Eine Villa und ein Verbrechen


"Es ist des Menschen Verhängnis, dass er vergisst." *




  1. Am Ufer des Wannsees in Berlin steht eine Villa, die vor rund 100 Jahren für einen der damals wohlhabend gewordenen Berliner Kaufmänner errichtet wurde. Der Standort galt damals sicherlich als "Top"-Lage, die Terrasse bietet einen herrlichen Blick über den See.

    Rund 20 Jahre später hatte die SS die Verfügung über das Gebäude. Nach dem Krieg erlebte das Gebäude einige Zwischennutzungen, unter anderem als Kinderheim. In den heutigen Stadtplänen ist die Villa als das "Haus der Wannseekonferenz" eingetragen. Sie ist nunmehr Gedenkstätte und beherbergt eine sehr sehenswerte Ausstellung zur Konferenz vom 20.Januar 1942 sowie der Vor- und Nachgeschichte.

  2. Früher wurde die "Wannseekonferenz" oft verkürzt als "die Konferenz, auf der die Endlösung der Judenfrage beschlossen wurde" dargestellt.

    Wie aber schon aus dem Bevollmächtigungschreiben von Göring an Heydrich hervorgeht, war die "Endlösung der Judenfrage" eigentlich schon beschlossen. Hier ging es eher um "Gesamtplanungen" und "Abstimmung mit anderen Zentralinstanzen des Deutschen Reiches". Den sehr guten Ausführungen der Ausstellung dazu ist hier eigentlich nichts hinzuzufügen. Wozu ich hier noch einige Anmerkungen anbringen will, ist zum einen der Teilnehmerkreis, zum anderen die Terminierung dieser Konferenz.

  3. In der Haupthalle der Villa, dem eigentlichen Ort der Konferenz von 1942, sind auf einer grossen Tafel alle 15 Teilnehmer der Konferenz mit allen wichtigen Angaben zu Funktion und Stellung abgebildet. Neben Reinhard Heydrich, der als Chef des "Reichssicherheitshauptamtes" zur Konferenz eingeladen hatte und diese auch leitete, waren 5 weitere SS-Funktionäre anwesend, teilweise in Doppelfunktion als Leiter anderer Behörden, z.B. des "Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS". Das Reichministerium für die besetzten Ostgebiete stellte 2 Teilnehmer, alle anderen Behörden waren durch jeweils einen Ministerialdirektor oder Staatssekretär vertreten (Justiz, Aussen- und Innenministerium, Partei- und Reichskanzlei, Generalgouvernement Polen sowie mit dem Amt des "Beauftragten für den Vierjahresplan" ein Mann aus Görings Haus). Ein Vertreter des Propagandaministeriums war eingeladen, musste aber kurzfristig absagen. Allerdings sind 2 oder 3 Ministerien bzw. Behörden nicht vertreten, die doch für das "Gelingen der Endlösung" wichtig waren:

    Zum einen die Reichsbahn bzw. das Verkehrsministerium (was de-facto das gleiche war, wurde doch das Verkehrsministerium seit 1937 in Personalunion vom langjährigen Reichsbahnpräsidenten Dorpmüller geleitet). Dann das "Reichsministerium für Bewaffnung und Munition" mitsamt der "Organisation Todt", wiederum in Personalunion zunächst von Fritz Todt, dann ab Februar 1942 von Albert Speer geleitet. Und schliesslich die Wehrmacht, die doch die Einschliessung des "Ostraumes" erst möglich machte.

  4. Zur Terminierung des Konferenz - wieso sie also, ursprünglich für den 9. Dezember 1941 anberaumt, dann auf den 20. Januar 1942 verschoben wurde - bieten die Tafeln der Ausstellung folgende Erklärung: Demnach bot der im Juni 1941 begonnene Krieg gegen die Sowjetunion nunmehr neue Räume und Gelegenheiten, die "Vernichtung des europäischen Judentums" anzugehen. Das ist sicher nicht falsch, aber als Erklärung auch irgendwie unbefriedigend. Denn Vertreibungen, Konzentrationslager und Massenerschiessungen hatte es ja schon seit Kriegsbeginn 1939 gegeben. Man hätte ja auch einfach im Rahmen der bestehenden Strukturen weitermachen und die sich neu bietenden Gebiete und die neuen Techniken (Zyklon B) nutzen und damit die Tötungsraten nach oben treiben können. Wozu also überhaupt die Konferenz und wieso gerade jetzt ?

  5. An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich, in das Jahr 1916 zurückzublenden. Damals wütete der erste Weltkrieg bereits 2 Jahre. Kurz nach Kriegsbeginn hatten sich die teilweise jahrzentelang vorbereiteten Feldzugspläne aller kriegführenden Staaten als Makulatur herausgestellt - nirgendwo war es "nach Plan" gegangen. Im Westen waren alle Bewegungen im Stellungskrieg festgefroren - im Osten gab es teilweise überraschende Wendungen und "Erfolge", aber auch hier war kein wirklicher Durchbruch abzusehen. Nun forderte der neue US-Präsident Wilson, der sein Land geradezu verzeifelt neutral zu halten suchte, die europäischen Mächte zu einem Verhandlungsfrieden auf. Und interessanterweise ergab sich daraus im Deutschen Reich eine öffentliche Diskussion darüber - sowohl im Parlament als auch in den "Medien" (damals hauptsächlich die Zeitungen). Diese sogenannte "Kriegszieldebatte" wirkt aus der Rückschau - mit der Gewissheit, dass der Krieg 2 Jahre später mit der Kapitulation des Deutschen Reiches enden sollte - natürlich bizarr. Eine Funktion hatte sie natürlich trotzdem - hätte man sich tatsächlich auf einen Forderungskatalog einigen können, so hätte man 1918 (aber vielleicht auch schon früher) mit einiger Aussicht auf Erfolg in Verhandlungen eintreten können.

  6. Im 3. Reich Adolf Hitlers gab es natürlich keine öffentliche Kriegszieldebatte - weder vor noch nach Kriegsbeginn. Allerdings gab es etwas ähnliches, nämlich verschiedene Unterredungen Hitlers mit der Wehrmachtsführung (vgl. z.B. das Hoßbach-Protokoll von 1937). Hierin eröffnete der "Führer" seinen festen Willen, einen Krieg um "Lebensraum" im Osten zu führen - wenn möglich unter Neutralhaltung Grossbritanniens. Dieses allgemeine Ziel - Krieg im Osten - stiess durchaus auf Zustimmung bei den Wehrmachtsgeneralen, hatten sie doch ebenso wie Hitler aus dem Verlauf des ersten Weltkrieges die Überzeugung gewonnen, dass "das Riesenreich im Osten" besiegbar und eine grosse Machterweiterung des Reiches möglich war.

  7. So gesehen war es kein Zufall, dass die Wannseekonferenz nach dem Scheitern des "Grossblitzkrieges" gegen die Sowjetunion, die sich mit dem Winterbeginn 1941 manifestierte ("...von diesem Kulminationspunkt … kein Sieg mehrr errungen werden konnte..." - so das Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes), anberaumt wurde. Folgt man Sebastian Haffner, so liess Hitler im Dezember 1941 das politisch-militärische Ziel eines vielleicht vom Atlantik bis zum Ural herrschenden "Super-Grossdeutschlands" fallen und widmete sich umso intensiver seinen schon immer gehegten Plänen der Ausrottung aller Juden in Europa. Oder - um wieder Haffner zu zitieren - der "Politiker Hitler dankte endgültig zugunsten des Massenmörders Hitler ab". In diesem Sinne war die Wannseekonferenz die deutlichste Art, die es innerhalb des Systems geben konnte, um das neue Kriegsziel "Vernichtung der Juden" auszugeben - so "öffentlich" wie nötig und so geheim wie möglich. Nun erklärt sich auch die Teilnehmerliste: Beteiligt waren alle Stellen, die entweder direkten Zugriff auf die "Zielgruppe" hatten (Generalgouvernement Polen und die besetzten Ostgebiete, das Innenministerium, die SS mit den bestehenden Lagern) oder aber den Zugriff z.B. auf formal unabhängige Staaten sicherstellen sollten (das Aussenamt, die Gestapo etc.). Der Transportdienste der Reichsbahn war man sich offensichtlich ohnehin sicher, da erschien eine offizielle Involvierung wohl unnötig oder vielleicht gar als Risiko. Ähnlich bei der Wehrmacht: Zwar hatten Teile der Wehrmacht (wie man heute weiss) auch an Mordaktionen im Osten aktiv teilgenommen, aber die Organisation insgesamt war in dieser Hinsicht vielleicht doch ein "unsicherer Kantonist" - wie ja (allzu spät) die Konspiration zum 20. Juli 1944 zeigen sollte.

    Bleibt die Abwesenheit von Rüstungsamt bzw. Organisation Todt. Vielleicht hatte man Angst, dass einer der schlauen Jungs von Todt oder Speer mit dem Rechenschieber bewiesen hätte, dass sich die Produktion von Granaten um x Prozent steigern liesse, wenn man den KZ-Arbeitern für eine Weile doch höhere Lebensmittel-Rationen zugestanden hätte ? Möglicherweise war die Nicht-Einladung aber nur irgendwelchen persönlichen Animositäten geschuldet, die es ja in der Führung des Dritten Reichs zuhauf gab.

  8. Das Deutsche Reich hatte nunmehr ein neues Kriegsziel - freilich eines, dass man nun wirklich nicht publizieren konnte. Ob es auch den Teilnehmern bewusst war ? Manch einer mag geglaubt haben, dass es sich um eine harte, aber irgendwie notwendige Zuspitzung des Krieges handelte. Aber es war wohl auch allen bewusst, dass hier ein Verbrechen vor sich ging - sonst hätte man nicht gegen Kriegsende alle betreffenden Schriftstücke sorgsam vernichtet (das einzig "überlebende" Protokoll-Exemplar, welches dann auch in den Nürnberger Prozessen verwendet wurde, war wohl eher zufällig in die "normale" Archivierung des Aussenamtes geraten). Die schon seit Kriegsbeginn laufenden monströsen Verbrechen wurden nun, mit deutscher Gründlichkeit geplant, auf ein neues, beispielloses Niveau gebracht. Paul Celan brachte es auf den Punkt: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland".



(März 2016)



* Diesen Satz legte John Boorman in seiner Adaption der Artus-Legende dem Zauberer MERLIN in den Mund.