TTIP 1: Die Demokratien schaffen sich - vertraglich geregelt - selber ab




In seinem Buch "Von Bismarck zu Hitler" berichtet der Zeitzeuge Sebastian Haffner von der merkwürdigen Aufbruchsstimmung, die im Frühjahr 1933 fast das gesamte deutsche Volk ergriff und die von den Nazis nicht ganz falsch als "nationale Erhebung" bezeichnet wurde:


"Genau wie die Stimmung des August 1914 war die des Jahres 1933 von grosser Bedeutung. Denn dieser Stimmungsumschwung bildete die eigentliche Machtgrundlage für den kommenden Führerstaat. Es war - man kann es nicht anders nennen - ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie. Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will ? Damals zogen die meisten demokratischen Politiker den Schluß: Wir danken ab, wir ziehen uns aus dem politischen Leben zurück. Es soll uns nicht mehr geben."

Und ein paar Sätze weiter bei Hafner:

"Einer der letzten Minister der Weimarer Republik, inzwischen einfacher Abgeordneter der linksliberalen Demokratischen Partei, Dietrich, der nach einigen Gewissensbedenken für das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, schrieb nach 1945, er habe aus seinen Wählerkreisen nie zuvor eine so überwältigende, zustimmende Leserpost erhalten wie nach dieser Entscheidung."


Im Gegensatz zu dieser Schilderung aus dem Jahre 1933 scheinen sich die Demokratien Europas im Jahre 2016 bester Gesundheit zu erfreuen: Es wird in den vorgeschriebenen Zyklen gewählt, es werden die Parlamente mit Abgeordneten beschickt, Regierungen gewählt, Gesetze beschlossen und so fort. Untergründig ist aber ein stetiger Erosionsprozess im Gange, der den Einfluss sowohl der nationalen Parlamente als auch der Abgeordneten immer weiter reduziert. Gerade die sogenannte Finanzkrise ab 2007, die dann - besonders von der deutschen Regierung - in eine "Staatsschuldenkrise" umgedeutet wurde, hat ja zu einer Vielzahl von Gesetzen und Einrichtungen geführt, die den staatlichen und parlamentarische Handlungsspielraum immer mehr eingrenzen. Und zumindest in Deutschland hat ja eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten den entsprechenden Gesetzen zugestimmt - bei ESFS und ESM, bei der "Schuldenbremse", bei den immer weitergehenden Abtretungen von Souveränität an die EU-Kommission.


Ebenjene EU-Kommission verhandelt ja "im Auftrag der Regierungen der Mitgliedsstaaten" seit Jahren mit Kanada und USA über die sogenannten Freihandelsabkommen CETA und TTIP - mehrtausendseitige Vertrags-"Kunstwerke", die den allseits gelobten transatlantischen Freihandel (aber haben wir den nicht eigentlich schon ?) auf noch höhere Stufen heben soll.


Ich erspare mir an dieser Stelle auf alle falschen Versprechungen, Absurditäten und (soweit bekanntgeworden) schikanösen Details dieser Verträge einzugehen - das haben andere schon umfassend getan (Links dazu am Ende dieses Textes). Auf die spezielle Argumentationsart unseres "Vizekanzlers" Gabriel gehe ich in "TTIP 2" näher ein. Nur auf drei Eigentümlichkeiten möchte ich hier hinweisen:


  1. Gerade am Anfang der öffentlichen Diskussion über CETA und TTIP war in den meisten Medien der Fokus auf "Chlorhühnchen", "Genfood" oder Tierschutz - allesamt sogenannte "weiche" Themen, die sicher bei vielen Menschen zum Eindruck geführt haben, da gehe es eh nur um esoterisches Gehabe von Ökos und Müsli-Essern, welches man vergessen könne. In der zweiten Stufe der Diskussion konnte man den Eindruck haben, es gehe hauptsächlich um ein Ringen von USA gegen EU - wer kann seine "Standards" durchsetzen, wer behält die Autorität über welche Bereiche. Und die Modalitäten der Verhandlungen, das Gezerre um kleinste Teil-Veröffentlichungen, die Abhöraktionen der US-Geheimdienste haben ja sehr deutlich eine erstaunliche Arroganz der US-Organe gegenüber der EU gezeigt. Allerdings wäre es dann wohl widersinnig gewesen, wenn die EU die Verhandlungen nicht nur aufgenommen, sondern auch beharrlich weitergeführt hätte. Aber genau das tut sie.

    Der Kernpunkt der Abkommen ist m.E. die Einführung einer separaten Gerichtsbarkeit für die Industrie - gleich ob in der Form privater Schiedsgerichte oder transnationaler Handelsgerichte. Genau hier ist der Punkt zur endgültigen Aushebelung der demokratischen Machtkontrolle. Denn - selbst wenn die Schiedsgerichte garnicht so oft angerufen werden würden - allein die Drohung mit milliardenschweren Regressforderungen für entgangene Profite wird die meisten Legislativen im Konfliktfalle einknicken lassen.

    Vielleicht sollten wir, in Analogie zu dem von Eisenhower geprägten Begriff vom "militärisch-industriellen Komplex", jetzt von einem transnationalen industriell-administrativen Komplex reden.

    Oder, etwas versimpelt gesagt: Es geht um "Grossindustrie gegen den Rest der Welt", Hand in Hand mit einer immer mehr auch personell verbündelten (Stichwort Drehtür-Prinzip) politisch-wirtschaftlichen Elite in EU und USA.

    Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich die "westlichen Demokratien" auf diese Art - streng vertraglich geregelt - selbst abschaffen.

    Ob die Völker Europas das dann so bejubeln wie es 1933 die Deutschen taten oder nicht - dieses wäre dann schon nebensächlich.

  2. Die Verträge wären in einem wirklichen demokratischen Gemeinwesen schon deshalb abzulehnen, weil es klassische Geheimverträge sind. Daran ändern auch die vielfältigen nachträglichen "Transparenzbemühungen" nichts. Es wird geheim verhandelt, selbst Teildokumente werden nur unter absurden Vorschriften den Parlamentariern zugänglich gemacht, das Gesamtwerk soll überhaupt erst nach Abschluss (einem begrenzten Kreis ?) zugänglich gemacht werden. Das ist absurd. Umso absurder, wenn man bedenkt, dass in einem öffentlich zugänglichen Medium wie "Jane's Defence Weekly" in grossem Detail über die neuesten Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge und Panzer aus aller Welt berichtet wird. Wieso um alles in der Welt soll ein Handelsabkommen geheimer sein als die Bewaffnung eines Kreuzers der Bundesmarine ?

  3. Schliesslich ein merkwürdiges Detail: In den Veröffentlichungen der Bundesregierung wird in schönen bunten Bildern auf die durch TTIP zukünftig möglichen Erleichterungen für "unsere Exportindustrie" hingewiesen. Mal sind es vereinheitlichte Stecker unter Maschinenhauben, dann endlich harmonisierte Vorschriften für den Einbau von Airbags und so fort. Aber von einem offensichtlichen Handelshemmnis, auf das auch schon ein Kind kommen könnte, ist nie die Rede: vom nicht-metrischen System, dass in den USA immer noch vorherschend ist. Wieviele Arbeitsstunden gehen wohl jährlich verloren, weil die europäischen Ingenieure irgendetwas auf dieses antiqierte System von Fuss und Inches, von Gallons, Ounces und Pounds umstellen müssen ?



Zur weiteren Information über CETA und TTIP empfehle ich u.a. die folgenden Webseiten:


https://www.mehr-demokratie.de/ttip_ist_gift_fuer_demokratie.html


http://www.umweltinstitut.org/info-kampagnen/freihandel-infokampagne.html


http://www.foodwatch.org/de/informieren/freihandelsabkommen/aktuelle-nachrichten/wie-die-forschung-werbung-fuer-ttip-macht/


Und natürlich die Nachdenkseiten sowie die anderen in der Linkempfehlung genannten Seiten.



(April 2016)