Ein Jahr nach der "Grenzöffnung" - der Spin geht weiter


It is easier to believe a lie that one has heard a thousand times

than to believe a fact that one has never heard before.

Robert S. Lynd



Jene deutsche "Grenzöffnung", im September 2015 von der deutschen Bundeskanzlerin beschlossen, beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit ein Jahr danach immer noch. Sicher nicht zu Unrecht, stieg doch die Zahl der aufgenommenen Immigranten und/oder Flüchtlinge auf über 1 Million. Deren weiteres Schicksal wird die bundesrepublikanische Gesellschaft noch für Jahrzehnte beschäftigen. Insofern ist das von den Medien mittlerweile inflationär verwendete Adjektiv "historisch" in diesem Falle wohl wirklich angemessen.

War vor einem Jahr in der Berichterstattung der Mainstream-Medien (ARD, ZDF; überregionale Zeitungen und Magazine) die Motivation der Kanzlerin noch vor allem als humanitär bestimmt erläutert worden, muss das "Narrativ" ein Jahr danach doch etwas überarbeitet werden. Denn unübersehbar ist, dass diese Story nicht so recht zur weiteren Politik der Bundesregierung mit Asylrechtsverschärfungen, Rückführungen, dem verschärften Ton in Sachen "Schutz der Aussengrenzen", dem regierungsseitigen Frohlocken über die "dichtgemachte Balkanroute" und dem überaus fragwürdigen "Türkei-Deal" passen will.

Der neue Spin geht etwa wie folgt: Die Situation im September war durch die "Südländer", aber vor allem Ungarn untragbar geworden, und die Kanzlerin musste in der Nacht vom 4. zum 5. September 2015 - von Ungarns Premier Orban unter Druck gesetzt - schnellstens eine Lösung finden. Auf einer Routinereise in Nordrhein-Westfalen von Orbans "Ultimatum" überrascht, habe sie - in enger Abstimmung mit Österreichs Kanzler Faymann - sozusagen bei Nacht und Nebel die Grenzen öffnen müssen. Im weiteren Verlauf sei sie von den EU-Partnern enttäuscht worden, die sich der von ihr "schon immer favorisierten europäischen Lösung" widersetzten.

Dieses "Narrativ" verfolgt auch der lange Artikel auf der "dritten Seite" der Samstagausgabe der Badischen Zeitung vom 3.September 2016. Während aber die ZEIT in ihrer ansonsten in die gleiche Richtung gehenden Artikelserie vom 18. August 2016 die Rolle der BAMF-Verfahrensregelung vom 21.08.2015 wenigstens erwähnt (ohne seine Entstehung zu verfolgen), gibt es im BZ-Artikel dazu nur den Nebensatz, dass das BAMF "zwei Wochen zuvor das Dublin-Verfahren ausgesetzt hat".



Die Flüchtlinge, die sich da in Ungarn und den Ländern der "Balkanroute" stauten, waren nicht vom Himmel gefallen. Und sie begehrten ja in der Mehrzahl nicht Asyl in irgendeinem Land der EU, sondern explizit in Deutschland. Was war nun der Inhalt dieser Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge? Gemäss der ZEIT wie folgt:

"Am 21.August verschickt Angelika Wenzl, Regierungsdirektorin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), einen internen Vermerk mit der Überschrift >Verfahrensregelung zur Aussetzung des Dublinverfahrens für syrische Staatsangehörige<. Das heisst: Kein Syrer, der in Deutschland Asyl beantragt, wird mehr in das Land zurückgeschickt, in dem er zuerst europäischen Boden betreten hat. Dieser Vermerk landet in den Medien."

Diese, auch noch vom Amt selber u.a. per Twitter verbreitete Meldung hatte ja erst die grosse Welle ausgelöst, die sich auf den verschiedensten Wegen nach Deutschland aufmachte.

Kann das ein flüchtigerweise begangener Schnitzer einer überforderten kleinen Beamtin gewesen sein?

Da Frau Wenzl nicht nur Juristin und Regierungsdirektorin ist, sondern sich im Namen des Amtes auf vielerei Veranstaltungen als Expertin für diesen Bereich betätigt, ist das kaum anzunehmen. Man kann auch wirklich nicht glauben, dass diese Instruktion ohne den Segen der Amtsführung herausging - und da diese ja der im Bundeskanzleramt angesiedelten "Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration" berichtspflichtig ist, dürfte auch die Kanzlerin davon gewusst haben.

Insofern stimmt auch der Teil der Story nicht, der von einer plötzlich von der ausufernden Situation überraschten Kanzlerin berichten will. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wann genau der Druck so hoch werden würde, dass sich die Flüchtlinge zu Fuss über die Strassen nach Österreich und Deutschland auf den Weg machen würden - dass aber der Druck so hoch werden würde, war ihr m.E. sehr wohl klar. Anderenfalls müsste man davon ausgehen, dass nicht nur jegliche Amtspflicht im BAMF verletzt wurde, sondern auch der BND in jenen Wochen seine Aufgaben vollständig vernachlässigte.



Die entscheidenden Punkte sind ja, dass

a) die Bundesregierung selber bestehendes Recht und bestehende Abkommen via BAMF-"Verfahrensregelung" ausgesetzt (oder ausgehebelt) hat, und

b) damit aussschliesslich Syrer begünstigten wollte.

Deshalb halte ich auch diesen BZ-Artikel für einen weiteren Versuch der "Exkulpation" der Kanzlerin. Dazu passen dann auch Wortwahl und z.B. Bildunterschriften. Da heisst es etwa "Mit einem Zaun an der Grenze zu Serbien wollte Ungarn Flüchtlinge abwehren." Nun - der Zaun steht noch immer, und niemand ist erfreuter darüber als Innenminister de Maiziere, der "die Balkanroute ist dicht" verkündet. Da wird von "'beinahe 1000' Flüchtlingen', unzufrieden mit der Art, wie sie in Ungarn behandelt werden" erzählt. Sicher waren diese Leute unzufrieden - aber vor allem deshalb, weil es nicht weiterging nach Deutschland, das doch laut BAMF-Anweisung ohne Prüfung Asyl gewähren wollte.

Und fast zu Tränen rührend der Hinweis "glaubt die Kanzlerin zu diesem Zeitpunkt noch an die europäische Solidarität". Merkwürdig - eine in Dutzenden Gipfeltreffen erprobte Politikerin, die sehr wohl weiss, was im europäischen Rahmen umsetzbar ist und was nicht, soll sich derartigen Illusionen hingegeben haben. Wiewohl der Versuch, den europäischen "Partnern" noch ein paar Tausend Migranten "aufs Auge zu drücken", schon ernsthaft betrieben wurde. Aber selbst das traditionell einwanderungs-liberale Schweden erklärte im November 2015 einen (temporären?) Stop der Aufnahme.

Und zum Schluss der Hinweis, dass "Mutti" sich schon wieder eine Nacht um die Ohren geschlagen habe zum Wohle Deutschlands und Europas: "Angela Merkel tritt nach dieser durchgemachten Nacht nicht öffentlich auf und schickt Peter Altmaier vor. Sie hat genug mit den Nachwehen zu tun."

Wieder ein Bausteinchen im Personenkult der regierungstreuen Medien.



Was soll man davon halten, wenn 2 unabhängige Redaktionen aus 2 verschiedenen Verlagen kurz hintereinnader praktisch die gleiche Geschichte präsentieren und den offensichtlich am dringendsten zu hinterfragenden Sachverhalt nur am Rande erwähnen?

In meinem Text "Ein Wettlauf in der Wüste" habe ich eine Hypothese zu den möglicherweise wirklich hinter diesen Vorgängen stehenden Zusammenhängen skzziert. Man mag das gerne als "Verschwörungstheorie" abtun, mir jedenfalls erscheint das allemal plausibler als diese in ZEIT und BZ dargelegten "Narrative".

Der eingangs zitierte Satz über tausendfach wiederholte Lügen bestätigt sich angesichts der Auslassungen und Manipulationen der "Mainstream"-Medien immer mehr.

Und einer der klügsten Köpfe der Nazis, Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels, hat dies ja auch mit grossem Erfolg angewendet: "Wenn man eine grosse Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben."



(September 2015)


Zu diesem Thema auch:
Die "Zeit" im Spin-Modus: zur "Grenzöffnung" im September 2015

Ein Wettlauf in der Wüste