und die Exponate und Hinweistafeln intensiv studiert, erkennt schnell, dass es den Ingenieuren dort durchaus nicht an Ideen mangelte, ihre Produkte auf den jeweiligen Stand der Technik zu bringen. Nur fehlte der Partei- bzw. Staatsführung - und damit Wirtschaftsführung - letztlich immer der Wille, entsprechende Mittel bereitzustellen. Man war sogar zu knauserig, dringend notwendige Modernisierungen und Werkserweiterungen anzugehen - was u.a. dazu führte, dass späte Wartburg-Modelle dermassen grobe Spaltmasse der Karosserieteile aufwiesen, dass ein Spaltmass-Fetischist wie Ferdinand Piech vermutlich in Ohnmacht gefallen wäre.



3. Prioritäten

Wenn die DDR-Staatsführung der eigenen Pkw-Industrie den Geldhahn zudrehte, wozu gab sie das Geld dann aus? Zum einen sicher auch für Prestigeprojekte wie den Fernsehturm am Alexanderplatz oder den "Palast der Republik" - freilich handhabten das z.B. die Präsidenten der französischen Republik spätesten seit Pompidou ganz ähnlich.

Aber der Individualverkehr mit Pkw's war immer weit weniger wichtig als der öffentliche Nahverkehr mit Bussen und Bahnen. Da gab es dann auch genügend Mittel, um eine so fortschrittliche Lok-Konstruktion wie die DR-Baureihe 243 auf die Schienen zu stellen. So fortschrittlich, dass das Modell (als DB-Baureihe 143) sogar noch nach der "Wende" gefertigt wurde. Auch auf der technisch anspruchsvollen Höllentalbahn war sie jahrelang im Einsatz. Ebenso wurde die aus den 1930er-Jahren stammende Idee der Doppelstock-Waggons für den Nah- und Regionalverkehr schon in den 1950ern von der DDR-Reichsbahn mit Energie aufgegriffen. Diese werden weiterhin in Görlitz gefertigt und heute nicht nur an die DB, sondern auch an zahlreiche ausländische Bahnbetriebe ausgeliefert.

Apropos Ausland: Natürlich konnte die DDR mit Ihren 17 Millionen Einwohnern nie ein wirklich gefährlicher Konkurrent für die etablierten (und oft genug staatlich geförderten) Export-Industrien der BRD mit ihren rund 60 Millionen Einwohnern werden. Aber z.B. im Anlagenbau war es für die entsprechenden BRD-Unternehmen Pflichtprogramm, auch immer auf der Leipziger Messe präsent zu sein - sonst wären sicherlich noch mehr Aufträge an die Ost-Pendants gegangen.



4. Das System

Nach dem so schmählichen Untergang nicht nur der DDR, sondern der ganzen Ostblockstaaten dürften auch überzeugte Marxisten kaum mehr auf die Idee kommen, den dort praktizierten "real existierenden Sozialismus" als "überlegenes Wirtschaftsmodell" anzupreisen. Zu offensichtlich hatte das System falsche Anreize gesetzt, zu sehr individuelle Initiative unterdrückt.

Dabei war zumindest in der DDR durchaus eine Meritokratie am Werke, allerdings waren die Meriten, die dort den Aufstieg in Bürokratie und Wirtschaft ermöglichten, weniger in effektiver Amtsführung oder Umsetzung kreativer Ideen begründet, als im braven Aufsagen der jeweiligen Parteitagsbeschlüsse und Staatsrats-Direktiven.

Das System hat sich also im 40-jährigen Dauertest als schwer mangelhaft herausgestellt, war aber trotzdem fähig, punktuell gute oder sogar vorbildliche Leistungen zu erbringen. Sogar die DDR-Verfassung war prinzipiell so fortschrittlich formuliert, dass es dem jungen Rechtsanwalt Gregor Gysi bei der Verteidigung von "Systemkritikern" wie Robert Havemann oft möglich war, die Staatsgewalt mit Verweis auf eben jene Verfassung einzugrenzen. Das Problem war hier, wie so oft, nicht der hehre Verfassungs-Anspruch, sondern die von SED und StaSi geformte Verfassungs-Wirklichkeit.



5. Zur Nachahmung empfohlen?

Einem "gelernten DDR-Bürger" würden sicherlich noch eine Reihe anderer Punkte einfallen, etwa der planvolle Wohnungsbau (auch wenn die Ästhetik der sogenannten Plattenbauten feinsinnigen Menschen nicht gefallen mochte), die weitgehend flächendeckende Versorgung mit Kindergärten, die Ausstattung auch kleinerer Städte mit öffentlichen Sport- und Freizeiteinrichtungen oder die erstaunlich breite Theaterlandschaft - als "Paradies der Provinztheater" wurde die DDR gar gelegentlich bezeichnet. Wer gelegentlich die Fernsehprogramme der "Ost-Sender" MDR und RBB durchstöbert, mag auch die regelmässig von der DEFA mit Aufwand und Einfühlungsvermögen produzierten Kinderfilme - vom "Kleinen Muck" bis "Die dicke Tilla" - registriert haben. Genug Punkte also - neben den während der "Wende" massenhaft abgebauten höher qualifizierten Arbeitsplätzen - die unsere "neuen" BRD-Bürger zu einem wehmütigen Blick zurück verleiten könnten.

Umso schmerzhafter, dass die neue staatliche Gemeinsamkeit von Ost- und West-Bürgern gleich mit einem Verstoss gegen mindestens den Geist des Grundgesetzes begann. War doch in der jahrzehntelang unveränderten Präambel das Grundgesetz selber als Übergangslösung beschrieben, die aufgrund der Umstände des Jahres 1949 nur in den West-Ländern wirksam sein konnte. In der zeittypisch pathetischen Sprache hiess es, dass "das gesamte deutsche Volk … aufgefordert [bleibe], in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

Unter den Umständen der plötzlich von der UdSSR ermöglichten Wiedervereinigung hielten das nicht wenige, auch im Westen, für einen impliziten Auftrag, eine neue, gesamtdeutsche Verfassung zu formulieren. Aber abgesehen von einigen akademisch angehauchten Debatten in den Feuilleton-Seiten der grösseren Zeitungen führte das damals zu nichts, jeder ernsthafte Vorstoss scheiterte an der Entschlossenheit der damaligen CDU-Regierung, die "Vereinigung" im Galopp und unter ihren Konditionen umzusetzen.



6. Jenseits der Oder

Genug Gründe für ein wenig Ost-Nostalgie oder eben OSTALGIE, vielleicht sogar für eingefleischte "Wessis". Aber wieso den Blick nur bis zur Oder richten? Auch östlich davon lösten sich ja die Staaten des "real existierenden Sozialismus" auf, sogar die lange Zeit unerschütterlich wirkende Sowjetunion. Und ganz sicher gibt es im heutigen Russland auch einige Leute, deren Ostalgie ein Wiedererrichten der UdSSR erträumt. Solchen Gedanken erteilte und erteilt der amtierende russische Präsident mit folgenden Worten eine sehr klare Absage:

"Wer den Untergang der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz.

Wer sie wieder errichten wollte, hat keinen Verstand!"

Bezeichnenderweise wird von West-Politikern und West-Journalisten, wenn überhaupt, nur der erste Satz zitiert und als Beleg für imperialistische Absichten gedeutet, eine Zitatverfälschung wie aus dem Lehrbuch.

Und müssten nicht auch gerade wir, hier in den "alten" Bundesländern, bei nüchterner Betrachtung den Untergang der Sowjetunion ebenfalls sehr bedauern? Denn schliesslich sorgte die bloße Existenz der ebenfalls nuklear bewaffneten UdSSR dafür, dass hier in Europa ein klassisches Mächtepatt existierte, die eine rund 50 Jahre andauernde Friedensperiode ermöglichte. Ähnlich wie in der ebenfalls Jahrzehnte andauernden Friedensperiode Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Politik der europäischen Grossmächte (damals Grossbritannien, Frankreich, Österreich und Deutschland) von der Einsicht bestimmt, dass man "einander nicht abschaffen könne" (S.Haffner).

Nach dem Untergang der UdSSR verwandte die verbliebene Supermacht USA jedoch grosse Energie darauf, die möglicherweise irgendwann wieder Weltgeltung anstrebende Macht Russland gänzlich "abzuschaffen". Der "unipolare Moment" schien gekommen, und die US-Eliten waren entschlossen, denselben zu einem "New American Century" zu verlängern. Und die Reihe der scheinbar zufälligen Kriege, die da nun"plötzlich" nach 1990 ausbrachen und von den USA entweder selbst geführt oder kräftig angefacht wurden - Irak, Yugoslawien, Lybien, Afghanistan, wieder Irak, wieder Afghanistan, Syrien, Georgien etc. - umkreisten ja in gewisser Weise Russland. Mit dem 2014 inszenierten Putsch in Kiew wurden die Weichen für den jetzt tobenden heissen Krieg in der Ostukraine gestellt. Idealerweise hätte die Kombination aus "totalem" Wirtschaftskrieg und Provokation der "speziellen Militäroperation" und den daraus folgenden materiellen Schäden zum Kollaps der Regierung in Moskau geführt, und der Weg wäre frei gewesen für eine "yugoslawische" Lösung, d.h. de-facto Zerstückelung der russischen Föderation in leicht behersch- und ausbeutbare Folgestaaten.

Zur Enttäuschung der transatlantischen Eliten hat sich das vorgesehene Opfer nicht in die vorgeplante Rolle einfügen lassen und leistet Widerstand. Dagegen findet die nicht nur von Moskau ausgegebene Losung "multipolare Welt" immer mehr Anhänger - nicht nur im sogenannten "globalen Süden", sondern auch - und das könnte entscheidend sein - in China und Indien.

Währenddessen haben sich die Staaten der EU unter dem Einfluss einer grösstenteils "transatlantisch" geprägten EU-Führungsriege selbst zu Vasallen der USA degradiert, die auch noch die grössten Demütigungen wie die Sprengung der NordStream-Pipelines geduldig zu ertragen haben.


(25.08.2024)




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