Filmkritik: "Mr. Nobody" (Frankreich-Belgien-Kanada-Deutschland 2010)


Ein Belgier im Meer der Möglichkeiten



Dieser Film hat alles:

Eine Teenie-Lovestory, einen Softporno, ein Ehedrama, explodierende Raumschiffe vor dem Planeten Mars, einen Mord, Stadtpanoramen aus dem Jahr 2092, einen running gag *1, Rück- und Vor- und Parallelblenden, (geschätzt) ca. 300 im Abspann aufgelistete Personen (darunter zwei Dutzend "Tax shelter investors" - was immer das sein mag), eine über 118 Jahre (oder eigentlich noch mehr - es beginnt ja schon "vor der Geburt" des Protagonisten) sich hinziehende Storyline, "beissende Konsumkritik" gepaart mit Proleten-bashing *2, und das alles in über zwei Stunden Spielzeit.


Dieser Film weiss alles:

Er kennt die big bang theory genauso wie den Schmetterlingseffekt (den er auch gleich mehrfach visualisieren muss), er referiert über 4 bekannte und 5 unbekannte Dimensionen, er erzählt von Entropie und Liebeskummer, er kennt den Einfluss von Teleomeren auf den Alterungsprozess, er bebildert den Zerfall von toten Mäusen und verschimmelndem Obst, er kennt die letzten Gedanken seines sterbenden Helden.


Dieser Film kennt keine Grenzen:

Seine Protagonisten - eben noch in einem belgischen (?) Kleinstädtchen zuhause, wechseln im weiteren Verlauf umstandslos zwischen britischer (?) Mittelstadt, kanadischer (?) Vorstadtidylle, "big-apple"-Megacity und Exkursion auf dem Planeten Mars.


Um was geht es eigentlich in diesem Film ? Vielleicht hat der belgische Regisseur Jaco van Dormael einmal das kleine Büchlein "Biografie: Ein Spiel" von Max Frisch in der Hand gehabt. In diesem als Bühnenstück gedachten Text greift Max Frisch die Frage auf, was wohl wäre, wenn wir unsere Biografie umändern oder umschreiben könnten. Was, wenn der Held statt dieser Frau eine andere geheiratet hätte, wenn das Paar früher zusammengefunden oder sich eher getrennt hätte? Nach 175 kurzen Seiten hat Max Frisch diese Idee abgehandelt, sein Protagonist "Kürmann" wird entlassen: "Sie sind frei."

Aber van Dormael war das nicht genug, sein Held - nunmehr ebenso "sprechend" Nemo oder Nobody genannt - bekommt alle filmischen Ideen, die im Kopf des Belgiers umhersummen, aufgehalst und muss in 118 Film-Jahren alle biografischen Varianten "durchleben". Das ist im Ergebnis nicht ganz reizlos, aber hoffnungslos überfrachtet.

So hätte aus der Teenie-Lovestory zwischen dem 15-jährigen Nemo und Anna ja durchaus ein ansprechender (Kurz?) Film über die Nöte Heranwachsender werden können. Die Konstellation der ungewollten Verschwisterung durch die Paarbildung der geschiedenen Elternteile, der hergebrachte Widerstand gegen die nur scheinbar inzestuöse Verbindung von Nemo und Anna, Trennung und Wiederfinden - das wäre genaue Beobachtung und Schilderung wert gewesen.

Ebenso ist die Geschichte zwischen Nemo und Alice - das Scheitern einer hoffnungsvoll begonnenen Ehe an ungelösten psychischen Konflikten der Frau, die Hilflosigkeit des Mannes angesichts der emotionalen Urgewalt, das Staunen und Erschrecken der Kinder an der Auflösung der fest geglaubten harmonischen Familenwelt - durchaus ein wertvoller Filmstoff. So ist die Szene, in der die in Depression versinkende Alice sich angesichts des Kindergeburtstags doch noch einmal aufrafft und zum "life of the party" wird, sicher eine der eindringlichsten. Aber der Regisseur hat ja keine Zeit.

Schnell muss er wieder zur nächsten Bildidee, zum nächsten Plotstückchen. Eben sich noch fast pädophil an der Eleganz von 9-jährigen Wassernymphen erfreuend, geht es schon fort zum nächsten Bildkracher: explodierende Tankwagen, methodisch in Brand gesetzte Familien-Pkw, Mord in der Badewanne, majestätisch im All kreisende Raumschiffe. Und soll der CGI-Ingenieur *3, der eben noch die Megacity des Jahres 2092 erschuf, nicht auch noch die Gelegenheit bekommen, dieselbe in einer Art gigantischem De-Konstruktivismus in Tausende Einzelteile zerfallen und verschwinden zu lassen ? Er bekommt sie, und der Zuschauer rätselt …

Manches Bild ist wirklich beeindruckend - so sind die nach der Explosion des Mars-Raumschiffes im All schwebenden Fahrräder ein toller Bildeinfall. Nur leider von der Begleitstory ("weil jetzt auf dem Mars billiger als in China produziert wird") gleich wieder ins Dämliche zurückkatapultiert.

Ein Musikkritiker hat einmal über Irish Folk Music geätzt: "a thousand tunes, but no melody". So ähnlich könnte man zu diesem Film sagen: Tausend Filmbilder und Ideenfetzen - aber keine Filmidee. Da hat sich der Regisseur - und mit ihm die Filmfigur - hoffnungslos im Meer der Möglichkeiten verirrt.


Vielleicht bin ich aber nur hoffnungslos altmodisch. Mir jedenfalls sagt der kurze Schlussdialog zwischen John Wayne und Kim Darby am Ende des Films "True Grit" von 1969 jedenfalls mehr über Leben und Sterben als dieses 138 Minuten lange multinationale Epos.



(Mai 2016)


*1: Das von den Schmetterlingseffekten 'mal hierhin, 'mal dorthin gewirbelte Blatt wird immer wieder schön abgelichtet.

*2: Nemo erläutert, dass jener Regentropfen, der die rasch hingekritzelte Telefonnummer seiner "ewigen" Liebe Anna unlesbar werden liess, genau deshalb entstand, weil irgendwo in Brasilien ein gerade entlassener Textilarbeiter (der Prolet) ein Ei kochte und die dabei entstehenden Wasserdämpfe zu genau jenem wilden Regenschauer in der tausende Kilometer entfernten Stadt führen, in der Nemo seine Anna (wieder-)findet. Und die Entlassung des Arbeiters ist darauf zurückzuführen, dass Nemo kurz vorher die billigere von 2 Jeans erworben hat, die in China statt Brasilien produziert wurde. Es lebe der Schmetterlingseffekt!

*3: CGI = computer-generated imagery