Die B e u n r u h i g u n g



"Capitalism is the astounding belief that the most wickedest of men will

do the most wickedest of things for the greatest good of everyone."

John Maynard Keynes



Im Jahre 1981 produzierte die DEFA einen kleinen Film mit dem Titel "Die Beunruhigung", der sich als einer der erfolgreichsten Filme in der DDR herausstellen sollte. Der Film dreht sich ganz um die Sorgen einer berufstätigen Frau in (Ost-)Berlin, die unvermittelt über den Verdacht auf Brustkrebs unterrichtet wird. Den Grossteil des Films bilden die Gespräche und Begegnungen, die diese Frau in den 24 Stunden vor der entscheidenden Operation erlebt, und die ihr am Ende den Mut geben, aus der zur Routine erstarrten Beziehung auszubrechen und den Kampf mit dem Krebs aufzunehmen. *1

Hier soll es aber um eine andere Beunruhigung gehen - eine, die die Gesellschaften wohl der meisten "westlichen Industriestaaten" erfasst hat.

Sie manifestiert sich in stetig sinkenden Stimmanteilen der früheren Volksparteien bei Wahlen, einer generell sinkenden Wahlbeteiligung, dem Erstarken vor allem rechts-extremer Parteien und Gruppierungen. Man erkennt sie am fortschreitenden Glaubwürdigkeitsverlust der grossen Presse- und Medienorgane, der in Deutschland mit dem Wort "Lügenpresse" einen überraschenden Widerhall bei vielen Menschen findet.

Es ist aber auch das Unbehagen an einer Wirtschaftsform, die de facto Millionen Menschen als wirtschaftlich überflüssig aussortiert und mit mehr oder minder üppigen "Sozial-Almosen" ruhigzustellen versucht. Die aber gleichzeitig unfähig ist, den Kindern der "baby-boomer"-Altersgruppe jene Art von beruflicher und sozialer Sicherheit zu geben, die die "baby-boomer" in den "goldenen" Jahren des Sozialstaats erleben durften.

Ferner die langsam einsickernde Erkenntnis, dass dieses System auf die ökölogischen Folgen der Produktion von immer mehr Gütern und Dienstleistungen eigentlich keine Antwort gibt oder geben kann - mithin etwa die mit grossem Tamtam angekündigten "Klimakonferenzen" immer weniger konkrete Ergebnisse zeitigen.

Und bei einigen Bürgern mischt sich dazu die Sorge, dass das Krebsgeschwür des (Klein-, Bürger-)Krieges, dass immer mehr Staaten umfasst und zur grössten Anzahl von Flüchlingen seit dem zweiten Weltkrieg geführt hat, möglicherweise einen (vielleicht nur indirekten, aber eben doch vorhandenen) Zusammenhang mit der auf Hochtouren laufenden "Globalisierung" hat.



Mit Datum vom 23. Mai 2016 erschien im Magazin TIME (welches normalerweise ein der Kapitalismuskritik vollkommen unverdächtiges Blatt ist) ein langer Artikel mit dem Titel "How to Save Capitalism" (http://time.com/4327419/american-capitalisms-great-crisis/ ). Die Autorin Rana Foroohar beginnt ihren Text mit dem überraschenden Ergebnis einer Meinungsumfrage, wonach nur noch 42% der US-Amerikaner der Altersgruppe 18-29 von sich sagen, den "Kapitalismus zu unterstützen". Die "Zustimmung zum Kapitalismus" war auch beim Durchschnitt aller Altersgruppen auf "nur noch etwas über die Hälfte" gefallen. Frau Foroohar nimmt das zum Anlass für sehr lesenswerte Ausführungen über den Zustand der US-Wirtschaft und seine Auswirkungen auf die Wohlfahrt der US-Bürger. Kurz gesagt, erkennt sie Anzeichen für eine schwere Krankheit, und sie gibt ihr auch einen Namen: "Finanzialisierung", womit sie vor allem einen überhandgenommenen Einfluss der Finanzkonzerne von "Wall Street" auf die gesamte US-Ökonomie meint.

Nun ist Rana Foroohar als langjährige Wirtschafts-Kolumnistin von TIME ganz gewiss keine klassische "Kapitalismus-Kritikerin", sondern will ja gerade den "Kapitalismus retten". Trotzdem decken sich Ihre Analysen und Vorschläge in vielem mit dem, was in Deutschland z.B. eine Frau Wagenknecht seit Jahren sagt.

Ganz klar zeigt dieser TIME-Artikel, dass die besagte Beunruhigung auch im "Mutterland des Kapitalismus", den USA, angekommen ist. Ein anderes Zeichen ist der erstaunliche Erfolg eines Bernie Sanders im US-Vorwahlkampf zur Nominierung der Präsidentschaftskandidaten. Und dies mit einem im besten Sinne europäisch-sozialdemokratisch inspirierten Programm.

Freilich ist auch - im negativem Sinne - der Erfolg des Donald Trump durch dieses Unbehagen bedingt - hier vor allem das Unbehagen der weiss dominierten ehemaligen Mittelschicht, die sich einmal als Motor der amerikanischen Industrie fühlen konnte und ökonomisch sowie im Sozialprestige immer mehr deklassiert wird.

Bleiben wir noch einen Moment bei Begriffen. Frau Foroohar nennt das Übel "Finanzialismus", Prof. Flassbeck meistens "Neo-Liberalismus", und wenn Journalisten darüber berichten, so wird es meist schlicht "Kapitalismus" genannt.

Mir gefällt dieser letzte Begriff nicht, nicht nur weil der begleitende Begriff "Kapitalismus-Kritik" reichlich abgegriffen ist. Sondern auch, weil es m.E. sehr schwer fällt, überhaupt eine "kapitalistische Gesellschaft" zu definieren. So war ein Mensch wie Jakob Fugger "der Reiche", der im Deutschland des 15.+16. Jahrhunderts seine Geschäfte machte, ganz sicher ein Kapitalist - aber vom mittelalterlichen Deutschland als einer kapitalistischen Gesellschaft zu sprechen, ist wohl kaum angemessen *2.

Auch in der Neuzeit ist es schwierig - sind Indien, Russland und China wirklich "kapitalistische" Staaten? Mindestens übt in diesen Ländern der Staat einen erheblichen Einfluss darauf aus, in was und wo investiert wird. Und obwohl Chile unter der Pinochet-Diktatur zu einem Experimentierfeld für die "ultra-kapitalistischen" Chicago-Boys *3 wurde, mochte es wohl kaum jemand einen kapitalistischen Muster-Staat nennen.

Mein begrifflicher Favorit ist "Ökonomismus", und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist die Assoziation zu einer Übertreibung hier klarer (Ökonomie braucht jede Gesellschaft, aber Ökonomismus?), zum anderen erfasst er auch Handlungen, die nicht unbedingt "vom Kapital" ausgehen, sondern von dem ersten Anschein nach Kapital-fremden Gruppen. So ist der Philosoph Sloterdijk sicher kein Kapitalist, kann aber m.E. durchaus als Epigone eines Ökonomismus betrachtet werden.



Gleich wie wir das Übel benennen wollen - Ökonomismus, "ungezügelter Kapitalismus", marktwirtschaftliche Globalisierung oder sonstwie - ist denn das Unbehagen überhaupt berechtigt?

Halten wir uns an das Wort des Altbundeskanzlers Kohl: "Entscheidend ist, was hinten 'rauskommt." Wirtschaftlich sieht die Bilanz ernüchternd aus: Obwohl doch in den meisten westlichen Industriestaaten innerhalb der letzten zwanzig Jahre umfassend und überwiegend im Sinne der "supply side economics" wie wild reformiert und liberalisiert wurde, sind die Zahlen z.B. für das Wirtschaftswachstum - im Vergleich mit den vorhergehenden Dekaden - enttäuschend. Auch die Arbeitslosenzahlen sind fast überall deutlich (und in vielen Ländern dramatisch) nach oben gegangen. Die oben schon erwähnte Mittelschicht ist nicht nur in den USA geschrumpft, und nicht nur dort hat sie Lohnstagnation oder sogar Senkung hinnehmen müssen.

Im Bereich der Ökologie scheint es viel besser auszusehen. Mindestens in Westeuropa hat es grosse Fortschritte gegeben, der Rhein hat wieder eine reiche Fischfauna, viele Seen, die noch in den 1970er kurz vor dem "Umkippen" standen, haben sich erholt, auch die Luftqualität hat sich gebessert - und von Waldsterben redet niemand mehr. Aber es ist nicht zu übersehen, dass es auch daran liegt, dass viele schadstoffproduzierende Industrien eben abgewandert sind in Niedriglohnländer wie China. Und mit den Jobs haben sie auch die Umweltverschmutzung mitgenommen - der Fast-Dauer-Smog in Peking ist da nur eines der sichtbarsten Zeichen.

Und die gewaltigen Explosionen, die vor einem Jahr das Hafengebiet der chinesischen Stadt Tianjin praktisch dem Erdboden gleichmachten, sind mittelbar auch das Ergebnis einer Verlagerung von Hochrisiko-Stoffen und -Techniken nach Fernost (ähnlich wie es die Bhopal-Katastrophe in Indien war).

Kann es aber nicht doch die "Aussöhnung von Ökonomie und Ökologie" geben, die von den bundesdeutschen "Grünen" immer wieder proklamiert wird? Nun kommt der Terminus "Aussöhnung" aus dem Bereich der Religion oder Ethik, und er soll nahelegen, dass es eigentlich nur eines moralischen Anschubs bedürfe ("vertragt euch doch halt"), um zum ökologisch "gebändigten" Wirtschaften zu kommen.

Das verkennt m.E. vollkommen das Wirkprinzip des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems. Dies macht letztlich alle Unternehmen "mono-thematisch": Das Ziel ist Profiterzielung *4, und so gesehen muss ein Unternehmen Gemeingüter wie Luft und Wasser eben umfassend und maximal nutzen, und das bedeutet in Konsequenz dann auch die Belastung mit Schadstoffen. Eine Begrenzung kann in dieser Hinsicht nie aus dem System selbst heraus erfolgen, sondern muss von aussen kommen - durch Gesetze, Verbote und Abgaben, durch Kontrollen und ggf. Strafen. Dabei kann der Staat durchaus marktähnliche Instrumente einsetzen, etwa indem er steuerähnliche Abgaben auf Ressourcenverbrauch festlegt - aber das ist eben nur markt-ähnlich und ohne Eingreifen des Staates nicht denkbar und durchsetzbar. Am Beispiel des grandios gescheiterten weltweiten Handels mit CO2-Emissionsrechten kann man sehen, dass sich in diesem Bereich ein echtes Marktgeschehen nicht von alleine einstellen wird.

Eine "echt" marktkonforme Lösung wäre nur denkbar, wenn man die bisherigen Gemeingüter (weltweit !) tatsächlich in Privatbesitz überführen und den neuen Eigentümern volle Einklagbarkeit ihrer Ansprüche an die "Verbraucher" garantieren würde. Wir müssten uns dann nur an die monatliche Rechnung der "Air Supplies Corp." für die verbrauchte Atemluft gewöhnen...




Sebastian Haffner schrieb über die bundesdeutschen Unternehmer der 1950er bis 1970er Jahre, dass sie vom "ehernen Lohngesetz" (=Löhne so niedrig wie irgend möglich) abkamen, als sie erkannten, dass steigende Löhne auch höhere Kaufkraft und höhere (Binnen-)Nachfrage bedeuteten.

Mit der sogenannten Globalisierung scheint aber allenthalben das "eherne Lohngesetz" wieder gültig geworden zu sein. Denn scheinbar gibt es irgendwo auf der Welt immer *5 Menschen, die zu einem noch niedrigeren Lohn zu arbeiten bereit sind.

Keynesianisch orientierte Ökonomen sehen in der schrumpfenden Binnennachfrage, die mindestens allen (west-)europäischen Ländern gemein ist, die durchaus logische Folge dieser Lohnsenkungsspirale.

Auch das ist wieder aus der Wirkungsweise des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systens heraus leicht erklärbar:

Wenn man die vielbeschworene "Freizügigkeit des Kapitals" richtig einsetzt, kann man durchaus in Hochlohnland A konstruieren, in Niedriglohnland B fertigen und schliesslich in Reichtums-Oase C verkaufen. Und für einen so agierenden Unternehmer ist dann die Binnennachfrage in Land A oder B irrrelevant. Eine dabei insgesamt schrumpfende Binnennachfrage in einem Land oder einer Region mag der Unternehmer dann beklagen, aber aus dem System heraus wird er keinen Anreiz finden, anders als so zu handeln, da sich ja sein Mehrgewinn gerade aus der Wohlstandsdifferenz von Land B und C ergibt.

Kommen wir zum oft hergestellten Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Militarismus. Wer einen solchen sieht, wird nicht selten der Anfälligkeit für "Verschwörungstheorien" bezichtigt. Das alte Demo-Schlagwort von "Kapitalisten sind Kriegstreiber" klingt irgendwie hysterisch, wenn man die Vorstandsvorsitzenden oder CEOs der grossen Konzerne der "Verteidigungstechnik" wie EADS, Thales, Rheinmetall, Boeing etc. im Fernsehen sieht oder Berichte über sie in den Zeitungen liest. Allem Anschein nach sind diese Herren (und Damen ?) gebildet und kultiviert, wahrscheinlich auch gute Familienmenschen, die ihre Kinder und Enkel lieben und den alten "Kriegstreiber"-Karikaturen so gar nicht entsprechen.

Trotzdem liegt eine gewisse wirtschaftliche Notwendigkeit darin, gerade im Bereich der Militärtechnik einen Ersatzbedarf erst zu schaffen, ohne den es sonst leicht zu stagnierenden oder gar reduzierten Absatzzahlen kommen könnte. Das Mittel der Wahl im zivilen Bereich, nämlich die geplante Obsoleszenz *6 , ist hier schlecht anwendbar. Natürlich könnte man auch diese "Waren" mit Sollbruchstellen ausstatten, damit sie bei Gebrauch in Übungen nach kurzer Zeit (2-3 Jahre ?) defekt oder obsolet werden. Allerdings wäre diese Militärtechnik dann in echter kriegerischer Auseinandersetzung nicht mehr verwendbar.

Es müssen also andere Ersatzbeschaffungs-Gründe her - im besten Falle durch Postulierung einer angeblichen Rüstungslücke (die "Raketen-Lücke", die "Abschreckungs-Lücke", die "erhöhte Bedrohungslage" etc.) - oder aber durch sozusagen "bestimmungsgemässen" Verbrauch der Kriegstechnik in echter Kampfsituation.

Und nicht zuletzt ergibt sich ja mit steigenden Militäretats eine teilweise Kongruenz zwischen den Zielen der Verteidigungsindustrie und der politischen Führung. Ein US-Kommentator hat es so formuliert: "Weil wir so einen überdimensionierten militärischen 'Hammer' haben, erklären wir am liebsten jedes aussenpolitische Problem zum 'Nagel'."



Was also wäre zu tun, um den Ökonomismus zu überwinden und zu einer menschengerechteren Wirtschaftsordnung zu kommen? Ein Teil der allgemeinen Ratlosigkeit kommt wohl auch daher, dass viele befürchten, dass man dazu "den Kapitalismus" komplett zerschlagen müsse - und dieses Zerschlagen eines Systems, dass doch immerhin für viele Jahrzehnte eine bis dato ungesehene Wohlstandsvermehrung "produziert" hat, wird natürlich auch gefürchtet.

Wir müssen da aber m.E. zu einer rationaleren Betrachtung von Wirtschaftssystemen kommen. Denn Kapitalismus und (repäsentative) Demokratie sind durchaus nicht der gottgewollte Abschluss der Menschheitsgeschichte (wie es ein Francis Fukuyama in seinem Buch "Das Ende der Geschichte" glauben machen wollte). Vielmehr sind beide Mechanismen, die für gewisse Bereiche und Situationen sinnvoll sind, für andere weniger. Oder anders gesagt: es sind Werkzeuge - und so wie ein Fleischwolf zur Herstellung eines Hackbratens sehr nützlich sein kann, für die Herstellung eines Omelettes aber nutzlos ist - so ist die marktwirtschaftlich-kapitalistische Ordnung für viele Bereiche sinnvoll *7, für andere aber nicht.

Und ebensowenig wie ein Koch den Fleischwolf zertrümmert, wenn er ein Omelette zubereiten will, müssen wir die marktwirtschaftlich-kapitalistische Ordnung komplett zertrümmern, wenn wir gewisse Bereiche (z.B. Renten, Krankenversicherung, aber auch "natürliche" Monopole wie Stromversorgung etc.) anders geregelt haben möchten. Um den Bestand "des Kapitalismus an sich" müssen wir keine Sorge haben - wie schon Heiner Flassbeck bemerkt hat, ist dieser von bemerkenswerter Anpassungsfähigkeit.

Wo aber ein Zerschlagen not tut: Bei jenen Konzernen, die nicht nur "too big to fail", sondern "too big to be governed" geworden sind. Es muss der "Primat der Politik" und der Primat des Souveräns wiederhergestellt werden.

Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP sind zu verhindern, denn diese sind Mittel der "big corporations", um sich noch mehr Einfluss auf Gesetzgebung und Verwaltung zu verschaffen.

Privatisierungen wie die momentan von der Bundesregierung betriebene "Überführung" der Autobahnen in eine "Infrastrukturgesellschaft" waren und sind oft nur das Verscherbeln von Bundesvermögen (oder eben gemeinschaftlichem Eigentum) an Grosskonzerne. Diese aufzuhalten oder aber wieder zurückzuführen in öffentlich verwaltete Einrichtungen wäre ebenso Teil wirklich fortschrittlicher Politik. Der Widerstand z.B. gegen Privatisierungen der Wasserwerke (und die teilweise erfolgreichen Re-Kommunalisierungen) zeigen, dass die Menschen hellhöriger werden und die üblichen Begründungen ("höhere privatwirtschaftliche Effizienz", "sinkende Preise") nicht mehr unbesehen glauben

Umgekehrt müsste eine solche Politik kleine und kleinste Unternehmen fördern, ggf. durch eine entsprechend strukturierte Steuerpolitik - gerade weil sie u.a. in der Berufsausbildung und der allgemeinen Beschäftigung überproportional wichtig sind.

Der Status "der Wirtschaft" ganz allgemein müsste und würde sich wieder auf ein menschengerechtes Mass reduzieren: Wirtschaft als (Hilfs-)Mittel, um materielle und Dienstleistungs-Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, aber nicht mehr als fast schon religiös verehrtes Zentrum und Ziel aller politischen Aktivität. Vielleicht könnten wir da vom kleinen Königreich Bhutan lernen, dass die Förderung des "Bruttonationalglücks" zum höchsten Ziel staatlicher Aktivität erklärte *8 - und eben nicht das "BIP" oder Bruttoinlandsprodukt.



Diesen Text habe ich mit den John Maynard Keynes zugeschriebenen Worten eingeleitet:

"Kapitalismus ist der erstaunliche Glaube daran, dass durch die boshaftesten Taten der boshaftesten Männer das grösste 'Gute' für alle geschaffen werden könne."

In der Tat trägt der umfassende Glaube an die genial ordnende "unsichtbare Hand" des Marktes und damit zusammenhängend an die unbedingt positiven Ergebnisse "globaler Arbeitsteilung" oft und zunehmend religiösen Charakter. Und so wie ein Reliquienanbeter die allzu weltlichen Umstände seiner Reliquienverehrung (die Souvenirbuden, die obskuren Heilwässerchen, die überteuerten Übernachtungsangebote etc.) nicht wahrnehmen will, so wird ein rechter Kapitalismus- und Globalisierungs-Gläubiger alle Evidenz von negativen Aspekten entweder leugnen oder deren Behebung auf einen in unbestimmter Zukunft liegenden Zustand optimaler Umsetzung ("wenn alle Länder den optimalen Platz in der globalen Arbeitsteilung erreicht haben") vertagen.

Demgegenüber würde ich für realistischere und gleichzeitig bescheidenere Ziele plädieren:

Realistischer, indem wir anerkennen, dass die Menschen in Ländern wie beispielsweise Norwegen, Botswana, Yemen, Indien, Argentinien und Neuseeland nun einmal in vollkommen verschiedenen klimatischen, geologisch-geografischen, agrarischen, aber auch soziologischen, politischen, kulturellen und auch religiösen Umwelten befinden und eine "one-size-fits-all"-Wirtschaftspolitik dem kaum angemessen sein kann.

Bescheidener, indem wir nicht davon ausgehen, den materiellen Lebensstandard der USA oder auch nur den von Belgien in x Jahren oder Jahrzehnten weltweit für alle Menschen erreichen zu können.

Ein Gewohnheitsrecht auf mindestens 1 Fernflugreise pro Jahr wird ebensowenig weltweit umzusetzen sein wie eine Pkw-Dichte von 1 Fahrzeug pro 2 Einwohnern (BRD aktuell) - in beiden Fällen wären die ökologischen Konsequenzen bei über 7 Milliarden Erdenbürgern verheerend.

Insofern wird eine vernünftige Politik auch von den Bürgern der "westlichen Industriestaaten" gelegentlich Bescheidenheit einfordern müssen - hoffentlich in einem Umfange, der den Bürgern auch plausibel gemacht werden kann und der im Idealfall von positiven Änderungen in anderen Bereichen (nur als Beispiel seien genannt: bessere Zugänglichkeit zu öffentlichen Verkehrsmitteln, weniger städtische Zersiedelung, aber auch bessere Arbeitsbedingungen etc.) kompensiert wird.



(August 2016)


*1 Dieser DEFA-Film ist nicht nur aufgrund der Abwesenheit jeglichen real-sozialistischen Moral-Zeigefingers und der fast schon "subjektivistischen" Konzentration auf die Befindlichkeit der Hauptfigur sehenswert. Er stellt auch ein Zeitdokument dar, indem er den Blick auf ein vergangenes Berlin der ratternden S-Bahnen, klickernden Treppenlichtautomaten und sparsam beleuchteten Strassen ermöglicht. Unaufdringlich-eindringlich auch die Schauspieler - vorneweg Christine Schorn.

*2 Für die meisten Menschen im mittelalterlichen Europa war Geld nur eine Form der Entlohnung unter anderen. Oft wichtiger waren Lehns- und andere Abhängigkeitsverhältnisse; "Zahlungen" in Form von Naturalien mehr die Regel als die Ausnahme etc.

*3 Als "Chicago Boys" bezeichnet man die Anhänger der an der University of Chicago in den 1960er-1970er aufkommenden ökonomischen "Schule", die die neoliberalen Ideen Fr. von Hayeks und M. Friedmans möglichst rasch und radikal in konkrete Wirtschaftspolitik umsetzen wollten.

*4 Die Profiterzielung ist für sich genommen dabei nicht das Problematische.

*5 Das "immer" muss man vielleicht insofern relativieren, als es denkbar wäre, dass irgendwann alle "niedriger-Lohn"-Länder abgegrast sind und tatsächlich ein nicht mehr absenkbares Tieflohn-Niveau erreicht wäre. Andererseits erleben wir ja an den Hartz-4-Novellen, dass das ökonomische "Existenzminimum" auch stetig "weiter nach unten definiert" werden kann.

*6 Als geplante Obsoleszenz wird die durch Konstruktion oder Fertigung künstlich begrenzte Lebensdauer eines Konsumguts bezeichnet, um dadurch Ersatzbedarf zu generieren.

*7 Und in diesen Bereichen kann er die schon von Marx und Engels bestaunte "Entfesselung der Produktivkräfte" bewirken.

*8 Laut Wikipedia sind die vier Säulen des Bruttonationalglücks in Bhutan als "Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung, Bewahrung und Förderung kultureller Werte, Schutz der Umwelt und Errichtung von guten Regierungs- und Verwaltungsstrukturen" definiert.