Farewell EU - Welcome Europe !

Reaktionen auf den sogenannten "Brexit"




Am 24. Juni verkündete die Wahlleiterin in Manchester das Ergebnis des EU-Referendums in Grossbritannien: Eine deutliche Mehrheit hat am 23. Juni für den Ausstieg aus der "Europäischen Union" gestimmt, den sogenannten "Brexit". Stunden später verkündete Premierminister Cameron, dass er spätestens im Oktober zurücktreten werde, um einer anderen Person die Verantwortung für den neuen Kurs zu übertragen.


Soweit, so klar. Die EU-Verträge gestatten nunmal jedem Land, aus der EU auch auszutreten. Dass die Sache auf den britischen Inseln sehr unterschiedlich kommentiert wurde, je nachdem, für welche Seite man vorher Stellung genommen hatte, ist auch verständlich. Wenn Nigel Farage vorschlug, den 23. Juni zum Nationalfeiertag zu machen ("and we will call it Independence Day"), so waren die "Remain"-campaigner sicher nicht begeistert. Aber wieso eigentlich nicht "Independence Day" ? Auf jeden Fall wird Grossbritannien nach vollendetem Austritt die staatliche Souveränität wiedererlangen, die ja allen EU-Mitgliedern genommen wurde und (in immer schnellerem Tempo) genommen wird. Und so eine wiedererlangte Souveränität wird üblicherweise mit einem Unabhängigkeits-Feiertag bedacht.


Die Remain-Kampagne hatte sich vor allem auf die wirtschaftlichen Nachteile konzentriert, die bei einem Brexit angeblich drohen würden. Da wurden interessanterweise zehntel-prozent genaue Prognosen über die zu erwartende Reduktion des BIP oder die Erhöhung der Arbeitslosigkeit gemacht - genau von jenen Instituten, die sich bei diesen wirtschaftlichen Prognosen in der Vergangenheit dadurch ausgezeichnet haben, dass sie gerne um halbe oder volle Prozent danebenlagen. In der Tat wird sich, das hat z.B. Prof. Flassbeck herausgearbeitet, kurzfristig wenig ändern. Erst nach Änderung oder Kündigung der entsprechenden Verträge werden sich Änderungen ergeben, aber in welche Richtung sie sich auswirken - dass ist ziemlich offen. Wer anderes behauptet, betreibt Kaffeesatzleserei - wie z.B. unser Finanzminister Schäuble, der im Vorfeld der Abstimmung zu den heftigsten Unkern bezüglich des zu erwartenden wirtschaftlichen Abstiegs gehörte. Seine Ablehnung des "Brexit" steht im scharfen Gegensatz zu dem von ihm monatelang betriebenen "Grexit" - dem Ausstieg Griechenlands aus der Gemeinschaftwährung Euro. Für den Grexit gibt es aber gar keine vertragliche Grundlage, da die Schöpfer des Euro (in ihrer unendlichen Weisheit ?) dafür lieber keine Paragraphen vorsahen.




Auch das "offizielle Brüssel" hat schnell reagiert. Auf einem Treffen der Aussenminister der 6 EU-Gründungsstaaten wurde "einmütig" von Grossbritannien gefordert, den Brexit nun auch schnellstmöglich umzusetzen, da eine andauernde Unsicherheit für "die Märkte" unerträglich wäre. Nun - in einem freien Land darf jeder soviel und so oft fordern, was er will - aber woraus ergibt sich nun ausgerechnet die Kompetenz dieser 6 Aussenmninister ? Als irgendwie entscheidungsfindende Entität sind sie in der Vergangenheit nicht aufgetreten (und auch nirgendwo kodifiziert). Auch erstaunlich, dass diese Politiker eine "Unsicherheit für 'die Märkte'" unbedingt vermeiden wollen, während ihnen die existentielle Unsicherheit von Millionen jungen Europäern - ausweislich einer EU-weiten Jugendarbeitslosenquote von über 20% (!) - bislang herzlich egal war. Bei etwas Überlegung macht es natürlich weder für Grossbritannien noch für die Rest-EU irgendeinen Sinn, den Austritt überstürzt anzugehen. Mindestens für die Realwirtschaft ist es ja unerheblich, ob eine konkrete Regelung nun in 2 Monaten, 12 Monaten oder 2 Jahren geändert wird. Wie bei so vielem, was derzeit in der EU stattfindet, war diese Veranstaltung wohl garnicht an die vorgeblichen Empfänger gerichtet (die britische Regierung, mit der man ja in der Vergangenheit eigentlich allerbestens auskam), sondern an alle EU-Bürger, die für ihr eigenes Land mit einem EU-Austritt sympathisieren (Niederlande, Dänemark etc.). Ihnen soll wohl klargemacht werden: Wer nicht brav mitmarschiert, wird abgewatscht.


In eine ähnliche Kerbe schlug der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, der es als "unerträglich" bezeichnete, dass Hunderte Millionen EU-Bürger nun zu "Geiseln der Tory-Partei" würden, weil man - nach Cameron - erst bis zum Parteitag der britischen Konservativen im Oktober warten solle. Auch hier darf man sich zuerst die Frage stellen, mit welcher Ermächtigung da ein (gut besoldeter) Politiker solche Machtworte spricht - war die Aufgabe eines Parlamentspräsidenten nicht eigentlich darauf beschränkt, die Debatten im eigenen Haus in geordneten Bahnen zu halten (wofür diese Leute ja auch das kleine Holzhämmerchen bekommen) ? Und sollten sich solche Parlamentspräsidenten nicht besonders neutral verhalten ? Gleichwohl - Herr Schulz poltert und meint auch nicht eigentlich die Briten, sondern alle, die das "europäische Projekt" in Frage stellen.


Genau dieses "europäische Projekt" wird ja zumindest hierzulande gerne bemüht, wenn es um die Vorteile der Europäischen Union für "alle Bürger" geht. Nur so genau definieren möchten es diejenigen, die es im Munde führen, dann meist doch nicht. Da wird dann vom jahrzehntelangen Frieden in Europa gesprochen - aber war der nicht eher der Zusammenfassung der Westeuropäer in der NATO und später der Auflösung des Warschauer Pakts geschuldet ? Der Friedensnobelpreis an die EU im Jahre 2012 war ja auch eher peinlich, als sich die EU da ja schon mitten in einem agressiven Erweiterungskurs befand, der mindestens mittelbar zur Ukraine-Krise 2013/2014 führte.




Weiter wird die wirtschaftliche Prosperität ins Feld geführt, die ja auch für die Nachkriegsjahrzehnte bis in die 1970er und 1980er nicht abzuleugnen ist. Aber spätestens seit Mitte der 90er Jahre flacht das ja erheblich ab, und - wichtiger noch - der Wohlstandsgewinn konzentriert sich immer mehr in den oberen Einkommensgruppen. Ich will hier nicht mit Statistikkolonnen langweilen - aber ein paar Jugendarbeitslosenquoten kann ich noch nennen: Dänemark 11%, Grossbritannien 13%, Ungarn 14%, Frankreich 23%, Italien 36% und Spanien 45% - für mich definitiv kein Ausweis erfolgreicher Wirtschaftpolitik.


Auch ein beliebtes Vorzeigeobjekt ist die "Freizügigkeit". Hier sollte man zwischen Reisefreiheit einerseits und Niederlassungsfreiheit andererseits unterscheiden. Wobei es Reisefreiheit im weiteren Sinne ja schon in den 1950er Jahren gab, als man alle Staaten westlich des "eisernen Vorhangs" durchaus bereisen konnte. Natürlich waren ggf. erforderliche Visa und die Grenzkontrollen lästig, und insofern ist der "Schengen-Raum" schon ein deutlicher Fortschritt. Aber der "Schengen-Raum" ist ja nur eine Teilmenge der EU-Staaten, noch dazu wird er immer häufiger partiell eingeschränkt - mal aus Gründen der Terrorabwehr, dann wegen Migrationswellen etc.




Die Niederlassungsfreiheit wird nun ganz unterschiedlich beurteilt. Da, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, wird der Zuzug von Ausländern misstrauisch beäugt - während jemand, der dadurch aus einem Land hoher Arbeitslosigkeit "fliehen" kann (beispielsweise Spanien), diese Freizügigkeit natürlich schätzt. Aber auch die volle Freizügigkeit umfasst nur eine Teilmenge der EU-Staaten. Und bezüglich der Sozialleistungen darf sich der Neuankömmling auf einen recht unübersichtlichen Verhau von verschiedenen nationalen, binationalen und EU-Regeln einstellen - da sich in der EU-Elite bislang niemand mit einer Vereinheitlichung der Sozialsysteme abmühen wollte.


Schliesslich die Gemeinschaftwährung - der Euro. Diese sollte ja auch ein Vorzeigeprojekt sein - endlich kontinentweit mit ein und derselben Währung zahlen! Aber nicht nur, dass auch dieses Projekt nur eine Teilmenge der EU-Staaten umfasst - das Beispiel Griechenland zeigt auch den extremen Fall von Souveränitätsverlust, den ein Land innerhalb dieser EU erleiden kann. Das griechische Parlament darf nur noch abnicken, was die "Troika" oder "die Institutionen" (EU, EZB, IWF) beschlossen haben, und die griechische Regierung muss um peinlichst genaue Umsetzung besorgt sein, um sich nicht zukünftige "Gnadengaben" aus Brüssel zu verscherzen. Auch ohne dieses abschreckende Beispiel hätte man keinen Briten mit dem Argument "Euro-Währung" locken können - hatte man doch in GB die Folgen der Finanzkrise 2007/2008 auch durch die Souveränität der eigenen Notenbank abmildern können.



Angesichts der "medialen Breitseiten" für ein Verbleiben in der EU sowie des Einsatzes prominentester Politiker als Pro-EU-Werber (an oberster Stelle US-Präsident Obama) hätte auch ich nicht gedacht, dass es in Grossbritannien zu einer Ausstiegs-Mehrheit kommt. Nun ist es so gekommen, und die Enttäuschung ist wohl gerade bei unseren Mainstream-Medien hoch.


Hatte "Der Spiegel" noch kurz vor der Abstimmung mit der Cover-Parole "Bitte geht nicht !" über den Kanal hinweg die Briten angefleht, den "richtigen" Weg zu wählen, so ist man heute schon wieder beim Recyceln alter Briten-Vorurteile angelangt.

"Der Spiegel" verbreitet einen Cartoon, auf welchem der mit Union-Jack ausgerüstete Brite aus dem fliegenden EU-Flugzeug springt. Dem freundlichen EU-Steward an der Tür, der besorgterweise "Suggest you take a parachute with you?" fragt, ruft er ein unbesorgtes "Thanks, the flag will do!" entgegen *1. Klar - der hochnäsige, flaggenselig-nationalistische Brite schlägt alle guten Ratschläge in den Wind und springt in sein eigenes Verderben - so lieben wir unsere Klischees.


Dass das mit dem wirtschaftlichen Niedergang absolut nicht ausgemacht ist, hatte ich ja schon angeführt. Im übrigen auch eine sehr deutsche Einstellung, dass man Wohl und Wehe der Nation an der Prozentzahlveränderung einer einzigen wirtschaftlichen Kenngrösse (dem BIP) festmacht, als ob es nicht noch andere wichtige Aspekte des Staatswesens gäbe.



Nun ist es nicht so, dass ich dem "europäischen Gedanken" gegenüber feindlich eingestellt wäre. Von de Gaulle stammt der Gedanke eines "Europas der Vaterländer" (wobei man das heute natürlich schon wegen dem "sexistischen" Wort Vaterländer nicht mehr sagen darf). Nennen wir es also ein "Europa der Mütter- und Vaterländer": Das beinhaltet ein Weiterbestehen der Nationen und Staaten mit ihren je eigenen Historien, Traditionen, Sozial- und Verwaltungssystemen, ihren Vorstellungen von politischen Prozessen (zentral oder föderal, basis- oder repräsentativ-demokratisch) und entsprechend eine Beschränkung der gemeinschaftlichen Zuständigkeit auf die Bereiche, die für ein sinnvolles gemeinschaftliches Wirtschaftswesen notwendig sind (satirisch verkürzt: die "Gurkenkrümmungs-Verordnung" / ernsthaft: beispielsweise Regeln für Länge und Tonnage der LKWs, aber auch gemeinsame Verkehrsplanung).


In ihren Anfangsjahren waren EWG und EG auch ziemlich genau das - und niemand wäre auf die Idee gekommen, zu jeder neuen Verordnung gleich ein "Sanktionsbündel" für diejenigen Teilnehmerstaaten zu schnüren, die die neue Verordnung nicht oder nicht rechtzeitig oder nicht vollständig genug umsetzen. Heute ist genau das der Standard - Sanktionen hier, Sanktionen dort. In der "alten" EG hat man Sachen, die nicht für jedes Mitglied vorteilhaft waren, einfach nicht beschlossen (Einstimmigkeitsprinzip). In der neuen EU, die ja gerade auf Druck der EU-Eliten immer rascher immer mehr Mitglieder umfasste ("Erweitern und Vertiefen"), werden die Vorlagen typischerweise direkt von der Wirtschaft bzw. deren Lobbyisten in die Kommission gebracht, dort in wechselnden Koalitionen der "grossen Länder" beschlossen, dann dem EU-"Parlament" zum Abnicken vorgelegt. Und die so nur pseudodemokratisch entstandenen EU-"Richtlinien" müssen dann von den nationalen Parlamenten in nationales Recht umgesetzt werden. Ein viel undemokratischeres Verfahren kann man sich eigentlich nicht ausdenken.




Von den europäischen Gründervätern vielleicht nicht vorhergesehen, haben die europäischen Institutionen im Laufe der Zeit immer mehr "Appetit" auf mehr Einfluss und mehr Macht bekommen. Gleichzeitig haben es die grossen Konzerne verstanden, ihre Interessen in Brüssel durchzusetzen und den aufkeimenden (politischen) Machthunger mit einem Mantel "wirtschaftlicher Notwendigkeit" zu versehen. Mit dem Fall des "realsozialistischen" Blocks eröffnete sich ab 1990 ein Feld sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Eroberung, dem sich die nun neugewonnenen EU-Mitglieder bzw. deren Bevölkerungen auch mehr oder minder willig ergaben. Für die USA war das eine durchaus willkommene Methode, auch die Länder des ehemaligen Ostblocks in sicherheitspolitische Abhängigkeit zu bringen (EU- und NATO-Osterweiterung gingen ja meist Hand in Hand).

Das daneben und dazwischen auch die üblichen Stellungskämpfe der europäischen Nationen weitergingen (wobei die deutsche Regierung vorläufig den "Sieg" davongetragen hat *2), hat für das Endresultat wenig Bedeutung.


Zurück zum "Brexit": Nun ist er also beschlossen, und sofern man Premier Cameron glauben kann, wird er wohl auch umgesetzt werden. Das sich hier in Deutschland die Hoffnungen z.B. beim SWR auf eine Neuauflage des Referundums richten ("weil schon über 2 Millionen eine online-Petition angeklickt haben"), ist wohl eher eine Illusion.

Wiewohl man durch "wählen lassen, bis das Ergebnis stimmt" tatsächlich die Geschichte ändern kann - hat z.B. in der Weimarer Republik ganz hervorragend funktioniert (Ironie aus).



Dieser Text ist mit "Farewell EU - Welcome Europe !" überschrieben, weil mit dem Ausstieg Grossbritanniens aus der Institution EU natürlich durchaus kein Ausstieg aus Europa erfolgen muss. Insofern ist das mediale Gefasel vom "alle Brücken zum Kontinent abgerissen" nur idiotisch.

Man kann dieses Ereignis durchaus als Chance begreifen, denn Europa hat es ohne EU gegeben und wird auch ohne EU einen geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Platz haben.

Im Idealfall wäre der "Brexit" jetzt der richtige Anlass, die Organisation EU auf das richtige politische Mass zurückzustutzen. Vermutlich wird dieser Exit nicht reichen, es wird wohl noch ein "Nexit" (Niederlande) oder ein "Däxit" (Dänemark) nötig sein, um das zu erreichen. Wenn Frau le Pen die nächste Präsidentschaftswahl in Frankreich gewinnt und tatsächlich einen "Frexit" durchsetzt, dann ist die EU (verdientermassen ?) politisch tot. Und dagegen wären alle vermuteten oder tatsächlichen "Brexit"-Turbulenzen ein laues Lüftchen.

Die eine Exit-Variante, die zumindest der Euro-Währung das Überleben sichern könnte - der DEXIT - hat wohl keine Chance, da - wie ich soeben im Radio gehört habe - nur 16% der Bundesdeutschen "gegen die EU eingestellt" sind. Das ist auch insofern nur konsequent, da die BRD in harten Zahlen tatsächlich am meisten vom Euro profitiert hat. Während man die alte D-Mark hätte aufwerten müssen, so kann man nun dank der (bezogen auf Deutschland) Unterbewertung des Euro die Exportmaschine auf Hochtouren halten und hat gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zu einem Gutteil exportiert.




Oft höre ich auch das Argument, dass ein europäisches Land "alleine" ja gar keine Chance in der globalisierten Welt und neben den Machtblöcken USA und China habe. Dagegen sind m.E. einzuwenden:


a) In solchen Spekulationen kommen weder Russland noch Indien noch Japan, weder die Staaten Südamerikas noch die "noch-nicht-EU"-Staaten Europas (Norwegen, Schweiz, Türkei?) vor - und Afrika ist ohnehin schon vergessen. Eine Reihe dieser Staaten kann offensichtlich auch ohne EU-Zugehörigkeit einen ganz annehmbaren Lebensstandard vorweisen.


Wieso sollte ein EU-Land fürchten, nach einem Austritt plötzlich ökonomisch total deklassiert zu werden ? Das wäre eigentlich nur bei handelskriegerischen Massnahmen der Rest-EU-Staaten denkbar. Und mit ein bisschen Umorientierung wäre für den "Aussteiger" ja auch manche neue Handelschance greifbar - konkret könnte ein EU-freies Grossbritannien etwa die Handelssanktionen gegen Russland aufheben und sich so einen "Wettbewerbsvorteil" sichern (wobei mir klar ist, dass vermutlich keine Tory-Regierung dem jemals zustimmen würde).

b) Wenn die Erhaltung und Steigerung der Höhe des BIP der entscheidende Wert für die Politik eines Staatenbunds und die Akkumulation immer grösserer Landflächen und Menschenmengen ein erstrebenswertes Politikziel sind, für das man auch die Unterwerfung unter einen weniger demokratischen Machtapparat hinnehmen sollte - wäre dann nicht der Widerstand gegen Hitlers Nazi-Regime ein kapitaler Fehler gewesen ? Schliesslich hatte Hitler Anfang der 1940er Jahre den Herrschaftsbereich des Grossdeutschen Reiches schon von der französischen Atlantikküste bis nach Leningrad und Stalingrad, von Norwegen bis Italien ausgedehnt. Nach Kriegsende hätten tüchtige Leute wie Speer und Goebbels den Völkern des neuen Imperiums schon die richtige Arbeitsmoral beigebracht, die Effizienz hätte sicher ungeahnte Höhen erreicht (man lese nur über die "Output"-Steigerungen, die Speer erreichte) *3. Schliesslich wäre auch Hitlers Herrschaft im Laufe der Zeit wohl "altersmilde" geworden, seine Nachfolger vielleicht ganz passable "Realpolitiker". Oder andersherum: Wer garantiert uns, dass die EU-Regierung so passabel liberal bleibt, wie die meisten sie heute empfinden ? Innerhalb der EU-"Mechanik" gibt es jedenfalls immer weniger Hürden, die das verhindern könnten.



c) Gerade das "vergessene" Afrika könnte uns noch ungeahnte Migrationswellen bescheren. Ein immer grösserer Teil der Afrikaner spricht ein passables Englisch und kann also hoffen, mindestens für geringqualifizierte Arbeiten "irgendwo" in Europa eine (legale oder illegale) Stelle zu finden, wenn er nur die Passage in die EU überlebt. Die Antwort der EU auf diese traurige Situation sind Ausweitung der Mittelmeer-Einsätze ("Frontex" und NATO), bilaterale Abkommen mit verschiedenen afrikanischen Staaten zur "Flüchtlingsabwehr" mit der bewährten Zuckerbrot- und Peitsche-Methodik sowie höhere Zäune an den Landgrenzen (Gibraltar, Ceuta). Parallel spricht unsere Bundeskanzlerin davon, unseren Verteidigungsetat möglichst bald von den derzeitigen 1,2% auf das NATO-Ziel von 2% oder gar an den Wert der USA (3,4%) anzunähern. Aber keine Rede davon, unsere Entwicklungshilfe von mageren 0,4% wenigstens auf den schon vor Jahrzehnten der UN versprochenen Satz von 0,7% zu bringen *4.

Eine fortschrittliche Politik müsste doch im Gegensatz dazu gerade die Position dieser bündnislosen (früher sagte man "blockfreien") Länder stärken, statt Knebel-Handelsabkommen (gegen die selbst TTIP "harmlos" wirkt) durchzudrücken. Sie müsste einen fairen Handel möglichst für alle Länder ermöglichen. Und man könnte mit gutem Beispiel in den Beziehungen zwischen EU- und nicht-EU bzw. nicht-mehr-EU-Staaten vorangehen. Eigentlich geht es hier um Selbstverständlichkeiten wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das natürlich auch ein ökonomisches Selbstbestimmungsrecht sein muss.



(Juni 2016)



*1: Wer sich den Cartoon (für Abonnenten: https://magazin.spiegel.de/digital/#SP/2016/26/145531274 ) genauer anschaut, verliert etwas das Vertrauen in den "EU-Aeroplan": Das Teil hat zwar ein konventionelles Leitwerk, aber keine erkennbaren Höhen- oder Seitenruder. Vielleicht kein so schlechtes Bild für dieses Konstrukt: Liegt stabil in der Luft, ist aber zu bewussten Kurskorrekturen garnicht in der Lage und muss hoffen, dass der Sprit nie ausgeht...

*2: Zumindest findet sich in der EU-Politik der letzten Jahre fast nichts, was der Politik der Bundesregierung entgegengesetzt wäre. Ob Pkw-Normen für Verbrauch und Emissionen, Schuldenbremse, ESM, TTIP - fast alles läuft so, wie es in Berlin gewünscht wird. Nur beim Thema Asyl ist auch innerhalb der EU ein gewisser Widerstand zu spüren - da hat die Kanzlerin ihre Möglichkeiten, die Asylsuchenden einfach den anderen EU-Ländern "auf's Auge zu drücken", wohl überschätzt.

*3: Möglicherweise müsste ich hier wieder ein "Ironie aus" setzen. Diese Dystopie wäre m.E. so unmöglich nicht - ich verweise auf den Roman "Vaterland" von Robert Harris und Sebastian Haffners Überlegungen zur strategischen Position Hitlers in dieser Zeit.

*4: Anteil der "Official Development Assistance" am BIP.