Abschied von der 143 - oder wiederauferstandenes "Deutschland"





Im Dampflokwerk Meiningen (dessen Besuch auch nicht-bahnverrückten empfohlen werden kann), ist - neben vielen anderen imposanten Gerätschaften - auch eine Radsatzdrehbank zu sehen. Dieses mannshohe, über 70 Tonnen schwere Gerät ist, wie viele andere Maschinen in der Werkhalle, Jahrzehnte alt. Dieses spezielle Exemplar stammt aus dem Jahr 1942 von der Firma "Maschinenfabrik Deutschland" in Dortmund:






(Die Maschine im Jahre 2015, mit nachgerüsteter elektronischer Steuerung)

Entsprechend ist der Name"Deutschland" dann auch in das Gehäuse eingelassen:









Nach 1945 wurde das damalige Reichsbahn-Ausbesserungswerk wichtiger Bestandteil der DDR-Reichsbahn und setzte schon früh einen Schwerpunkt auf Dampflokomotiven. Zeitweise waren über 3000 Menschen dort beschäftigt.

Im Zuge der Auseinandersetzungen der beiden deutschen Staaten um die politisch-kulturelle Vorherrschaft, befeuert durch die sogenannte Hallstein-Doktrin der BRD , wurde der Name "Deutschland" von der "Kaderleitung" irgendwann als zu provokant empfunden. Es wurden ein paar Mann abgestellt, um den Schriftzug mit dem Schweißbrenner herauszutrennen.

Aber das herausgetrennte Teil wurde (aus welchen Gründen auch immer) nicht in den Altmetallbehälter geworfen, sondern in irgendeiner Ecke abgelegt.

Jahrzehnte später - nach der Wende - wurde das Teil wieder "ausgegraben", und die nunmehr neue Betriebsleitung stellte dann ein paar Leute ab, um das Schild wieder einzuschweissen. Nach der anschließenden Neulackierung präsentierte sich die Maschine also fast wieder im Originalzustand. *1

Kommen wir von "Deutschland" zum Schwarzwald ...



Wer heute mit der "Höllentalbahn" von Freiburg nach Neustadt oder Schluchsee fährt, sitzt (noch) mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Zug, der von einer Lokomotive der Baureihe 143 gezogen wird. Für den Laien ist an dieser Lokomotive nichts besonderes - ein (ehemals) "verkehrsrot" lackierter Kasten sitzt auf einem 4-achsigen Fahrgestell, und auch die Achsfolge Bo'Bo' kann heutzutage geradezu als Standard für Universallokomotiven gelten.

Im Rahmen der Neuausschreibung der Nahverkehrsnetze um Freiburg sollen die "143er" demnächst modernerem Material weichen - es heisst also "Abschied nehmen".

(Für "Trainspotter": Die 143 ist nur echt mit je 13 Sicken im Blech der Seitenwände!)





Der äusseren Unauffälligkeit zum Trotz zeigt der Einsatz der 143er auf der Höllentalbahn (der steilsten Adhäsionsstrecke im Netz der DB AG), dass hier ein besonderes Modell vorliegt. Tatsächlich war diese Lokomotive bei ihrer Präsentation im Jahre 1982 (als Baureihe 243) ein vielbachtetes Muster einer fortschrittlich konstruierten Lok. Ein laufruhiges Fahrwerk mit Lemniskaten-Führung war mit moderner Elektrik, die Wendezug- und Doppeltraktionsfähigkeit beinhaltete, kombiniert. Dem Lokpersonal hatte man sogar, Novum im europäischen Raum nördlich der Alpen, eine Klimaanlage in der Kabine gegönnt. Da das Modell einer der traditionsreichsten E-Lok-Fabriken Europas auch sonst gut durchkonstruiert war, entwickelte es sich bald zu einem der meist gebauten Baumuster (insgesamt wurden über 600 Stück gefertigt).

Sogar Windkanals-Tests (allerdings an Modellen) wurden durchgeführt und resultierten in der charakterischen Absenkung des Daches über den Führerständen.

Insofern würde man eigentlich erwarten, daß die Herstellerfirma sich in Form eines gut sichtbaren Schildes im Aussenbereich der Lok "verewigt" hätte, wie z.B. bei dieser modernen Lok:





An der 143 ist aber keinerlei Schild zu finden - oder besser nicht mehr. Denn am Anfang ihrer Einsatzzeit trugen die Loks sehr wohl ein Schild:

"VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke >Hans Beimler<"

Also ein DDR-Produkt, allerdings war "LEW Hennigsdorf", wie es meist kurz genannt wurde, durchaus ein Traditionsbetrieb und als AEG-Werk schon vor dem 2.Weltkrieg für seine Elektroloks bekannt.

Ihrer Herstellerschilder verlustig gingen die Loks, als sie nach der "Wende" von der um die ehemalige DDR-Reichsbahn erweiterten DB-AG zum ersten Mal auch im "Westen" eingesetzt wurden. Offensichtlich war der zuständige DB-Manager der Auffassung, dass man den West-Bürgern den Anblick einer DDR-Lok nicht zumuten konnte.

Also wurden nicht wenige Arbeitsstunden darin investiert, die kompromittierenden Schilder an allen Loks zu entfernen, die in diesem Fall nur angeschraubt und nicht wie bei der oben aufgeführten Radsatz-Drehbank in ein Gussgehäuse eingelassen waren.



Diese kleine Anekdote ist sinnfällig für den Umgang der "siegreichen" BRD mit der DDR-Geschichte, in diesem Falle Technikgeschichte.

Für den West-Bürger war eben klar, dass alle DDR-Technik nur Schrott gewesen sein konnte, und als die ehemaligen "Zonis" nach der Wende nicht schnell genug ihre "Trabis" gegen ein gebrauchtes West-Auto eintauschen konnten, war man ja aufs Beste in seinen Vorurteilen bestätigt.



Warum hatte man sich überhaupt in der DDR die Mühe gemacht, eine neue Elektrolok zu konstruieren ?

Eigentlich war die Planung in der DDR der Nachkriegszeit davon ausgegangen, die zum Grossteil noch aus Vorkriegsbeständen im Einsatz befindlichen Dampflokomotiven sukzessive durch Dieselloks zu ersetzen. Das war einleuchtend, denn so brauchte man nur die bestehende Bekohlungs- und Bewasserungs-Infrastruktur um ein paar Dieseltankstellen zu ergänzen. Ausserdem hatte man ja durch Kriegsschäden und die Reparationsforderungen der Sowjetunion ein Gutteil der vor dem Krieg bereits elektrifizierten Strecken *2 verloren - mit Dieseltraktion konnte man hoffen, mit einem Minimum an Neu-Investitionen den Fuhrpark grundlegend modernisieren zu können.

Dieser Plan wurde dann auch anfänglich umgesetzt, nicht wenig auch von der Tatsache beflügelt, dass die Sowjetunion Öl-Treibstoffe aller Art an die Mitglieder des neugegründeten COMECON *3 zu Vorzugspreisen abgab. Als Loks wurden dabei neben bereits etablierten Modellen aus dem "sozialistischen Wirtschaftsraum" auch Eigenentwicklungen (z.B. V180) eingesetzt.

Die Sachlage änderte sich, als die Sowjetunion die Preise für Ölprodukte auch für RGW-Länder erhöhte - die ersten Ölkrisen Anfang der 1970er Jahre taten das ihrige. In der DDR musste bei der Suche nach anderen Ernergieträgern der Blick zwangsläufig auf die grossen Bestände an Braunkohle fallen. Theoretisch hätte man diese Kohle auch direkt in den vorhandenen Dampflokomotiven verheizen können - was aber neue Investionen in die Umrüstung des nun wirklich sehr betagten Bestandes bedeutet hätte. Die Alternative war die Verstromung der Kohle und die sukzessive Elektrifizierung (oder Wieder-Elektrifizierung) der wichtigsten Strecken.

Also brauchte man Elektroloks. Auch hier wollte man es sich eigentlich einfach machen und die im Westen bereits bewährten "Einheits-Elloks" der Baureihen E10, E40 etc. in Lizenz nachbauen. Das wurde aber von den westdeutschen Herstellern abgelehnt. Daraufhin kam es zum Entwicklungsauftrag an LEW Hennigsdorf mit dem bekannten Ergebnis.




Das Resultat war also eine fortschrittliche Lok, die übrigens auch kaum unter "Kinderkrankheiten" litt. Ob die Baureihe 143 nun "besser" war als ihre West-Pendants, mag Stoff für Diskussionen unter Bahnfreaks abgeben. Dass das Konstrukt mindestens in derselben "Liga" spielte, ergibt sich aber aus der Einsatzgeschichte.

Man kann natürlich diese Lok-Baureihe zu einer Ausnahme deklarieren, zu einem einmaligen "Ausrutscher nach oben" sozusagen. Aber die DDR konnte auch auf anderen Gebieten "Weltniveau" bieten - sicher nicht so oft, wie von der SED-Führung proklamiert - aber öfter, als man es heute wahrhaben will.

So war die Leipziger Messe gerade für Anlagenbauer aus Westdeutschland ein Pflichttermin - nicht, weil einem der "ausgehungerte" Osten die eigenen Produkte aus der Hand riss, sondern weil man sich in harter Konkurrenz mit den ostdeutschen Anlagebauern befand.

Und der jahrelange Streit zwischen ZEISS (West) und ZEISS (Ost) um Markenbezeichnungen, Vertretungsrechte etc. wurde ja nicht (vorrangig) aus "Lust ums Prinzip" ausgefochten, sondern weil es um wichtige Marktanteile auf den Exportmärkten ging. Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass ZEISS-Jena-Produkte optisch und mechanisch zumindest sehr nahe an vergleichbaren ZEISS-Oberkochen-Produkten waren. Ein weiteres Beispiel könnte die Fliessbandproduktion hochwertiger Spiegelreflexcameras bei VEB-Pentacon sein - da waren die Dresdner in Europa eindeutig die Ersten.

Einen Blick auf beide Aspekte der Technikentwicklung in der DDR liefert das Automobilmuseum im Gebäude der ehemaligen "Automobil-Werke Eisenach". Dort stehen reihenweise Prototypen, die teilweise - zumindest optisch und von der Papierform her - durchaus den Vergleich mit Westprodukten der gleichen Zeit standhalten. Aber es sind auch Fahrzeuge aus den letzten Jahren der Serienproduktion (Wartburg) zu sehen, die mit ihrer groben Ausführung in starkem Kontrast zu den gediegenen ersten Nachkriegsmodellen (z.B. EMW 340) stehen. Der bekannte Spaltmassfetischist Ferdinand Piech von VW würde sich wohl grausen...



Das Thema Automobilproduktion kann uns den Schlüssel zu dieser merkwürdigen Zwiespältigkeit liefern. Wieso hat die planwirtschaftliche Führung der DDR die Ingenieure aus Eisenach und Zwickau mit ihren Forderungen nach gründlichen Neukonstruktionen der allzu offenkundig betagten Trabant- und Wartburg-Modelle schlicht auflaufen lassen - aber gleichzeitig den Konstrukteuren von LEW Hennigsdorf genug personelle und materielle Ressourcen zukommen lassen, um eine neue Ellok-Generation auf die Räder zu stellen ?

Es liegt m.E. in den Prioritäten, die die DDR-Führung hatte (und vielleicht haben musste). Während die Güter- und Personenbeförderung per Schiene ein unverzichtbares Muss war, die Reichsbahn also mit rollendem Material in guter Qualität ausgestattet werden musste - war der Individualverkehr mit Pkw ein entbehrlicher Luxus, der nur in wenigen Teilgebieten überhaupt wesentliche Anteile an der Transportleistung erbrachte. Und natürlich hätte jede grosse staatliche Investition z.B. in Autobahnen die Mittel "kannibalisiert", die man eben in den Ausbau des Schienenverkehrs steckte.

Erst danach kamen ideologische Überlegungen, die den motorisierten Individualverkehr prinzipiell weniger förderungswürdig erscheinen liessen als das "Gemeinschaftserlebnis" Bahnfahrt. Möglicherweise spielten auch Überlegungen der Stasi eine Rolle, die Pkw sicher auch als mögliche "Fluchtmittel" ansah.

Für den eigenen Bedarf beschaffte die DDR-Führung aber doch gern hochwertiges Pkw-Material. Ich erinnere noch gut, wie etwa der Vorsitzende der "Blockflöten"-CDU Lothar de Maiziere aus dem von der Staatsführung gestellten Citroen-BX stieg. Und die grossen Volvos und Citroen der SED-Führungskader sind ja noch heute in Museen und Sammlungen zu bewundern.



Der oben erwähnte Kannibalisierungseffekt von Strassen- versus Schienenverkehr war natürlich ebenso im Westen gegeben (und ist es auch in der "Berliner Republik" geblieben).

Nur wurde im Westen eben konsequent auf Strassen, Autobahnen und die "autogerechte Stadt" gesetzt, vielleicht auch als notwendige Förderung einer "notleidenden" (?) Automobil-Industrie gesehen. Während die stetig ansteigenden "Schulden" der alten Bundesbahn gerade in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ständiges mediales Thema waren, hat sich über die "Schulden" etwa des Spediteurgewerbes gegenüber dem Infrastruktur-Geber "Staat" niemand echauffiert. Dabei ist die Parallelität der Sachlage eigentlich offensichtlich: Wenn der Staat den Spediteuren (und den privaten Pkw-Nutzern) eine Infrastruktur (damals) kostenlos "hinstellt", so müsste er es für den (damals praktisch einzigen) Bahnverkehrsbetreiber ebenfalls tun und dürfte diesen (öffentlichen) Investitionsbedarf nicht als Ausgaben in die Bilanz des (Staats-)Unternehmens einsetzen.

Im Rahmen der Bahnreform hat man dann plötzlich der neugeschaffenen DB AG alle Schulden abnehmen können und gleichzeitig eine geradezu irrwitzige Anreizstruktur geschaffen: Während die DB für Erhalt und Betrieb des Netzes zuständig blieb, werden alle Neubauprojekte nach wie vor vom Bund bezahlt - dadurch macht es für die "privatwirtschaftliche" DB AG Sinn, Bestandsstrecken konsequent verlottern zu lassen, bis aus der Öffentlichkeit "von ganz allein" der Ruf nach Neubaustrecken kommt.

Aber kommen wir wieder zu unseren Schildern und der Symbolik, die man darin sehen kann, zurück.

Nach der Wende wurden also alle VEB- und DDR-Schilder mit grossem Schwung auf den Schutthaufen der Geschichte geworfen. Gleichzeitig hat man vom selben Schutthaufen nicht das Schild, sondern das Konzept von "Deutschland" als der "natürlichen Vormacht" in Europa hervorgeholt. Natürlich wurde und wird das "Deutschland"-Bild kräftig aufpoliert, in der Selbstbeschreibung können die Worte "weltoffen", "europäisch", "tolerant" und "innovativ" gar nicht oft genug vorkommen.

Und die selbsternannte Elite dieses "Neuen Deutschlands" hat auch klar erkannt, dass man die Europäische Union als Mittel einsetzen kann, die eigenen politsch-wirtschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen. Gewiss gibt es da auch gelegentlich Reibereien mit den "Partner"-Ländern, und auch die aufstrebende Brüsseler Elite hat gelegentlich andere Zielsetzungen als "Berlin". Aber tutto grosso geht es schon meist nach dem Willen der Bundesregierung, bisher am drastischten beim de-facto Staatsstreich in Griechenland sichtbar.



(Oktober 2016)



Ein Nachtrag zur Wiedereinsetzung des Werksschildes bei der Radsatzdrehbank "Deutschland": Das war m.E. durchaus richtig. Wo immer es geht, sollten solche historischen Monumente im Originalzustand präsentiert werden.

Die ggf. kritische Auseinandersetzung mit dem, für das "Deutschland" damals stand und warum sich eine Maschinenfabrik so einen Namen gab, müssen wir eben selber leisten.

Ein Wegflexen oder Heraustrennen "provokanter" Namen macht die Geschichte ja nicht ungeschehen.

In diesem Zusammenhang sehe ich auch die neuzeitlichen Bestrebungen vieler Städte, alle Strassennamen auf "belastete" Namensgeber zu untersuchen und ggf. Umbenennungen durchzuführen, eher kritisch. Da wird wohl oft nur - mit einem "Fachgutachten" in der Hand - die Geschichte "endgültig bereinigt".


*1 Vielen Dank für diese Anekdote an Herrn Glinka, dessen kenntnisreiche Betriebsführung sehr zu empfehlen ist!

*2 Allerdings wurden auch im Westen Oberleitungen und Gleise demontiert, allerdings in deutlich geringerem Umfang. Einige der so auf Eingleisigkeit zurückgestutzten Strecken warten noch heute auf die Re-Installation des 2. Gleises.

*3 COMECON oder RGW ("Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe") war das östliche Gegenstück zur EWG (der späteren EU).