Frau Clinton schaut Fern







Das obenstehende Foto *1 könnte auf den ersten Blick in irgendeinem amerikanischen Wohnzimmer aufgenommen worden sein, wo sich eine gemischte Gruppe zusammengefunden hat, um vielleicht ein Fussball- oder Baseball-Spiel auf einem grossen TV-Schirm zu verfolgen.

Allerdings gibt es ein paar Sachen, die stutzig machen. Zum einen die Batterie von Notebook-PCs auf dem Tisch, dann das "Präsidenten-Siegel" an der Wand und vor allem der hochdekorierte Militär in der Bildmitte, der als einziger nicht auf die TV-Wand schaut, sondern auf sein Notebook.

Nun - dieses Foto ist "historisch". Es wurde im Mai 2011 vom Weissen Haus veröffentlicht. Darauf sind (sitzend) zu sehen US-Vizepräsident Joe Biden, daneben Präsident Barack Obama und in der Bildmitte Brig.Gen. Bradley Webb. Rechts davon Denis McDonough, "White House Chief of Staff", und daneben Hillary Clinton, damals "Secretary of State". Der ranghöchste Militär ist (ohne Jacke) unter den Stehenden zu finden: Michael Mullen, damals "Chairman of the Joint Chiefs of Staff" (an der Wand links). Die Örtlichkeit ist der "Situation Room" im Weissen Haus in Washington. Manchmal wird dieser Raum auch "War Room" genannt (und ist in dieser Form wesentlich unspektakulärer als der fiktionale War Room in Stanley Kubricks Film "Dr. Strangelove", an den sich einige noch erinnern mögen).

Was ebenfalls sofort ins Auge sticht ist die Geste der Bestürzung, die die einzige abgebildete Frau - Mrs. Clinton - demonstriert. Dieses mit der Hand den Mund bedecken deuten wir instinktiv als Zeichen für etwas Erschreckendes, Bestürzendes oder Grausames, welches die so reagierende Person wahrnimmt.

Tatsächlich gab es Anlass zur Bestürzung: Was da nämlich "live" auf dem Bildschirm präsentiert wurde, war die Tötung des Terroristenführers Osama bin Laden durch ein US-amerikanisches "Special Operations Team" in seinem Haus in Abbottabad in Pakistan.

Mrs. Clinton ist die einzige, die diese Bestürzung zeigt. Während man bei den männlichen Zuschauern zwar Anspannung, aber kein Entsetzen wahrnehmen kann - ganz so, als gehe es nur um eine kritische Spielphase (um die Sport-Analogie aufzugreifen).

Interessanterweise wurde vom Weissen Haus das Bild nachbearbeitet und dabei der Bildausschnitt um Clinton sogar hervorgehoben:

http://observers.france24.com/en/20110516-bin-laden-raid-situation-room-photo-airbrushed-white-house-usa-propaganda




Zu den widerwärtigsten "Handelsgütern" - im Internet und sonstwo - darf man sicherlich die sogenannten "snuff videos" rechnen, also Videos, in denen Menschen vor laufender Kamera ermordet werden. Zu Recht ist in den meisten Staaten schon der Handel damit ein strafbewehrtes Verbrechen.

Nun ist unsere obige TV-Situation in gewisser Weise auch ein "snuff video": Das, was die Helmkameras der US-Soldaten da live in das Weisse Haus übertragen haben, war ja auch die vorsätzliche Tötung eines Menschen (bzw. mehrerer, man denke an bin Ladens Leibwächter).

Gewiss kann man argumentieren, dass eine Welt ohne bin Laden eine bessere Welt sei - aber es bleibt ein Fakt, dass bin Laden ohne Gesetzesgrundlage und ohne Urteil eines Gerichtshofes getötet wurde. Dass die Tötung durch eine US-Spezialeinheit auf dem Boden eines dritten Landes (Pakistan) erfolgte, macht die Sache rechtlich nicht besser, ebensowenig wie die euphemistische Beschreibung der Sache durch die US-Regierung ("we have taken him out" - "wir haben ihn 'herausgenommen'").

Es gibt natürlich Leute, die solche Aktionen als eine Art "Staatsnotstand" gerechtfertigt sehen - darauf werde ich später eingehen. Für die Charakterisierung dieser "Heimkino"-Szene als "snuff" bedeutsamer ist, dass ja die Übertragung keinerlei operativen Vorteil erbrachte. Niemand hat erwartet. dass die Aktion deshalb "besser" ablaufen würden, weil vielleicht einer der Zuschauer im Weissen Haus in kritischer Situation ein "Achtung Soldat - hinter dir ein Al-Qaida-Kämpfer!" gerufen hätte. Im Gegenteil - ohne Helmkameras und ohne Übertragungstechnik im Gepäck hätten sich die US-Soldaten vielleicht sogar eine Winzigkeit unbehinderter in jenem Gebäude bewegen können.

Wenn die Übertragung also keinen operativen Vorteil erbringen konnte - weshalb erfolgte sie dann? Sollte sie die Ungeduld der Anwesenden bezüglich Kenntnis der "erfolgreichen" Ausführung durch Echtzeit-Übertragung stillen? Oder gar einem obskuren "Unterhaltungs"-Bedürfnis dienen? Dass im Anschluss an die Übertragung ein informeller Umtrunk stattfand, könnte diesen Eindruck verstärken.

Zurück zu Hillary Clintons Geste - was kann (oder soll) sie uns bedeuten?

Offensichtlich reagiert Frau Clinton so, wie wir (Europäer und Nordamerikaner) das wohl von den meisten Frauen erwarten würden. Und das angespannte Interesse der männlichen Zuschauer im War Room erstaunt uns ebensowenig - in unserer Kultur ist es immer noch recht selbstverständlich, dass Männer ihre Gefühle eben nicht nach aussen tragen.

Offenbar hat sich Frau Clinton auch als Aussenministerin ihre "typisch weiblichen" Instinkte oder Reflexe bewahrt. Aber sie hat auch - zumindest soweit es bislang öffentlich wurde - niemals die Aktion kritisiert oder einen anderen Handlungsweg (z.B. Verhaftung bin Ladens) - propagiert. Es gibt sogar ein anderes Video von ihr, in welchem sie auf die Situation in Lybien nach Sturz und Tod Ghaddafis angesprochen wird und sie daraufhin Caesars berühmten Ausspruch abwandelt: "We came, we saw, he died!" Und sie schliesslich über ihr eigenes Bonmot in heftiges Lachen verfällt …

Wenn also in den westlichen Medien über die politische Linie einer möglichen US-Präsidentin Clinton spekuliert wird, so könnte man aus dem War-Room-Foto zwei widersprüchliche Schlussfolgerungen ziehen:

Eine Präsidentin Clinton könnte zu ihren "typisch weiblichen" Instinkten oder Reflexen stehen und eine "weiblichere" oder "weichere" Politik verfolgen. Dann müsste man allerdings annehman, dass sie genau das nicht tut, was wir üblicherweise von unseren Politikern erwarten: eben nicht instinktiv, sondern nur nach reichlicher Überlegung, Abwägung aller Pros und Contras und unter Zuhilfenahme kompetenter Berater/Innen zu handeln. Oder aber sie handelt nach Überlegungen und Überzeugungen, die bewaffnete US-Interventionen aller Art als selbstverständlich und sinnvoll erachtet. Und die bisherigen Aktionen und Äusserungen als Aussenministerin und Senatorin weisen genau darauf hin. Und das Desaster in Lybien, für das sie als damalige Aussenministerin wesentlich mitverantwortlich ist, erscheint als kein gutes Omen.




Es gibt zwei "westliche" Staaten, die mehr oder minder offen für sich das Recht in Anspruch nehmen, "feindliche" Personen durch gezielte Tötungen "auszuschalten". Das sind zum einen die USA, die dabei neben "Special Operations Teams" wie in Abottabad auch ferngesteuerte Drohnen benutzen.

Zum anderen Israel. So ist mittlerweile bekannt, dass die damalige Ministerpräsidentin Golda Meir den israelischen Geheimdienst MOSSAD ganz offiziell mit der Tötung der palästinensischen Terroristen beauftragte, die (nach Kenntnis Israels) das Massaker an israelischen Sportlern im Münchener Olympiadorf und in Fürstenfeldbruck 1972 zu verantworten hatten. In der Folge zogen MOSSAD-Agenten durch den Nahen Osten und Europa und töteten alle "Zielpersonen", derer sie habhaft werden konnten - wobei gelegentlich auch "Kollateralschäden" durch Bombenexplosionen oder Tötung Unschuldiger (Lillehammer 1973) in Kauf genommen wurden.

Wer noch die traurigen Bilder vom Olympiadorf 1972 (und vom Ende des Entführungsversuchs in Fürstenfeldbruck) in Erinnerung hat, kann verstehen, dass sich die israelische Regierung damals in einer Art Staatsnotstand gefühlt hat. Und man kann auch wenig Sympathie für die damaligen palästinensischen Attentäter aufbringen. Insofern kann man für die damalige Entscheidung Golda Meirs durchaus Verständnis aufbringen. War sie aber auch klug im Sinne einer langfristigen Sicherung Israels unter seinen arabischen Nachbarn?

Mehr als 40 Jahre später, nach mehreren Intifadas, unzähligen Attentaten, von Israel betriebenen "small wars" in Libanon und im Gaza-Streifen erscheint das mehr als zweifelhaft. Gewiss ist die militärische Bedrohung durch Invasion arabischer Armeen (wie zuletzt 1973 im Yom-Kippur-Krieg versucht) durch die hochgerüstete israelische Armee gebannt. Aber gleichzeitig ist die israelische Gesellschaft auch durch und durch militarisiert, und das Land durchschneiden zahlreiche Armee-gesicherte Mauern, gegen die die berühmte Berliner Mauer harmlos erscheint. Und die palästinensische Bevölkerung in Israel wird als Bürger zweiter Klasse behandelt - und in den besetzten Gebieten de-facto unter Kriegsrecht gestellt.

Gehen wir noch weiter zurück in die Geschichte - in das Europa des Jahres 1945. Grossbritannien hatte den Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime und seine Grossmachtpläne gebündelt, hatte zunächst die USA und später (vermutlich mit etwas Widerwillen) die Sowjetunion zu Verbündeten gemacht. Mit den Invasionen in Italien, der Normandie und der Wende an der Ostfront hatten die Allierten die militärische Lage endgültig zuungunsten des "Dritten Reiches" entscheiden können. Im Frühjahr 1945 rückten ihre Armeen an allen Fronten vor, und die vollständige Besetzung Deutschlands war nur noch eine Frage der Zeit. Und damit war klar, dass man auch bald die meisten grösseren und kleineren NS-Führer würde festsetzen können.

Hätte es zu dieser Zeit einen mehr oder minder pauschalen Erschiessungsbefehl für alle NS-Führer und SS-Generäle gegeben, so wäre "die Weltöffentlichkeit" wohl kaum entsetzt gewesen - zu präsent waren die Leiden durch den von Nazi-Deutschland verursachten Krieg und die vielfältigen Verbrechen der NS-Kamarilla gewesen. In Sowjetrussland, das ja die Kriegs-Mobilisierung auch durch konsequente Propaganda gegen "die Deutschen" erreicht hatte, wäre eine solche Lösung wohl auch durchaus "populär" gewesen.

Trotzdem ging man genau so nicht vor - sondern man sammelte alle NS-Grössen ein und überführte sie schliesslich nach Nürnberg, wo sie sich vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal verantworten sollten. Leider hatten sich die grössten Verbrecher durch Selbstmord aller irdischen Gerechtigkeit entzogen - Hitler, Goebbels und Himmler konnten nicht mehr angeklagt werden. Aber die verbliebenen NS-Grössen (Göring, Hess, Schirach, Speer, Keitel, Schacht etc.) waren ja durchaus repräsentativ für das Regime, und ihre kläglichen Widerreden demaskierend. Natürlich hatte das Tribunal seine Schwächen - es war (auch) typisches Siegerrecht, Teile der Anklage fussten auf "ex-post"-Recht - aber insgesamt war das Tribunal genau jenes Instrument der Aufklärung, das zu dieser Zeit gebraucht wurde. Wenn in den beiden deutschen Nachfolgestaaten so gut wie niemand auch nur den Versuch wagte, sich auf Positionen der NSDAP zu berufen oder die Wiedererrichtung "Grossdeutschlands" zu propagieren, wenn sich auch heute noch jeder lächerlich macht, der Symbole oder Personen des "Dritten Reichs" idolisiert - dann ist das eben auch das Verdienst der Nürnberger Prozesse. Und die Worte "Ausschwitz" und "Treblinka" sind auch durch Nürnberg zu den Symbolen unmenschlichen Tötungswahns geworden, als die sie heute gelten.



Mit den Lehren aus den Nürnberger Tribunalen im Kopf stellt sich die Frage, ob Golda Meir 1972 nicht doch andere Befehle an ihren Geheimdienst hätte ausgeben sollen. Hätte man nicht versuchen sollen, möglichst viele der Münchener Attentäter und Ihrer Auftraggeber festzunehmen und in Israel vor Gericht zu stellen? Im Falle Adolf Eichmanns (1960/61) war genau das möglich gewesen - wieso sollte es 10 Jahre später nicht mehr möglich sein? Auch der Eichmann-Prozess war ja höchst aufklärend gewesen, nicht nur durch die Demaskierung der "Banalität des Bösen" (Hannah Arendt).

Hätte so ein "München"-Prozess nicht ebenso aufklärend sein und die mörderischen Methoden der radikalen Palästinenser-Gruppen aufdecken können? Wäre so nicht der Anerkennung des israelischen Existenzrechts besser gedient gewesen?



Und ebenso hätten die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ihre nicht unerheblichen militarischen und geheimdienstlichen Mittel einsetzen können, um die Attentatsplaner und ihre Hintermänner festzusetzen und vor ein US- oder gar internationales Gericht zu stellen. Und - um wieder zu unserem Foto zurückzukommen - auch Präsident Obama hätte 2011 durchaus andere Direktiven an seine "Special Forces" geben können, z.B. Festnahme. Ein Prozess gegen Osama bin Laden hätte doch durch Bloßstellung der menschenverachtenden Ideologie Al-Qaidas allen dschihadistischen Bewegungen den "Wind aus den Segeln" nehmen können.

Aber es ist eben nicht so vorgegangen worden.

Das Resultat? Wurde die Gesamtzahl aller Al-Qaida-Kämpfer 2001 auf ein paar Hundert geschätzt, so haben wir heute - wenn man IS, Al-Nusra und Al-Qaida zusammenrechnet - Tausende oder Zehntausende Dschihadisten, die nicht nur über moderne Waffen verfügen, sondern auch grosse Gebiete in Irak, Syrien und Lybien beherrschen. Irgendwie haben die Politiken "des Westens" offensichtlich nicht den propagierten Erfolg gehabt, sondern im Gegenteil (zumindest bislang) diesen Gruppen beständig neue Anhänger zugeführt.

In den deutschen Mainstream-Medien wird auf breiter Front für die Präsidentschaftskandidatin Clinton geworben. Das fällt insofern nicht schwer, als die Alternative der republikanischen Partei Donald Trump heisst - und dieser Mann leidet offensichtlich unter einem total aufgeblasenen Ego und zwanghafter Anwendung von sexistischer und rassistischer Sprache. In den meisten Staaten (West-)Europas wäre dieser Mann schlicht unwählbar - umso rätselhafter, wie so ein Mann in den USA als plausible Alternative für das höchste Staatsamt gelten kann.

Zahlreiche, insbesondere weibliche, Kommentatoren sind auch euphorisch im Hinblick auf die Tatsache, dass mit Clinton die "erste Frau als Präsidentin" *2 an die Macht kommen würde. Damit einher geht der feste Glaube, dass das Frau-sein an sich schon eine bessere Politik-Qualität mit sich bringen würde. Nur leider gibt es dafür weder im allgemeinen (Frauen in Machtpositionen) noch im speziellen Fall (Hillary Rodham Clinton) wirkliche Belege.

Frauen an der Spitze von Konzernen können genauso unerbittlich Entlassungsprogramme ("Umstrukturierungen") oder agressive Markteroberungen durchsetzen wie Ihre männlichen Kollegen. Und die beiden politisch mächtigsten Frauen Deutschlands - Angela Merkel als Kanzlerin und Ursula von der Leyen als Arbeits- und Sozialministerin - haben beispielsweise mit der kontinuierlichen Verschärfung der Hartz-4-Regeln keinerlei Probleme gehabt. Wobei Frau von der Leyen z.B. das Elend von Hartz-4-betroffenen Kindern auch mit zuckersüsser Rhetorik ("für jedes Kind eine warme Mahlzeit...") schönreden konnte. Und heute palawert dieselbe Frau als Verteidigungsministerin von der glorreichen Rückeroberung Mossuls durch von der Bundeswehr geschulte Soldaten *3.

Jedenfalls erscheint mir der Glaube an bessere Politik allein durch Frauen in Machtpositionen als mindestens naiv. Ebenso wie gesellschaftlichen Fortschritt durch Frauenquoten in Führungspositionen zu erhoffen (wieso eigentlich nicht eine Frauenquote in allen Berufen - das erschiene mir ehrlicher und vermutlich zielführender). Aber vermutlich ist der Gedanke an Meritokratie in den zusehends korrupter werdenden "westlichen Demokratien" ohnehin hinfällig.



(November 2016)


*1 Das Foto ist Teil einer Bildserie, die u.a. hier veröffentlicht wurde:

http://www.ndtv.com/photos/news/obama-and-team-watch-bin-laden-operation-unfold-10371#photo-127800

*2 Auch Barack Obama war ja mit viel Vorschusslorbeeren bedacht worden, weil er der erste "schwarze Präsident" wurde. Aber in Bezug auf die "civil rights" ist seine Bilanz ja mehr als dürftig, und u.a. die "Black-Lives-Matter"-Bewegung zeigt, dass es in den USA zu wirklicher Gleichberechtigung noch ein weiter Weg ist.

*3 In diesem auf Englisch geführten Interview (am 01.11.2016 auf France24) bemerkt man wohlwollend, dass Frau von der Leyen eines besseren Englisch mächtig ist als etwa ihr Kabinettskollege Schäuble. Aber die Optik! Das babyrosa Jäckchen, in welchem sie auftrat, war jedenfalls ein deutlicher Kontrast zum Inhalt ihrer Rede …