Der 3. Oktober - Tag der deutschen Uneinigkeit - oder: Willensnation ohne Wille?



a) Ein Bericht

Kürzlich hat der Ostbeauftragte der Bundesregierung einen neuen Bericht zur Lage in "Ostdeutschland" vorgelegt (siehe hier). Auf den reichlichen 176 Seiten ist rein faktisch nicht soviel Neues zu vermelden: Die Löhne im Osten sind immer noch signifikant niedriger als im Westen, die Arbeitslosigkeit in den Flächenstaaten ist in der Regel höher als in den Westländern (Ausnahme NRW), der Anteil von gebürtigen Ostdeutschen in Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung unterproportional. Wenig Wunder, dass der Bericht eher auf mediales Desinteresse stiess. Ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen der Landtagswahlen vom September in den Ländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Hier entfielen auf die Parteien, die die AfD "Altparteien", "Systemparteien" oder "Blockparteien" nennt (also CDU, SPD, FDP, Grüne und Linke) kaum noch die Hälfte der abgegebenen Stimmen, während AfD und BSW (letztere sozusagen "aus dem Stand" heraus) zusammengenommen fast ebenso viele Stimmen erhielten.

Die Kommentatoren in den Mainstream-Medien zeigten sich geschockt, dass die Ostdeutschen so "extrem" gewählt hatten, und zeigten sich wieder einmal besorgt darüber, ob diese Landsleute überhaupt "in der Demokratie angekommen" seien.

Klar ist jedoch, dass es offensichtlich einen tiefen Graben hinsichtlich den gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen zwischen den "alten" westdeutschen und den "neuen" ostdeutschen Ländern gibt, der in den über 30 Jahren seit der so bejubelten "Wiedervereinigung" scheinbar nicht kleiner, sondern tiefer geworden zu sein scheint.



b) Zusammengewachsen?

Dieser Graben erscheint umso auffälliger, als es in den Vorgängerstaaten, also BRD und DDR, 30 Jahre nach ihrer jeweiligen Gründung - also in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren - keine solche fundamentalen Spaltungen zu geben schien. Gewiss wurde manchmal über den "Weisswurstäquator" räsoniert, der die eher konservativen südlichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg von den "fortschrittlicheren" Ländern nördlich davon trenne. Andererseits war die 1976 von Franz-Josef Strauss ausgesprochene Drohung, die CSU auch ausserhalb Bayerns antreten zu lassen (der "Eklat von Wildbad Kreuth"), durchaus ernstgenommen worden: Sicherlich hätte eine rechts der CDU verortete Partei schon damals in den "Nordländern" durchaus reüssieren können, wie u.a. später die Erfolge von Schill-Partei oder den sogenannten Republikanern zeigen sollten.

Auch die medial manchmal herausgestellten Unterschiede ("in Bayern ticken die Uhren anders") waren ja eher folkloristischer Natur, und niemand unterstellte den jeweils anderen Landsmannschaften pauschal, nicht "in der Demokratie" bzw. - bezogen auf die DDR - nicht "im Sozialismus angekommen" zu sein.



c) "Willensnation"

Dieser Begriff ist in Deutschland wenig gebräuchlich und taucht folgerichtig in einem "Volkslexikon" von 1978 garnicht erst auf. Wenn man dem entsprechenden Wikipedia-Artikel Glauben schenken mag, so ist dieser Begriff "Willensnation" auch geradezu speziell für die Schweiz geprägt worden. Denn im Unterschied zu den meisten anderen Nationen und Nationalstaaten ist die Schweiz ja nicht entlang ethnischer oder sprachlicher Gemeinsamkeiten geformt worden, sondern als Bund durchaus unterschiedlicher Ethnien, die auch heute noch ihre u.a. sprachlichen Unterschiede betonen.

Trotzdem fanden sich eben - der Legende nach - die Führer der Urkantone auf der Rütliwiese zusammen, um ihre im Laufe der Zeit erworbenen Freiheiten zu verteidigen. Der Begriff der (bürgerlichen) Freiheiten war dann auch bestimmend bei der Gründung des modernen Bundesstaates Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts. Der "Wille zur Nation" war offenbar nicht nur für die politischen Führer, sondern auch für die Mehrheit der Bevölkerungen Antrieb zur Staatsgründung.

Wenn wir etwas weniger streng nicht von "Willensnation", sondern von"nationalem Willen" sprechen wollen, so kann man auch in neuerer Zeit Beispiele finden.

Barbara Tuchman beschreibt in Ihrem Klassiker "The March of Folly" sehr schön das Erstaunen der amerikanischen Eliten anfangs der 1970er, dass eine "Bande von kleinwüchsigen Asiaten in schwarzen Pyjamas" *1 ihre, also die schon damals mächtigte Militärmaschinerie der Welt, hatte "besiegen" können. Und sie arbeitet schön heraus, dass dahinter ein "nationaler Wille", ein von der Mehrzahl der vietnamesischen Bevölkerung geteilter Wunsch nach einer ungeteilten, unabhängigen Nation Vietnam stand. Formuliert hatte diesen Wunsch u.a. schon bei den Versailler Konferenzen nach 1918 der damalige vietnamesische Delegierte Ho-Chi Minh, freilich ohne bei den damaligen "Grossen Drei" (Clemenceau, Lloyd George, Wilson) Gehör zu finden.

Ebenfalls als ein Beispiel für "nationalen Willen" könnte man auch die deutsche Nationalbewegung des 19. Jahrhunders auffassen. Schliesslich war es durchaus nicht selbstverständlich, dass sich die damals ja durchaus recht unterschiedliche Dialekte sprechenden Bürger der deutschen Länder und Fürstentümer als eine Nation fühlen sollten, trotzdem postulierten die Treffen auf z.B. Hambacher Schloss oder Wartburg genau dieses. Der später so idolisierte Bismarck war anfangs von eben dieser Nationanlbewegung garnicht angetan, sollte sie allerdings später sehr geschickt zur Bildung eines allerdings kleindeutschen Reiches *2 instrumentalisieren.

Schon in BRD und DDR war von diesem "nationalen Willen" nicht mehr viel übrig geblieben, nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs in gewisser Weise verständlich. In der DDR versuchte man die nationale Idee hinter dem zur Staatsreligion verklärten "wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus" zu verstecken, war aber andererseits fähig, die eigenen Geistesgrössen mit Nationalpreisen auszuzeichnen *3. In der BRD wiederum, die international jahrzehntelang auf ihrem Alleinvertretungsanspruch beharrte, war das Wort "national" durchaus verpönt - selbst das, was in anderen Staaten BNP oder Bruttonationalprodukt genannt wurde, erhielt den davon ablenkenden Namen "Bruttosozialprodukt". Dabei gab der Stolz auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, auf das sogenannte Wirtschaftwunder und die lang andauernde wirtschaftliche Prosperität, noch am ehesten Anlass zu Gefühlen nationalen Stolzes.



d) "Resozialisierung" der Ost-Bürger?

Nach den Wahlen in den drei genannten Bundesländern wurde in den (natürlich west-dominierten) Hauptmedien heftig darüber spekuliert, was denn nun im Osten "schiefgegangen" sei; besonders pikiert zeigte man sich darüber, dass auch in den Kreisen der Jungwähler AfD und BSW soviel Zuspruch erhalten hatten. Auch war ein Unverständnis darüber herauszuhören, dass die Menschen im Osten, denen man doch ab 1990 eine sozusagen gebrauchsfertige Demokratie samt dem "richtigen" Parteienspektrum frei Haus geiefert hatte, so abgestimmt hatten. War das nicht furchtbar undankbar gegenüber den westlichen Demokratie-Vorbildern gewesen? Oder wurde die "Spaltung der Gesellschaft" gar mit unlauteren Mttteln von insgeheim werkelnden Kreml-Agenten vorangetrieben?

Man könnte aber folgende Thesen oder Fragen in den Raum stellen:

1. Sind die Wahlergebnisse ein Zeichen mangelnder "Demokratiereife", oder zeigt die Abwahl von bislang die Regierung stellenden Parteien nicht im Gegenteil an, dass eine Grundfunktion demokratischer Wahlen sehr gut verstanden wurde?

2. Wird insbesondere die wirtschaftliche "Fusion" von BRD und DDR, gerade in der Rückschau, von zunehmend mehr Ostbürgern nicht als "Wiedervereinigung", sondern als Annexion aufgefasst?

3. Stellen nicht gerade Art und Ablauf der "Wiedervereinigung", u.a. durch die Ablehnung einer neuformulierten gesamtdeutschen Verfassung, für viele Ostbürger einen verständlichen Grund dar, den westlich dominierten Alt-Parteien zu misstrauen?

4. Deutet nicht gerade die Aufstellung eines "Ostbeauftragten der Bundesregierung" auf ein geradezu koloniales Verhältnis zu den "neuen Bundesländern" hin - so wie sich einst französische Regierungen "Repräsentanten der besiegten Völker" zulegten?

5. Kann die Ausrufung einer "Staatsräson", die sich den Erhalt eines spezifischen ausländischen Staates (in diesem Falle Israels) zum Ziel setzt, ausreichende Basis für ein modernes "Nationalgefühl" sein, welches die vielfach bemerkten innergesellschaftlichen Gräben zu überwinden hilft?

6. Hat die Europäische Union als explizit die "Nationalstaaten überwinden" wollendes Konstrukt, durch die immer weitgreifendere Verlagerung von Souveränitätsrechten, nicht die nationalstaatlichen Ordnungen weit mehr "delegitimiert", als es irgendeine Einzelpartei je vermocht hätte?

7. Will man gerade dem Volksteil, dem der seltene Glücksfall einer friedlichen Revolution gegen ein zunehmend oppressives Regime gelang, die vasallenhafte Unterstützung der Hegemonialpläne der USA in Osteuropa - also z.Zt. in der Ukraine - ernsthaft als "Verteidigung der Demokratie" verkaufen?

8. Und schliesslich: Was passiert, sollte sich der überall spürbare Unmut über die offensichtlich destruktive Politik der Ampelregierung auch im Westen in ähnlichen Wahlergebnissen niederschlagen? Wählt sich die Regierung dann, frei nach Bert Brecht, einfach ein anderes Volk?

(02.10.2024)



*1 Gemeint sind die Vietminh und Vietcong, die damals von Nordvietnam aus gegen zuerst die französische Kolonialarmee, später gegen die US-Armee kämpften.

*2 Deshalb "kleindeutsch", weil von den damaligen Proponenten eher ein grossdeutsches Reich inklusive Österreichs angedacht war. Als der Österreicher Hitler dieses "Grossdeutsche Reich" schliesslich verwirklichte, war allerdings der Staat schon zur Kriegsmaschine pervertiert.

*3 Unter vielen: Hanns Eisler, Bertolt Brecht, Christa Wolf, Manfred Krug - oder Klaus Fuchs, Manfred von Ardenne etc.


www.truthorconsequences.de