Eine Frage der ZEIT: Ist Russland besiegbar?


1.

Die ZEIT, immer mit dem Ohr an den grossen Weltereignissen, und um das hehre Ziel der Weiterbildung ihrer Leserschaft bemüht, will - beginnend mit Ausgabe 20/2025 - die "grossen Fragen unserer Zeit" klären:




Im ersten Teil widmet sich also Michael Thumann *1 der drängenden Frage, ob Russland, wie es seiner Ansicht nach die aktuelle Selbstdarstellung dort propagiere, unbesiegbar sei, oder doch nicht.



2.

Zunächst einmal verblüfft, dass Thumann und die ZEIT sich überhaupt diese Frage stellen. Denn eigentlich kann man schon in einem 1984 erschienenen Werk *2 von Barbara Tuchman folgende Feststellung finden:




Übersetzt: >"Ich weigere mich zu glauben, dass eine kleine viertklassige Macht wie Nord-Vietnam keinen Bruchpunkt haben sollte", sagte Kissinger im Verlaufe der Planungen. Er hatte vollkommen recht in der Feststellung, dass alles einen Bruchpunkt hat; der Test ist das Mass der benötigten Kraft [bzw. Gewalt].<

Das ist eigentlich nicht anders als in einer Materialprüfungsanstalt, wo man die Belastbarkeit von irgendwelchen Werkstoffproben ermittelt: Indem man die Kraft der hydraulischen Apparate soweit steigert, bis das Bauteil bricht.

Insofern erübrigt sich die Frage, ob man irgendein Land besiegen könne oder nicht - jedes Land kann "gebrochen" werden. Sondern es ist die Frage zu stellen, wieviel Gewalt man denn zur Erreichung des Ziels (Sieg durch Brechen des Widerstands) aufzubringen bereit ist *3. Und natürlich ist auch Russland besiegbar, die dafür nötigen Gewaltmittel lagern beispielsweise in den US-Raketensilos für Interkontinentalraketen, oder als Atombomben in der Eifel im Rahmen der sogenannten "nuklearen Teilhabe".

Die Gewaltmittel sind also da, die Frage ist also eher, bis zu welcher Eskalationsstufe Herr Thumann dieselben einzusetzen bereit wäre, um Russland endlich die angestrebte Niederlage beizubringen? Denn dass man eine solche herbeiführen müsste, ist die unhinterfragte Prämisse des ganzen Textes.



3.

Nun kann man Thumann und Co. nicht vorwerfen, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Ein "Sieg Heil!" kommt Ihnen bei ihrem verbalen Marsch gen Moskau nicht über die Lippen. Aber das "Slawa Ukrainiji", welches nach Thumann in Moskauer Küchen von Putin-kritischen Menschen geflüstert werde, möchte man doch medial verstärken (bis auch der letzte "Lumpenpazifist" in den Chor einstimmt?). Warum es aber nun absolut notwendig sei, Russland eine Niederlage beizubringen, wird nicht erläutert. Allerdings dient eine ganz steile These als Rechtfertigung, die schon im Subtitel formuliert wird: ", viele Niederlagen in der Geschichte Russlands eröffneten dem Land auch Chancen".

So gesehen sind ja die Kriegsanstrengungen der Ukraine und "des freien Westens" nur zum Besten Russlands! Aus purer Menschenfreundlichkeit haben wir also Maschinengewehre, Haubitzen und Panzer geliefert - warum sehen das die störrischen Russen einfach nicht ein? Sie sind offenbar ebenso "intransigent", wie es einst die Vietnamesen waren.

Um die These von den für Russland "segensreichen" Niederlagen zu unterfüttern, verweist der Autor auf die "vielen Debakel russischer Armeen in der Geschichte". Bis zum Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts geht sein Blick. Und nur weil die Russen schliesslich den französischen und britischen Armeen auf der Krim unterlagen, konnte nach Thumanns Lesart ein neuer Zar (Alexander II.) danach umfassende Reformen einleiten, u.a. die Aufhebung der Leibeigenschaft *4. Mit welchem (besseren) Recht damals Franzosen und Briten auf der Krim militärisch unterwegs waren, verschweigt Herr T. jedoch.

Freilich lässt sich das Argument der "lehrreichen Niederlagen" auch mühelos umkehren: Hatte nicht die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs 1918 zur Ablösung durch einen, wenn auch mannigfach belasteten, ersten demokratischen Staat (Weimar) geführt? Hatte nicht die bedingungslose Kapitulation 1945 dann zur Schaffung der, zumindest nach Selbstbeschreibung, vorbildlichen Demokratie der BRD geführt? Interessanterweise setzt Thumann eben jene bedingungslose Kapitulation des Nazi-Reichs in Anführungszeichen - war sie seiner Ansicht nach keine "wirkliche" Kapitulation? Ist er am Ende ein verkappter Reichsbürger, der die Niederlage des Deutschen Reichs nie verwunden bzw. akzeptiert hat? *5



4.

Übrigens erweisen sich "die Russen", oder zumindest einige DUMA-Abgeordnete, wieder einmal als gelehrige Schüler. Da ihrer Ansicht nach "die Deutschen" die Lehren von 1945 entweder verdrängt oder vergessen hätten, sei es an der Zeit, ihnen wieder einen "Lektion" zu erteilen. Die ganz extremen Vertreter dieser These schlagen sogar den Demonstrations-Einsatz einer Atomwaffe, z.B. in der Deutschen Bucht, vor - um die Risiken fortschreitender Eskalation unmissverständlich deutlich zu machen (wobei sie interessanterweise an Überlegungen von US-Atomforschern vor dem erstmaligen Einsatz in Hiroshima anknüpfen).

Zurück zu den vermutlich gut besoldeten Autoren der beiden Artikel auf der ZEIT-Doppelseite. Im Interview mit dem Historiker und "Russlandkenner" *6 Gerd Koenen erklärt jener den Krieg an der Ostfront sehr gelehrt als "tellurisch": "Der Luftkrieg der Westallierten war unpersönlich, technisch, abstrakt, der im Osten konkret, physisch und wahrhaft total." Da ist er wieder, der Glaube an den "chirurgischen", "sauberen" Luftkrieg, der ja von den Luftwaffen schon damals gerne verbreitet wurde. Allerdings fürchte ich, dass die damals vom Luftkrieg hauptsächlich betroffenen Zivilisten die Sache durchaus nicht als "unpersönlich, technisch, abstrakt" wahrnahmen. Ein von einer Bombe zerfetztes Kind sieht vermutlich auch nicht "abstrakter" aus als ein von einer Artilleriegranate zerfetzter Soldatenleib, ein von einstürzenden Mauern Erschlagener auch nicht besser als ein mit dem Gewehrkolben Getöteter.

Aber möglicherweise finden wir in den genannten biografischen Daten einen Hinweis auf Motivationen. "Einer meiner Onkel ist vor Leningrad gefallen, der andere in Stalingrad in Gefangenschaft geraten." Zu "Stalingrad" wird den zumeist gebildeten ZEIT-Lesern schon etwas einfallen, aber zu "Leningrad" vielleicht nicht. Was trieb denn die Wehrmacht damals überhaupt vor Leningrad (dem heutigen Sankt Petersburg)? Es handelte sich um die schliesslich über zwei Jahre andauernde, nahezu totale Blockade einer Millionenstadt mit dem ausdrücklichen Ziel, möglichst viele Bewohner umzubringen - entweder durch Beschuss und Bombardierung oder durch verhungern und erfrieren lassen. Hunderttausende Leningrader kamen bei dieser Aktion um. Davon redet Herr Koenen allerdings nicht.

Ganz im Gegenteil: "Es war auch nicht Russland, das die Hauptlast der deutschen Kriegsverbrechen, der Vormärsche und Versklavungen erleiden musste. Das waren nach Polen vor allem die heutige Ukraine und Belarus - und überall natürlich die Juden." Und es folgt eine faustdicke Lüge: "Putin nimmt das alles allein für das heutige Russland in Anspruch..." Genau das tut er ausweislich seiner entsprechenden Reden nämlich nicht. Da werden die damaligen Völker der Sowjetunion durchaus genannt, und es erfolgt auch kein Aufrechnen der jeweiligen Opferzahlen.

Aber Wefing, Thumann und Koenen brauchen diese verzerrte Darstellung, um "Putins Russland" eine weitere Schandtat anhängen zu können. Denn genau diese Opfererzählung werde instrumentalisiert, um den Deutschen ein schlechtes Gewissen einreden zu können, neben dem "Mythos von der russischen Unbesiegbarkeit". Nur so seien die "prorussischen Reflexe von AfD und BSW "erklärbar - wohlgemerkt also einfach unbewusste "Reflexe", denn in diesen Parteien kann es ja gar kein ernsthaftes Nachdenken über die Geschehnisse geben.

Fast möchte man sagen, dass Koenen und Co. den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Denn die beklagte "Instrumentalisierung einer Opferrolle" gibt es ja durchaus in der BRD, und zwar seit Jahrzehnten und seit dem 7.Oktober 2023 noch einmal vervielfacht. Und es ist nicht Russland, sondern Israel, welches geradezu zwanghaft die Opferrolle bestätigt haben möchte. Und die deutschen Regierungsdarsteller machen da seit Merkel mit grossem Elan mit - man denke an die in letzter Zeit grassierende "Kippa"-Welle auf den Köpfen von Scholz, Steinmeier und Konsorten.

Schliesslich sei ja die "Existenz des Staates Israel Teil der deutschen Staatsräson", wie es damals Kanzlerin Merkel verkündete. Dass, wenn es jemals zu einem halbwegs erträglichen Friedenszustand im Land der Bibel kommen soll, sich der Staat Israel, um ein Modewort zu gebrauchen, "neu erfinden" müsste, möglicherweise sogar in einem ganz anderen, binationalen Staatsgebilde aufgehen müsste - daran wollen unsere politischen Eliten lieber nicht denken.



5.

In Russland soll es noch immer eine hohe Wertschätzung der Deutschen als "Volk der Dichter und Denker" geben. Gedacht wird hierzulande allerdings einiges, wie wir an den Texten von Thumann, Wefing und Koenen erkennen können. Und die Autoren geben sich ja gar als Menschheitsbeglücker aus, wenn sie "Putins Russland" endlich die Niederlage beifügen wollen, die dem Land wieder "Chancen" eröffnen werde.

Vielleicht sind die aktuellen deutschen Eliten von demselben menschheitsbeglückenden Impetus angetrieben wie ein anderer Deutscher vor fast 100 Jahren: "Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn."*7 Aus "dem Juden" der Hitlerzeit ist "der Russe" der Jetztzeit geworden, denn unser derzeitiger Aussenminister Wadephul hat ja schon im Dezember erkannt: "Russland wird für uns immer ein Feind sein!".

Ob es in einer Welt der neuen Bündnisse, in denen der Verbündete von gestern schon morgen ein Antagonist sein kann und umgekehrt, wirklich sinnvoll ist, ein Land "für immer" zum Feind zu erklären? Und wessen Interessen haben wir eigentlich mit der deutschen Beteiligung am Ukraine-Desaster befördert?

Wenn Krieg "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist", wie es Clausewitz formulierte, dann gilt auch dafür der bekannte Satz "Politik ist die Kunst des Möglichen". Oder zurück zum Satz "the test is the degree of force applied": Mit was will denn z.B. der Herr Thumann den Krieg fortsetzen? Einige Seiten vor dem letztgenannten Zitat erinnert Frau Tuchman an eine universelle Regel: "Do Not Repeat What Has Already Failed" *8

Was erhoffen sich also unsere EU-"Kriegsgötter" Macron, Merz, Starmer, Tusk und Co. von dem "17. Sanktionspaket gegen Russland"? Sicher war der bisherige Kriegsverlauf in Thumanns Sinne insofern "befriedigend", als das Gemetzel bislang (fast) nur das Blut von Ukrainern und Russen forderte *9. Aber das muss nicht so bleiben.



6.

An Phrasen herrscht in Kriegszeiten kein Mangel. Dem "Peace with Honor" aus der Nixon-Zeit entspricht das heutige Gerede vom "Gerechten Frieden", der "Unverletzlichkeit der Demarkationslinie am 17. Breitengrad" entspricht die "Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine". Auch kein Mangel herrscht an Journalisten, die wie Herr Thumann die scheinbar beruhigende Erkenntnis, dass Russland nicht unbesiegbar sei, dem noch behaglich auf dem Sofa weilenden Bundesbürger nahebringen und die Angst vor weiterer Eskalation nehmen wollen.

Was unseren Sessel-Strategen der ZEIT entgangen sein mag, ist, dass auch ein "nur konventionell" ausgetragener direkter Krieg zwischen Deutschland und Russland fürchterlich sein wird - egal ob nun hauptsächlich "unpersönlich, technisch, abstrakt" oder "konkret, physisch und wahrhaft total" geführt.

Aber wahrscheinlich werden unsere treuen Transatlantiker im Fall der Fälle ihre guten Beziehungen spielen lassen und dem selbst mit angerichteten Chaos aus sicherer (US-)Distanz zuschauen.



7.

Vor etwas mehr als hundert Jahren, genauer im Spätsommer 1914, zogen Millionen europäischer Männer in den Krieg, der später als "Der Grosse" und noch später als "Der Erste Weltkrieg" bezeichnet werden sollte. Heutigen TV-Zuschauern fallen dazu die oft wiederholten verwitterten Kinobilder ein, in denen Heerscharen junger Männer voller Begeisterung in die bereitgestellten Züge strömen. Das dürfte ein etwas verzerrtes Bild sein, denn die nicht jubelnden Soldaten wurden von den damaligen Kameramännern natürlich nicht aufgenommen.

Andererseits gab es, Auswertungen von Tagebuchnotizen, Briefen, Zeitungsartikeln und ähnlichen Dokumenten zeigen es, tatsächlich bei vielen eine echte Kriegsbegeisterung. Und zwar wohl gerade bei der sehr grob als "Intellektuelle" zu umschreibenden Personengruppe. Diese doch eigentlich nach jahrzehntelanger Friedenserfahrung (immerhin von 1871-1914) überraschende Kriegsbegeisterung scheint sich aus verschiedenen Quellen gespeist zu haben: Manchmal aus übersteigertem Nationalgefühl, aber oft auch aus einer Sehnsucht heraus, die als erstarrt wahrgenommenen Verhältnisse der Vorkriegszeit nun endlich mit entschlossener Tat zu erschüttern; dem Willen, aus den Trümmern der "alten" Welt eine neue Welt zu formen. Eine, die je nach Gusto des Schreibers mit einer der damals zuhauf angebotenen neuen Ideologien ausgefüllt sein sollte.

Auch gab es wohl nicht selten schlicht einen Überdruss an der langweilig-friedlichen Welt der Jahrhundertwende. Krieg versprach Aktion, Bewährung im Kampf, aber auch neues Nachrichtenfutter für die Heerscharen der Journalisten der mit der Industrialisierung zu Massenmedien angeschwollenen Zeitungen. Auch die Unternehmer der Schwerindustrie wollten gerne zeigen, was in den neuen "Superkanonen" steckte - und dabei natürlich auch mehr Profit machen.

Was auch immer unsere neuzeitlichen Kriegstrommler vom Schlage der Thumanns, Wefings und Koenens antreiben mag - es wird Zeit, diesen ein entschiedenes "NEIN zum Krieg" entgegenzusetzen.



(20. Mai 2025)



*1 Auf der dem Thema gewidmeten Doppelseite findet sich neben Thumanns Beitrag noch ein Text, der von ihm zusammen mit Heinrich Wefing nach einem Gespräch mit dem "Russlandkenner" Gerd Koenen verfasst wurde.

*2 Barbara Tuchman: "The March of Folly - From Troy to Vietnam" - Seite 453

*3 In der Textstelle geht es um die von der damals (1969/1970) neuen Nixon-Regierung angedachten Massnahmen, um den Widerstand der nordvietnamesischen Regierung zu brechen. Eine "November option", ein "savage blow" oder "decisive blow" wurden diskutiert, aber dann jedoch zugunsten "kalibrierter Schläge" verworfen - schliesslich wollte man den Gegner zu einem "Peace with Honor" (für die USA) zwingen. Im Hintergrund ging es auch dabei weniger um das Vorhandensein von Machtmitteln auf Seiten der USA, sondern darum, wie weit man gehen wollte, um die Fiktion eines "freien Südstaates" in Vietnam aufrecht zu erhalten.

*4 Dass diese Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 somit vier Jahre VOR der Abschaffung der Sklaverei in den USA erfolgte, verschweigt Thumann lieber.

*5 Die Fortexistenz des Deutschen Reichs hatte ja - soweit bekannt bis heute juristisch unwidersprochen - das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1973 postuliert.

*6 Wenn man nur endlich wüsste, was solche "Experten" nun genau zu "Russlandkennern" macht …

*7 Adolf Hitler, zitiert nach Sebastian Haffner

*8 "Wiederhole nicht das, was bereits fehlgeschlagen ist" (Seite 450 - Gross-Schreibung im Original) . Eine Abwandlung des bekannten Einstein-Bonmots "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder dasselbe zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."

*9 Sicher ist, dass auch schon Soldaten anderer Nationen getötet wurden - sehr wahrscheinlich u.a. aus Polen, Frankreich und den USA. Aus verständlichen Gründen mag aber keine der Kriegsparteien dazu genaue Angaben machen


www.truthorconsequences.de