Minister Gabriel beim Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart - TTIP


Im Juni 2015 hatte ich Gelegenheit, bei der Veranstaltung "Big Brother, Big Business, Big Family? - TTIP und die transatlantische Wertegemeinschaft" auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart anwesend zu sein.


Prominentester Teilnehmer war fraglos Bundesminister und "Vizekanzler" Sigmar Gabriel. Natürlich hatte ich nicht erwartet, von ihm wesentlich neue Aspekte zu erfahren. Aber zumindest erahne ich jetzt, wie eine eigentlich so farblose Gestalt wie Gabriel Vorsitzender der SPD werden konnte.


Auffallend war, wie fleissig sich Gabriel während der Vorträge der anderen Redner Notizen machte. Ob nun aufgrund dieser Notizen oder durch intensive Vorbereitung - jedenfalls war sein Auftritt wie massgeschneidert für dieses Publikum. Nachdem ihm ein Grossteil des Publikums mit Schildern "Stoppen Sie TTIP" bzw. "Stoppen Sie CETA" empfangen hatte und ihm CAMPACT-Vertreter dicke Unterschriftenlisten gegen TTIP/CETA überreicht hatten, trat er in seiner Eröffnungsrede gespielt bescheiden auf ("da habe ich jetzt die Arschkarte") und schlug scherzhaft vor, man könne "ja jetzt nach Hause gehen, weil alles klar sei".


In seiner Eröffnungsrede hatte Bischof Bedford-Strohm darauf hingewiesen, dass er eine Entscheidung zu TTIP nicht gutheissen könne, wenn TTIP die Lage der Ärmsten bzw. der ärmsten Länder weiter zu verschlechtern drohe. Gabriel griff den Gedanken geschickt auf und versuchte die laufenden Verhandlungen als den Versuch darzustellen, aus TTIP doch eine wegweisende Freihandels-Vereinbarung zu machen, die die wesentlichen Errungenschaften der (vom Moderator Frey hervorgehobenen) "Sozialen Marktwirtschaft" erhalten könne. Es drohe ansonsten womöglich eine Vereinbarung zwischen den USA und China, die wesentlich schlechtere Standards etablieren würde.

Worin nun der Zusammenhang zwischen dem Freihandelsabkommen USA-Europa und eventuell nachfolgenden Abkommen z.B. zwischen USA und China genau besteht, wieso das eine überhaupt eine Auswirkung auf das andere haben muss, blieb natürlich ungeklärt.


Aber Gabriel packte die Teilnehmer mehrfach an ihrer sozusagen "christlichen Ehre", dass man doch auf jeden Fall "miteinander reden" müsse und nicht einfach weitere Verhandlungen ausschlagen dürfe. Nun ist "miteinander reden" und "miteinander verhandeln" durchaus nicht deckungsgleich. Im Hinblick auf ein wirtschaftliches Zweckabkommen ist das Einfordern "christlicher Gesprächsbereitschaft" doch eher fehl am Platz.


Mehrfach distanzierte sich Gabriel vom früheren EU-Verhandlungsführer de Gucht; dieser habe schwere Fehler gemacht, u.a. durch die exzessiv betriebene Geheimhaltung. Mit der Nachfolgerin, Frau Malmstrom, seien schon wesentliche Fortschritte in Richtung Transparenz erreicht worden. Aber auch hier redet der Minister eigentlich um den Kern der Sache herum. Wieso soll es überhaupt erforderlich sein, zur "Stärkung der eigenen Verhandlungsposition" Ziele und Positionen geheimzuhalten ? Jeder Gewerkschaftsführer könnte Gabriel bestätigen, dass die eigene Position umso stärker wird, je klarer man die eigenen Ziele bestimmt und je mehr öffentliche Zustimmung man dafür sammeln kann. Da liegt es doch nahe, dass die EU-Positionen gerade deshalb der Geheimhaltung oder Verschleierung bedürfen, weil sie in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig wären.


Dabei ist der Moment, in der der Minister seine Verblüffung darüber äussert, dass er, um Einsicht in die TTIP-Unterlagen zu bekommen, sich wie ein Bittsteller mit dem Ausweis in der Hand zu einem "Datenschutzraum" begeben muss (und wo er weder Kopien noch Notizen anfertigen darf), doch noch der ehrlichste seiner Rede. Nur zieht er daraus leider keine Schlüsse - darf so ein Verfahren in einer Demokratie überhaupt sein ?


Stattdessen brüstet er sich gern mit seinen eigenen, langjährigen Erfahrungen als Umweltminister auf verschiedenen internationalen Kongressen. Man müsse eben Geduld haben, mit Kompromissen leben, um zur Not auch etwas nicht optimales erreichen zu können.


Für viele Zuhörer tatsächlich etwas Neues berichtet er, wenn er die umstrittenen "Schiedsgerichte" als "deutsche Erfindung" bezeichnet, die es in vielen zwischen der Bundesrepublik und ärmeren Staaten abgeschlossenen Handelsverträgen längst gibt. Auch dies ist wieder sehr geschickt: Denn so erzeugt er in seinen Zuhörern ein kollektives Schuldgefühl für die von der BRD sozusagen aufoktroyierten Verträge.

Nur werden ja dadurch die Schiedsgerichte selbst um keinen Deut besser; allenfalls könnte es darum gehen, sie aus den bestehenden Verträgen nach und nach wieder herauszunehmen.


Denn der grundsätzliche Fehler der ganzen Schiedsgerichtsbarkeit, dass hier nämlich einer gesellschaftlichen Gruppierung (den Grosskonzernen) eine Sondergerichtsbarkeit neben und über den öffentlich-staatlichen Gerichtsbarkeiten eröffnet wird, wird vom Minister natürlich nicht erwähnt. Darauf hinzuweisen, dass hier ein eigentlich überflüssiges Dritt-System kreiert wird (denn sowohl in den USA als auch in der EU ist ja durchaus kein Mangel an Rechtsvorschriften und sie umsetzenden Justizorganen) - dies bleibt Herrn Dr. Efler in der nachfolgenden Diskussion vorbehalten - aber da ist der Minister längst zu wichtigeren Terminen entschwunden.


Davor hat aber Herr Gabriel noch reichlich Gelegenheit, seine bereits in vielen Medien dargestellte Idee einer "offiziellen" internationalen Handelsgerichtsbarkeit nochmal gross herauszustellen. Aber auch hier lieber kein Wort darüber, warum diese denn überhaupt besser sein soll als die bisher vorgesehenen Schiedsgerichte.


Interessanterweise beleuchtet erst die anschliessende Podiumsdiskussion viele Detailprobleme. Neben Herrn Dr. Efler erweist sich Frau Füllkrug-Weizel von der evangelischen Diakonie als recht kompetent. Sie weist auf die generell schwache Datenbasis zu den erhofften (oder befürchteten) wirtschaftlichen Effekten hin. Ihre Befürchtung, dass ein durch TTIP möglicherweise erhöhter Umsatz zwischen den Regionen USA und EU durchaus zu Lasten der weniger entwickelten Länder gehen könnte, wird zwar von den Befürwortern (Herr Güllner und Herr Sparding) mit dem prinzipiell richtigen Satz, dass Wirtschaft kein Nullsummenspiel sein müsse, gekontert.

Aber bessere Fakten können auch sie nicht liefern.


Was bleibt mein Eindruck vom Minister Gabriel ? Da ist jemand offensichtlich nicht unbegabt, die spezifischen Angriffspunkte einer (Saal-)Öffentlichkeit zu erkennen und aufzugreifen. Aber erkennbar wird auch, wie sehr dieser Mann in den Mechaniken des Politbetriebes gefangen ist. Soweit, dass ihm das "working the levers", das Mitmachen bei allerhand Konferenzen und Kommissionen, schon als eigentlicher Politikzweck erscheint - und dabei total vergessen hat, wozu und warum das ganze eigentlich geht. Und der die wichtigste Frage "cui bono ?" leider schon komplett vergessen hat oder erfolgreich verdrängt.


Meines Erachtens kann man die Frage des "cui bono ?" bei TTIP und CETA mittlerweile recht eindeutig beantworten. Und dabei geht es nicht um ein "die USA gegen die EU", sondern vielmehr um ein "Grosskonzerne gegen den Rest der Welt", und erst daran anschliessend um "grosse Staaten mit grossen Konzernen" gegen "kleine Staaten ohne Grosskonzerne". Dass mehrtausendseitige Verträge schon für sich ein "Handelshemmnis" für kleinere Firmen sind, versteht sich nach einiger Überlegung von selbst. Dass das Mittel des Schiedgerichtsverfahrens aufgrund der praktischen Zugangshemmnisse (Anwaltskosten, Reisekosten, Vorbereitungskosten) im Endeffekt ein Recht nur für die ganz grossen Firmen sein wird, ist leider auch absehbar.


Aber daraus erklärt sich auch, warum die Verhandlungen überhaupt angestossen wurden und weitergehen. Denn die Grosskonzerne, die sich so mehr Einfluss und Profit sichern wollen, gibt es ja auf beiden Seiten des Atlantiks. Ob bei irgendeinem spezifischen Punkt des Vertragswerkes der Vorteil eher auf der europäischen oder der amerikanischen Seite liegen wird, ob also im Endeffekt eher ein Konzern wie Siemens oder General Electrics mehr Vorteile davon hat, lässt sich schwer voraussagen. In dem Sinne, dass kleineren Wettbewerbern dadurch das Wirtschaften erschwert wird, ist TTIP dann für beide Grosskonzerne vorteilhaft. Und insofern, als alle diese Schritte ja zur weiteren Entmachtung der ehemals "souveränen" Staaten beitragen, ist die Sache auch den kleineren Unternehmern schmackhaft zu machen.


Erst im Nebengang sind diese Verhandlungen klassisch (geo-)politisch geprägt. Das bewusst arrogante Verhalten der US-Seite lässt zwar das berühmte "fuck the EU" fast zur Koseformel werden. Aber das sind nur Begleitumstände, sozusagen Überreste einer einstmals wirklichen staatlichen Souveränität.


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Manch einer mag sich nach Gabriels emphatischen "wir müssen doch miteinander reden" gedacht haben, dass ein Weiterverhandeln vielleicht doch etwas bringt. Gäbe es überhaupt Gründe, die Verhandlungen "einfach so" abzubrechen ?


Dazu ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, man sei Einkaufsleiter einer mittelständischen Fabrik. Nachdem man über Jahre ohne jede Vertragsbindung gute Geschäfte mit einem Zulieferer aus den USA gemacht hat, macht dieser den Vorschlag, das ganze auf eine vertragliche Grundlage zu stellen. Die Geschäftsleitung will auf die Idee eingehen, da man befürchtet, in Zukunft vielleicht nicht mehr so pünktlich beliefert zu werden. Die US-Seite liefert also einen überaus umfangreichen Vertragsentwurf. Aber schon beim ersten Überfliegen stellen Sie unmöglich akzeptierbare Punkte fest. Den daraufhin überarbeiteten nächsten Vertragsentwurf erhalten Sie nun nicht mehr direkt. Stattdessen sollen sie zur deutschen Niederlassung des US-Unternehmens nach Bebra fahren, dort lägen die Papiere in einem speziellen Raum zur Einsichtnahme bereit, allerdings nur Mittwochs zwischen 17h und 17:30h, und nur in ungeraden Kalenderwochen.

Das klingt nun schon ein bisschen nach Schikane, aber - die Geschäftsleitung will es so - sie fahren also nach Bebra und treffen auch pünktlich ein. Im Datenraum wird ihnen erklärt, dass sie weder Kopien noch Abschriften machen dürfen. Nun, sie versuchen, sich die wichtigsten Sachverhalte einzuprägen, und nach einen halben Stunde sind sie auf dem Weg in ihr Hotel, wo sie überraschend früh eintreffen. So überraschend, dass sie die beiden Männer vom Werksschutz der US-Firma, die ihr Zimmer aufgebrochen haben und ihre Sachen durchwühlen, in flagranti erwischen.


Würden Sie mit dieser Firma noch irgendetwas weiterverhandeln oder gar einen Vertrag abschliessen ? Wohl kaum.


Nun - all diese Umstände sind ja auch bei TTIP gegeben. Aus dem Leseraum "nur für Minister" in der US-Botschaft ist zwar mittlerweile (unter heftigem medialem Aufgeplustere des Ministers) ein Leseraum "nur für Mitglieder des Bundestags" im Wirtschaftministerium geworden. Aber die diversen Schikanen (nur Teil-Dokumente, nur in Englisch, keine Kopien und Notizen, keine Zitiererlaubnis etc.) sind ja geblieben. Und über die systematische Ausspähung etwa der Telefonkommunikation nicht nur der Regierungen in Berlin und Paris, sondern auch der EU-Einrichtungen in Brüssel hat uns ja Mr. Snowdon umfassend informiert.


Aber unsere Bundesregierung, namentlich die Kanzlerin und ihr "Vize", drängen genau darauf - dass TTIP möglichst rasch abgeschlossen werden soll. Wessen Interessen vertritt da die Bundesregierung eigentlich ?



(Juni 2015, überarbeitet April 2016)







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