3 Kriminalfälle in 3 Staaten



"The curious incident of

the dog that didn't bark"



Polizeien im heutigen Sinne sind "Nebenprodukte" der modernen Staaten, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Entsprechend tragen noch einige der heutigen Institutionen die Namen, die damals aufkamen - berühmtestes Beispiel vielleicht Scotland Yard, obwohl diese Behörde schon lange nicht mehr in einem "Schottischen Hofgebäude" residiert. Natürlich gab es Gesetze schon viel länger, und wenn wir heute noch von "drakonischen Strafen" reden, so lebt darin die Erinnerung an einen altgriechischen Gesetzes-Kodifizierer weiter. Aber die Notwendigkeit, nicht nur die entsprechenden Gesetze zu vereinheitlichen, sondern sie auch mit einem vereinheitlichten Polizeiwesen zur Anwendung zu bringen, ergab sich eben erst Jahrhunderte später. Das war auch kein Zufall, denn indem die Bürger einer umfassenden (national-)staatlichen Organisation das Gewaltmonopol überantworteten, ergab sich im Gegenzug die Forderung nach einheitlicher und geordneter Anwendung der Gesetze und einer gewissen Prävention, vornehmlich durch Bewachung öffentlicher Plätze und Strassen (über den Präventionsgedanken wird später noch zu reden sein).

Damit ist es ebenso kein Zufall, dass die grundlegenden zivil-, strafrechtlichen und Polizeigesetze (zumindest in Europa) ebenfalls im 18. und 19. Jahrhundert entstanden - man denke an den Code Civil oder das Bürgerliche Gesetzbuch.

In gewisser Weise ein Prüfstein für den Erfolg polizeilicher Arbeit findet sich in einem Straftatbestand, der in allen zivilisierten Staaten mit den höchsten Strafen belegt ist, dem Mord. Eine Polizei, die in diesem Bereich erkennbar versagen würde, deren Aufklärungsquote in diesen Fällen total unterdurchschnittlich wäre, würde überall als dringend reformbedürftig erachtet.

Im Folgenden soll es um 3 Mordfälle bzw. -Serien gehen, die sich in 3 unterschiedlichen Staaten ereigneten und u.a. aufgrund der jeweils spezifischen Polizeiarbeit Aufsehen erregten.



Der erste Fall sollte als der "S-Bahn-Mörder von Rummelsburg" in die Geschichte eingehen. Beginnend im Jahre 1939 hatte es im Südosten Berlins eine unheimliche Häufung von, wie man es damals nannte, "Sittlichkeits-" oder "Notzuchtverbrechen" gegeben. Im Oktober 1940 gibt es das erste Todesopfer: eine junge Frau liegt, vergewaltigt und erschlagen, in einer Laubenkolonie neben der S-Bahn-Strecke Ostbahnhof-Erkner in der Nähe des Betriebsbahnhofes Rummelsburg. Der Täter wechselt zwischen dieser Laubenkolonie und der S-Bahn-Strecke selbst, wo er unbegleitete Frauen anspricht und teilweise noch im Zug missbraucht und niederschlägt. Bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1941 wird er es zu 8 vollendeten Morden und 6 Mordversuchen gebracht haben.



Eine besondere Rolle in dieser Geschichte spielt natürlich der zweite Weltkrieg, von Nazi-Deutschland im September 1939 begonnen. Eine Folge des Krieges ist die allgemeine Verdunkelung, d.h. auch die S-Bahnen fahren nachts fast vollkommen unbeleuchtet durch die Gegend.

Da viele wehrfähige Männer für den Wehrdienst eingezogen sind oder werden, müssen die Betriebe in grossem Umfange Frauen anstellen - gerade in den Rüstungsbetrieben, deren Produkte natürlich immer dringlicher benötigt werden.

Dadurch ist es möglich, dass sich in den späten Abendstunden immer wieder Frauen nach einer Weile ganz allein in einem stockdunklen S-Bahn-Waggon finden - sie werden das bevorzugte Opfer des Mörders sein.

Aber auch die Polizei ist nicht mehr dieselbe wie zu Friedenszeiten. Seit 1936 waren nicht nur die (politische) "Staatspolizei", sondern auch die Kriminalpolizei Teile der SS geworden. Alle Kriminalbeamten hatten nunmehr einen SS-Rang, und je nach Anlass und Neigung trugen die Kripo-Leute auch die heutzutage berüchtigte SS-Uniform. Andererseits waren die Kripo-Leute dadurch nicht alle automatisch zu Nazis geworden, und schon garnicht hatten sie dadurch ihre kriminalistischen Kenntnisse verloren. Gerade die Berliner Kripo hatte sich schon in den 1920er Jahren durchaus einen Ruf durch ihre fortschrittliche und erfolgreiche Ermittlungsarbeit erarbeitet.



Wie war nun die Ermittlungslage in diesem Fall ? Leider recht dünn, denn Fingerabdrücke von Haut oder Stoff zu nehmen, war damals nicht möglich - und von DNA-Proben, die heute in jedem "Tatort"-Krimi Standardrepertoire sind, war noch nicht einmal zu träumen. Von den Opfern, die den Angriff des Mörders überlebten, war kaum mehr zu erfahren, als dass der Täter eine Uniform trug. Nicht ganz unwichtig - aber in einer Zeit, in der fast jeder Erwachsene irgendwann einmal irgendeine Uniform trug - sei es NSKK, Reichsbahn, SA, Wehrmacht etc. - auch wieder nicht sehr spezifisch. Auch das Tatwerkzeug, ein "stumpfes Metallwerkzeug" (das sich später als Bleikabel herausstellte), war offensichtlich vielerorts im S-Bahn-Umfeld beschaffbar.

Trotzdem konzentrierten sich die Kripo-Ermittler frühzeitig auf einen S-Bahn-Bediensteten als möglichen Täter. Neben der Uniform sprach die offensichtlich grosse Ortskenntnis im Umfeld des S-Bahn-Betriebsbahnhofes Rummelsburg (wo sich die meisten Opfer fanden) dafür. Andererseits war die Reichsbahn damals das bei weitem grösste Unternehmen des Reiches mit mehreren hunderttausend Mitarbeitern, und auch in Berlin selbst natürlich einer der grössten Arbeitgeber.

Entsprechend wurden Tausende Karteien gesichtet, Bedienstete befragt und vor allem auch Züge und Laubenkolonie immer intensiver beobachtet. Neben Kripo-Beamten, die durch die ausgedehnten Einsatzzeiten bald an die Grenze ihrer Belastbarkeit kamen, wurden auch Reichsbahner selbst zu Hilfs- und Überwachungseinsätzen eingesetzt (ironischerweise meldete sich auch der später als Mörder überführte Reichsbahner dazu). Zeitweise waren über 5000 Mann in dieser Angelegenheit im Einsatz.

Am Ende wird der Mörder aber nicht "in flagranti" erwischt (obwohl man zwischenzeitlich, schon fast verzeifelnd, auch weibliche Beamte als "Lockvögel" eingesetzt hatte), sondern verstrickt sich bei Verhören in Widersprüche, nachdem ihn ein Kollege während der Dienstzeit über einen Zaun steigend in das Laubengelände sich entfernen sah. Die NS-Justiz macht den berühmten "kurzen Prozess" - keinen Monat, nachdem er seinen letzten Mord begangen hat, stirbt er unter dem Fallbeil.



Der heute faszinierende Umstand an diesem Fall ist der hohe Aufwand, den Kripo, Ordnungspolizei und Reichsbahn betrieben, um den Mörder zu fassen. Dabei ist ja heute nicht daran zu zweifeln, dass das NS-Regime ganz wortwörtlich ein "Mordsregime" war, welches auch schon in der Zeit vor Kriegsausbruch über Dutzende und Hunderte von Leichen gegangen war, um an die Macht zu gelangen und sie zu festigen.

Wieso hat man diesen Fall nicht einfach, wie viele andere grössere und kleinere "Sauereien" im NS-Umfeld, totgeschwiegen? Zwar hatte der Fall bereits ein gewisses publizistisches Aufsehen erregt (der Ausdruck "S-Bahn-Mörder" fand sich früh in den Berliner Zeitungen) - aber mit der genialen Presseaufsicht, die Dr. Goebbels eingeführt hatte, wäre es sicher möglich gewesen, die Sache wieder "unter den Teppich zu kehren".

Tatsächlich wurde den ermittelnden Kripo-Beamten eine Bitte hartnäckig verweigert: Man wollte insbesondere die weiblichen S-Bahn-Fahrgäste durch Mitteilungen in der Presse und Wandanschläge zu erhöhter Wachsamkeit und Vorsicht sowie zur Meldung verdächtiger Vorkommnisse auffordern. Genau diese Massnahme wurde von Kripo- bzw. SS-Führung nicht erlaubt.

Aber die Sonder- und Spätschichten, die immer weitergehende Einspannung von Ordnungspolizei- und Reichsbahn-Einheiten - all dies wurde genehmigt.

In seinem Buch "Von Bismarck zu Hitler" schreibt Sebastian Haffner von der merkwürdigen Zwittereigenschaft des "Dritten Reichs": einerseits ein "Staat der Willkür und und der Terrorherrschaft und daneben der alte, gewohnte Beamtenstaat, ja sogar Rechtsstaat. Wer damals etwa einen Mietstreit zu führen hatte oder einen Ehescheidungsprozess, bekam sein Recht genau nach den alten Gesetzbüchern und den alten Prozessordnungen ganz normal zugeteilt - Nationalsozialismus oder nicht, das spielte keine Rolle."

So gesehen könnte es sein, dass die damaligen Entscheider in Kripo- bzw. SS-Führung eigentlich nur ihre "ganz normale" Pflicht taten, dass sie eben - wie "immer schon" - den Täter festsetzen und die Gefahr für die Öffentlichkeit abwenden wollten.

War die Entscheidung vielleicht nur aus Propagandagründen erfolgt, damit das NS-Regime "gut dasteht" ? Dagegen spricht, dass die Presse-Berichterstattung eher gedämpft wurde - niemals stand der Satz "Wir setzen 5000 Mann für die Ergreifung des Mörders in Bewegung" in den gleichgeschalteten Zeitungen. Und wenn heute die Berliner Polizei vor einem ähnlichen Fall stünde - würde sich nicht der (heutzutage hauptberufliche) Pressesprecher der Polizei ebenfalls bemühen, alle polizeilichen Aktionen im bestmöglichen Licht darzustellen?



Der nächste unserer 3 Kriminalfälle ereignete sich rund 40 Jahre später. In der Zwischenzeit war der von den Nazis angezettelte Krieg in der (absehbaren) Katastrophe gemündet und aus den Trümmern des Deutschen Reiches waren 2 deutsche Staaten entstanden, die durch eine immer hermetischer abgeriegelte Grenze getrennt waren. In Ost und West waren neue Polizeien entstanden. Manch einer der Kripobeamten des alten Reiches, der kurz zuvor noch die (vielleicht verhasste) SS-Uniform in seinem Kleiderschrank gebürstet hatte, fand sich nun in neuer Uniform, aber oft kaum verändertem Auftrag wieder. Und natürlich gab es auch neu in den Polizeidienst gekommene Mitarbeiter.

In der DDR war aus Ordnungs- und Kriminalpolizei die "Volkspolizei" entstanden, während die "Stasi" zumindest funktionell in die Rolle der vormaligen Gestapo geschlüpft war.

Am 15. Januar 1981 war in Halle-Neustadt ein 7-jähriger Junge als verschwunden gemeldet wurden. Die Reaktion der Behörden war schnell und professionell - die Umgebung von Wohnung und letztem bekannten Aufenthaltsort wurde in immer weiter gezogenen Kreisen abgesucht, Keller und mögliche andere Verstecke untersucht, Krankenhäuser und Ambulanzen abgefragt. Die Suche wurde in den Folgetagen fortgesetzt, blieb aber ergebnislos. Den Routiniers unter den Volkspolizisten war klar, dass man wohl von einem Verbrechen ausgehen musste. Zwei Wochen später machte ein Streckengeher der DDR-Reichsbahn an der Bahnstrecke Halle-Leipzig einen grausigen Fund: In einem offensichtlich aus einem Zuge geworfenen Koffer fand er die in Plastikfolien und Zeitungen gehüllte Leiche des kleinen Jungen.

Auch in diesem Fall war die Fundlage äusserst dürftig: Fingerabdrücke waren, auch wegen der wochenlangen Liegezeit im Freien, nicht feststellbar. Der Koffer war ein jahrelang gefertigtes und zigtausendfach in DDR-Haushaltungen vorhandenes Exemplar und damit unmöglich einer spezifischen Person zuzuordnen.

Rund 20 Jahre vorher hatte in Westdeutschland der Fall des Serien-Kindesmörders Bartsch für Aufsehen gesorgt: Dieser hatte nach und nach 4 Jungen in einem ehemaligen Luftschutzbunker missbraucht und getötet.

Sicher war es auch die Erinnerung an diesen Fall, die die Volkspolizisten eine Wiederholung dieser Tat befürchten liess. Insofern war man entschlossen, mit Hochdruck jeder brauchbaren Spur nachzugehen. Allerdings war die einzig brauchbare Spur jener Haufen Zeitungen und Zeitschriften, mit denen der Koffer aufgefüllt worden war. Denn jemand hatte fast alle darauf befindlichen Kreuzworträtsel ausgefüllt, noch dazu mit einer recht prägnanten Schrift, die eine Reihe gut identifizierbarer Eigentümlichkeiten aufwies. Einen ersten Dämpfer erhielt der Optimismus der Beamten, als sie von Schriftsachverständigen erfuhren, dass die Schrift sehr wahrscheinlich von einer Frau stammte. Trotzdem war klar, dass - wenn man jener fleissigen Kreuzworträtsel-Löserin habhaft werden könnte - mindestens einen räumlichen, vielleicht auch einen persönlichen Zusammenhang mit dem Mörder herstellen würde können.

Der Weg war klar: Man musste möglichst viele Schriftproben von Personen aus dem örtlichen Umfeld erlangen und mit dem sichergestellten Schriftgut vergleichen.



Klar war aber auch, dass sich das leicht zu einer Sisyphus-Arbeit auswachsen konnte. Wieder ging man methodisch vor und begann mit dem Wohnblock der Eltern, um den Suchbereich nach und nach immer mehr auszuweiten. Neben freiwillig abgegebenen Schriftproben der Nachbarn und Arbeitskollegen ging man auch systematisch die betrieblichen Unterlagen (die "Kaderakten") in den verschiedenen Hallenser Betrieben durch. Auch Postsendungen und andere amtliche Meldungen wurden gesichtet. In indirekter Weise wurden auch die Kinder von Halle zu Hilfsermittlern, da es in der DDR eine übliche Taschengeld-Aufbesserung war, Altpapier zu sammeln. Nun wurde die übliche Altpapiersammlung wohnblockweise sortiert und alle mit ausgefüllten Kreuzworträtseln versehenen Seiten mit den Mustern aus dem Koffer verglichen.

Tatsächlich wurden in rund 9 Monaten über 500'000 Schriftproben erhoben und jede einzeln mit den Musterschriften verglichen - ein Ermittlungsaufwand, der in dieser Form einmalig ist und vermutlich (da ja handschriftlich ausgefüllte Dokumente immer seltener werden) wohl für lange Zeit den diesbezüglichen Rekord darstellen wird.

Entscheidend war schliesslich, dass man nicht nur massenhaft Schriftproben heranzog und untersuchte, sondern gleichzeitig genau jene Personen vermerkte, von denen man wegen zeitweiser oder dauerhafter Abwesenheit (Umzug...) keine Schriftprobe erhalten konnte. Sofern ermittelbar, wurden diese Personen angeschrieben oder von den neuen örtlichen VoPo-Dienststellen zur Abgabe einer Schriftprobe aufgefordert.

So auch im Falle einer Bewohnerin aus Halle-Neustadt, die in den Sommermonaten als Bedienung in einem Ostseebad arbeitete. Sobald die Schriftprobe einging, hatten die Ermittler den fast schon nicht mehr für möglich gehaltenen Erfolg: Die Schrift war identisch.

Die weitere Ermittlung war dann recht einfach: Die Tochter der Frau hatte eine Beziehung zu einem jungen Mann. Dadurch hatte der Mann Zugang zu der Wohnung der Frau, was er während der häufigen Abwesenheiten der Frau auch nutzte. Eben auch an jenem Januartag, als er das spätere Opfer erst in die Wohnung lockte, dort missbrauchte und schliesslich erschlug. Mit den Beweisen konfrontiert, gestand der Mann die Tat und wurde schliesslich zu lebenslanger Haft verurteilt.



Auch in diesem Fall überraschen der unternommene Aufwand und die Zähigkeit der Ermittlungen - in diesem Fall von einer Polizeitruppe, die die meisten Westdeutschen jener Zeit nur in Form von mürrisch die Reisepässe begutachtenden Grenzpolizisten kannten.

Sicher ist der "Kreuzworträtsel-Fall" ein Muster von professioneller und zielstrebiger Ermittlung. Und ein verhaltener Stolz auf die erbrachte Leistung ist dann auch aus den Interviews, die der RBB vor einigen Jahren mit den noch lebenden Beamten von damals durchführte, herauszuhören.

Wieviel Aufwand war das tatsächlich? Lässt sich das vielleicht quantifizieren? Nun - über Kostenanalysen hat sich damals in Halle wohl kaum einer den Kopf zerbrochen. Aber anhand der konkreten Zahl von 500'000 Schriftproben kann man eine Überschlagsrechnung versuchen:

Wenn man für den Vergleich von einer Schriftprobe eine Minute braucht und vielleicht für das Handling eine weitere halbe Minute, so ist man bei einem Arbeitsaufwand von über 12'000 Stunden. Multipliziert mit dem aktuellen gesetzlichen Mindestlohn von EUR 8,50 pro Stunde ergibt das über 100'000 Euro oder rund 200'000 alte West-D-Mark oder aber nach dem alten inoffiziellen West-Ost-Umtauschkurs 4-zu-1 rund 800'000 Ost-Mark. Und da wir es hier ja nicht mit Hilfsarbeitern, sondern mit ausgebildeten Polizisten und Kriminalbeamten zu tun hatten, dürfte die Zahl wohl noch wesentlich zu tief gegriffen sein.

Sind 800'000 oder eine Million Mark zuviel oder zuwenig für die Aufklärung eines grausamen Verbrechens an einem Kind? Oder für die Verhinderung einer möglichen Folgetat?

Meines Wissens gibt es in keinem europäischen Staat eine feste monetäre Obergrenze, die die Polizei bei Mordermittlungen nicht überschreiten darf (zumindest keine öffentlich publizierte). Und das ist vermutlich auch gut so, da sich ja die Aufklärungschancen bei jedem Fall sehr unterschiedlich darstellen. In der Regel werden die untersuchenden Polizeien zunächst versuchen, mit der normalen Belegschaft und innerhalb des normalen Budgets zur Aufklärung zu kommen. Erst wenn so nicht weiterzukommen ist und gleichzeitig ein erkennbarer Ermittlungsansatz gegeben ist, werden sie um personelle und/oder materielle Unterstützung nachsuchen.

Gleichzeitig gibt es natürlich irgendwo doch materielle Grenzen - womit sich die häufig gebrauchte Floskel vom "wir werden alles Menschenmögliche tun, um den Täter zu finden" eher als gutgemeintes Placebo erweist. Für das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Kriminalpolizei dürfte entscheidend sein, ob im Nachhinein das Ergebnis die eingesetzten Mittel rechtfertigt. Ein massenhaftes Einsammeln von DNA-Proben im Falle eines Handtaschenraubes würde auf Unverständnis stossen - im Falle eines Kindesmordes aber von den meisten Bürgern akzeptiert oder sogar begrüsst werden.




Wenig erstaunlich also, dass aus der Hallenser Bürgerschaft kein Widerstand gegen die massenweise Schriftprobenerhebung dokumentiert ist - obwohl es sicher bei nicht wenigen durchaus Vorbehalte gegen die "Volkspolizei" an sich gab.



Zwei spekulative Betrachtungen drängen sich bei Betrachtung dieser beiden Kriminal-Untersuchungen aus Drittem Reich und DDR auf: Hätte die "SS-Kripo" genauso viel Einsatz gezeigt, wenn es sich um die Ermordung von jüdischen Ladenbesitzern gehandelt hätte? Und hätten die VoPo-Kommissare genauso entschlossen gehandelt, wenn frühzeitig der Verdacht auf ein ranghohes SED-Mitglied gefallen wäre?



Meine total subjektive Einschätzung wäre wie folgt:

Bei einer Mordserie an jüdischen Ladenbesitzern wäre, selbst wenn der ermittelnde Beamte sehr viel Einsatz und Engagement für umfassende Massnahmen gezeigt hätte, sehr frühzeitig von der SS-Führung ein "Deckel" gesetzt worden. Denn dort war ja die endgültige "Bestimmung" der jüdischen Bevölkerung durchaus vorgeplant gewesen, also ihre Vernichtung in Arbeits- oder Todeslagern. Ein "übertriebener Aufwand" bei der Verfolgung einer solchen Mordserie wäre geradezu als Verschwendung von Volksvermögen betrachtet worden.

Die hypothetische Verstrickung eines hohen SED-Funktionärs ist m.E. schwerer einzuschätzen. Sicher sind kleinere Vergehen der "Nomenklatura" oft unter den Teppich gekehrt worden. Aber ein Mord wäre eine andere Kategorie gewesen. Und man darf nicht vergessen, dass die DDR zwar eine Diktatur war - die selbsterklärte "Diktatur des Proletariats". Aber die Herrschaft in diesem System war durchaus kollektiv organisiert, und in einer nicht genau definierten Weise waren damit auch eine Art "checks and balances" eingebaut - mindestens in der Form einer beständigen bürokratischen Machtkonkurrenz. Insofern ist meine Einschätzung: Ja - man hätte die Ermittlungen wesentlich weniger öffentlich gemacht - aber nein - man hätte weiterermittelt und ggf. geheim abgeurteilt.

Als im Zuge der "Wende" auch die Wohnungen der ehemaligen Parteiführer in Wandlitz geöffnet und im Fernsehen vorgeführt wurden, waren nicht wenige DDR-Bürger über den Luxus und die vielen "Westartikel", die da zu bestaunen waren, empört. Mit nüchternem Auge muss man aber konstatieren, dass das Luxusniveau dieser Staats- und Parteielite eigentlich recht bürgerlich daherkam: grosszügige Badezimmer, Linde-Kühlschränke in der Küche und Stereoanlagen im Wohnzimmer, ein gemeinsam genutztes Schwimmbad im Hotelformat - das war im Westen ein für jeden kleineren Unternehmer erreichbares Niveau. Eine quasi-königliche Selbstinszenierung wie etwa bei Rumäniens Ceausescu lag den SED-Granden offenbar nicht.



Kommen wir zum dritten Fall, der wieder in einem "anderen" Staat stattfindet. Nun ist es die zwar immer noch Bundesrepublik genannte Republik der 1990er und 2000er Jahre, die von Journalisten gerne die "Berliner Republik" genannt wird. In Ost und West sind alle ehemaligen SS-Kriminalisten längst altershalber aus dem Dienst ausgeschieden. Die "Volkspolizisten" sind intensiv hinsichtlich allzu enger Verstrickungen in das DDR-Machtsystem begutachtet und die ehemaligen "Kader" entsprechend "gesäubert" worden. Aber die fachlich fähigen und "unbelasteten" Kriminalisten sind natürlich geblieben, ergänzt (und überwacht ?) von Kollegen aus dem Westen.

Im Unterschied zu den vorherigen Fällen haben wir es nun nicht mit einem Tatort oder Tatortareal zu tun, sondern mit 6 bis 8 Orten:

Nürnberg

München

Kassel

Köln

Dortmund

Hamburg

Rostock

Heilbronn (?)

Der aufmerksame Leser ahnt schon, um was es hier geht: um die Mordserie des sogenannten "NSU", der zwischen 2000 und 2007 mindesten neun Menschen zum Opfer fielen (und die, wenn man das Nagelbombenattentat von Köln einbezieht, mindestens 22 teilweise schwer Verletzte forderten).

Entsprechend müsste man nun über die Arbeit von 6 oder 8 verschiedenen Kriminalpolizeien berichten. Andererseits wurde auch frühzeitig ein Zusammenhang bei mindestens 9 Fällen festgestellt, da hier immer dieselbe Pistole - eine Ceska aus tschechischer Produktion - verwendet wurde. Entsprechend wurde früh eine Sonderkommission gebildet, die zunächst unter dem Kürzel "Soko Bosporus" firmierte. In der Presse wurde auch gerne der Ausdruck "Döner"-Mordserie verwendet, obwohl nur 2 der Opfer in der Gastronomie beschäftigt waren. Polizei-intern war auch sachlich richtig von der Ceska-Serie (nach der verwendeten Tatwaffe) die Rede.

Im Laufe der mehrjährigen Ermittlungen sind unzählige Tatbestände ermittelt und umfangreiche Akten angelegt worden. Es wäre anmassend, darüber an dieser Stelle ein pauschales Urteil fällen zu wollen. Auch kann man sicher davon ausgehen, dass die damit befassten Ermittler nicht dümmer oder ungeschickter als ihre Vorgänger in der DDR oder dem 3. Reich waren, von den neuen technischen Möglichkeiten einmal ganz abgesehen.

Trotzdem war es möglich, dass die Täter sieben Jahre lang planmässig mordend durch die Republik zogen, quasi nebenbei einen verheerenden Nagelbombenanschlag (in Köln) verübten und ihr blutiges Handwerk (wenn man der Staatsanwaltschaft glauben will) mit einem kaltblütigen Polizistenmord in Heilbronn "krönten".

Weiter gab es einige ermittlerische Sackgassen, die mit grossem Eifer verfolgt wurden. So wurde im Falle des ersten Opfers mit viel Energie nach Verbindungen zu einer "türkischen Mafia" gefahndet - aber diese Verbindungen gab es nie und erscheinen bei einem als Blumenhändler (!) tätigen Opfer auch spontan eher unwahrscheinlich.



Für Verbitterung sorgte bei den Angehörigen der Opfer der unausgesprochene Generalverdacht, dass die Opfer selbst sich in kriminelle Machenschaften verstrickt haben könnten. Oder aber (wieder im Falle des Blumenhändlers) die der Witwe vorgehaltenen "Tatsache" einer ausserehelichen Beziehung des Mannes - eine freie Erfindung der Polizei mit dem Ziel, irgendwelche "Geständnisse" der Angehörigen zu erreichen.

Ein weiterer Irrweg war die sogenannte "Phantommörderin":

So erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT im April 2008 ein langer Artikel über die bislang erfolglosen Bemühungen der Polizei, eine "UWP" ("unbekannte weibliche Person") oder eben "Phantommörderin" dingfest zu machen, von der man im Laufe von 15 Jahren DNA-Spuren an 26 verschiedenen Tatorten sichergestellt hatte, davon 6 Mordfälle. Einer dieser mit der "UWP" in Verbindung gebrachten Morde war der an der Polizistin Michele Kiesewetter, die im April 2007 in Ihrem Dienstwagen erschossen worden war (ihr Kollege war dabei lebensgefährlich verletzt worden). Ich habe diesen Artikel damals intensiv und mit Interesse gelesen - aus dem recht banalen Grund, weil einer der der "UWP" zugeschriebenen Mordfälle sich hier in Freiburg ereignet hatte.


Nach der Lektüre (das erinnere ich noch gut) hatte ich den starken Eindruck, dass hier ein systematischer Fehler vorliegen musste - zu zusammenhanglos waren alle im Artikel vorgestellten Kriminalfälle, und das einzige verknüpfende Element war eben der als identisch festgestellte "genetische Fingerabdruck" der DNA-Proben.

Im Jahre 2011 sollte sich herausstellen, dass es tatsächlich ein systematischer Fehler gewesen war: Die immer identische DNA war in der Herstellerfirma der zur Probennahme verwendeten Wattestäbchen von einer der Packerinnen unabsichtlich auf die Stäbchen übertragen worden, die Stäbchen waren "kontaminiert". Damit löste sich das ganze Rätsel um die unbekannte "Phantommörderin" in nichts auf.

Nun ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher Verdacht, wie ich ihn als kriminalistischer Laie spontan hatte ("systematischer Fehler"), nicht auch irgendwann den Profis der Kriminalpolizeien gekommen ist.

Trotzdem hatte man polizeiseitig, das ergibt sich aus dem genannten Zeitungsartikel, dem ZEIT-Reporter intensiv über die "UWP" und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen berichtet und Zweifel an der DNA-Spur (gerade im Fall Kiesewetter!) vehement geleugnet.



Diese 3 Kriminal-Geschichten sind natürlich nur "anekdotische Evidenz", sie "beweisen" zunächst einmal nur sich selbst. Aber natürlich können sie gerne formulierte Allgemeinsätze widerlegen.

Die Geschichte vom S-Bahn-Mörder würde den Satz "alle Kripo-Beamten des 3.Reiches haben ausschliesslich politische Gegner, Juden und Minderheiten verfolgt" widerlegen, denn hier waren Zielsetzung und Methode durchaus so, wie wir das auch heute noch erwarten würden.

Ähnlich würde der Kreuzworträtsel-Fall die Auffassung, "alle VoPo-Beamten waren ideenlose Schikaneure" widerlegen.

Ein anderer Allgemeinsatz ist: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, Polizei und Justiz beachten die Gesetze".

Dies wird gerne im Gegensatz zur untergegangenen DDR formuliert, die eben ein Unrechtsstaat gewesen sei. Entsprechend wird gegen Menschen aus der ehemaligen DDR oft bei passender Gelegenheit der Vorwurf erhoben: "Er (oder Sie) hat sich nicht ausreichend vom Unrechtsstaat DDR distanziert!"

Die implizierte Voraussetzung ist dabei natürlich, dass die DDR unzweifelhaft und unübersehbar ein Unrechtsstaat gewesen sei.

Nun ist etwa die Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin ein beredtes Beispiel dafür, dass die DDR ein Unrechtsstaat sein konnte - ein Staat, der aus weltanschaulichen Gründen Personen verhaftete, sie härtesten Haftbedingungen aussetzte, psychischer Folter und Verfolgung unterzog.

Damit kann man argumentieren, dass ein Staat, der solches Unrecht wie das der Stasi in Hohenschönhausen zulässt oder betreibt, eben insgesamt ein Unrechtsstaat sei.

Andererseits hatte auch die DDR die Zwittereigenschaft, die Sebastian Haffner schon am dritten Reich beobachtet hatte: Für einen nicht systemkritischen Bürger konnte sich die DDR als gut organisierter Rechtsstaat darstellen, der "wie im Westen" (freilich mit etwas anderen Gesetzen) ordentlich Recht sprach. Und solche Fahndungserfolge der Polizei wie im "Kreuzworträtsel-Fall" konnten auch einen gewissen Stolz der Bürger auf diese Polizei (oder diese Seite der Polizei) rechtfertigen.

Aber die Wendung "Unrechtsstaat DRR" wird eben häufig als politischer Kampfbegriff benutzt, der nicht wirklich über Rechtsverletzungen aufklären will, sondern die Bürger der ehemaligen DDR in ein Schwarz-Weiss-Schema pressen will, dass der damaligen Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird.



Die Rede vom "Unrechtsstaat DDR" dient natürlich auch dazu, den "Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland" umso heller erstrahlen zu lassen.

Genau da ist die "anekdotische Evidenz" des dritten Kriminalfalles so beunruhigend. Denn beim NSU-Komplex geht es ja nicht um irgendwelche, letztlich nie ganz vermeidbare kleinen Fahndungspannen. Auch handelt es sich ja nicht um einen Einzeltäter in einem zeitlich und örtlich eng begrenzten Gebiet wie damals in Rummelsburg, sondern um mindestens 3 Tatkreise (die Ceska-Serie, das Bombenattentat, den Polizistinnen-Mord), die von mehreren Landes- und Bundesbehörden bearbeitet wurden und spätestens nach dem Waffenfund von Stregda und der Festnahme von Beate Tschäpe zu der einen Anklage der Bundesanwaltschaft führten.

War z.B. die so auffällig in die Presse gesetzte "Phantommörderin"-Hypothese nur Panne, oder eher Absicht?

War es Zufall oder nicht, wenn ein halbes Jahr nach der geplatzten Hypothese von der "Phantommörderin" die Dienstwaffen aus Heilbronn in dem teilweise ausgebrannten Wohnmobil gefunden wurden - neben den Leichen der später als "NSU-Mörder" bekanntgewordnenen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (siehe Text "Stregda, der NSU").

Ist es Nachlässigkeit oder nicht, wenn die an den verschiedenen Tatorten gesicherten DNA-Proben bislang nie mit Proben von bekannten Rechtsextremisten aus dem NSU-Umfeld verglichen worden sind, wie der NSU-Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU !) erst neulich angemahnt hat?

Ohnehin auffällig der Umgang mit den verschiedenen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Landes- und Bundesebene :

Vernichten von Akten, Aussageverweigerung, vorgeschobener "Quellenschutz", Nichtverfolgen von Hinweisen auf Anwesenheit von VS-Mitarbeitern - das alles befördert nicht den Glauben an den Rechtsstaat. Wieso wurde überhaupt diese rechtsextremistische Szene in Sachsen und Thüringen mit viel Geld vom Verfassungsschutz mindestens alimentiert, wenn nicht gar in diesem Umfange erst aufgebaut?

Wird es den Untersuchungsausschüssen gelingen, die wirklichen Beziehungen von Landes- und Bundes-Verfassungsschutzämtern zum NSU-Trio und den anderen rechtsextremen Gruppen aufzuklären?



Es überrascht nicht, dass sich die Bundesrepublik in den fast sieben Jahrzehnten ihres Bestehens verändert hat. Es sollte uns aber beunruhigen, wenn sie dieselbe Zwittereigenschaft entwickelt hätte, die man an Drittem Reich und DDR beobachten konnte:

Einerseits, sozusagen in der Fläche, ein Rechtsstaat mit allen dazugehörigen Einrichtungen - andererseits (punktuell ?) bereit, diese Werte zu ignorieren, sofern das "höhere Ziel" des "Staatsschutzes" betroffen zu sein scheint.

Wobei noch zu fragen wäre, was für ein Staat bzw. welche Staatsidee da geschützt werden soll, und vor was oder vor wem da geschützt werden soll.

Ich glaube nicht, dass es die Staatsidee ist, die die "Mütter und Väter" des Grundgesetzes vor Augen hatten.

(September 2016)