Frankreich und Europa marschieren - wohin?

Zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich




1. Die "Bewegung", die der französische Präsidentschaftskandidat Emanuele Macron "gegründet" hat, nennt sich schlicht "En marche!", was in den deutschen Medien wahlweise mit "in Bewegung" oder "vorwärts" übersetzt wird. Man könnte es aber auch in seinem militärischen Sinne als "losmarschieren" begreifen. Wie auch immer, wenn man den aktuellen Hochrechnungen (23.04.2017, 21:15h) glauben darf, hat Macron damit die erste Runde der französischen Präsidentschaftwahl "gewonnen" und tritt vermutlich gegen Marine Le Pen in der Stichwahl an.

Auch anderswo wird wieder marschiert, diesmal sogar "global", denn der "March for Science" hat am selben Wochenende in vielen westlichen Großstädten Tausende oder Hunderttausende auf die Strasse geführt, und zwar um "für die Wissenschaft" und "gegen fake news und Populisten" anzutreten.

Auf seinen Wahlversammlungen hat sich Macron immer wieder "zu Europa bekannt", hat geradezu frenetisch "mehr Europa" gefordert. Auch beim "March of Science" (wieso eigentlich nicht Marsch für die Wissenschaft?) ist Bekenntniswille angesagt, es geht um ein Bekenntnis "zur Wissenschaft" und zu "tatsachenbasierter Politik" und "gegen 'alternative' Fakten".

Auch bei den "Pulse of Europe"-Versammlungen geht es um "Zeichen setzen für die Zukunft Europas" und um ein "Bekenntnis zu Europa".

Da ist also allenthalben Bekennermut angesagt, und ich gestehe, dass mir dabei sofort unbehaglich wird. Nicht nur, weil ich generell eine Verantwortungsethik einer Bekenntnisethik vorziehe. Das kann ungemütlicherweise bedeuten, dass man gelegentlich einer Seite die Unterstützung entziehen und der anderen Seite zusprechen muss. Praktisches Beispiel: Wenn ein Erwachsener einen Jugendlichen schlägt, bin ich spontan auf der Seite des Jugendlichen. Wenn aber der Jugendliche ein Messer zieht und auf den Erwachsenen einzustechen beginnt, muss ich die Seite wechseln und, soweit es möglich ist, den Erwachsenen zu verteidigen versuchen.

Und wenn ich beim "March of Science" versuche, darauf die übliche wissenschaftliche Methodik anzuwenden, so ist es doch etwas rätselhaft, dass dort so naiv von "tatsachenbasierter Politik" geredet wird und die "fake news" so schlicht den "Populisten" zugeordnet werden.

Schliesslich könnte man die von fast der gesamten wissenschaftlichen "Community" über Jahrzehnte vorgetragene Behauptung "Kernenergie ist sicher" nach heutigem Kenntnisstand auch als "fake" oder schlichter als "Lüge" bezeichnen.

Gerade heute, wo die Industrie über den Hebel "Drittmittel" immer mehr Einfluss auf Forschung und Lehre gewinnt, wäre es doch angesagt, das Spannungsfeld zwischen den ökonomischen Bedingungen der Forscherinnen und Forscher und der wissenschaftlichen Redlichkeit zu thematisieren.



2. "Wenn aber jeder Schritt nur Vorbereitung zum immer wieder nächsten sein sollte, gab es keine Veranlassung, irgendwo haltzumachen und Erreichtes - oder gar nur Vorgefundenes - dauerhaft als Staat zu befestigen. Im Gegenteil, das Feste musste beweglich gemacht und ins Rollen gebracht, alles musste auf Vorläufigkeit gestellt werden und aus dieser Vorläufigkeit heraus ganz automatisch auf ständige Veränderung, Vergrösserung, Erweiterung drängen." *1



Als Sebastian Haffner diese Sätze 1978 schrieb, wollte er die merkwürdige Tatsache erklären, warum Adolf Hitler (kaum, dass er Kanzler des Deutschen Reiches geworden war) mit unbändiger Energie daran ging, die bisherigen staatlichen Strukturen aufzubrechen und durch vielerlei Organisationen oder "Staaten im Staate" und am Ende durch ein "gebändigtes Chaos" zu ersetzen.

Aber eigentlich passen diese Sätze auch gut zu jener Periode in der Geschichte Deutschlands und Europas, die vielleicht einmal als "Blüte des Neo-Liberalismus" in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Seit den 1990er Jahren wurde ja allenthalben beweglich gemacht, was vorher aus guten Grund fest eingerichtet schien. Staatlicher Wohnungsbau? Weg damit, der Markt wird es viel besser können. Staats-Eisenbahnen? Weg damit, wir wollen endlich Konkurrenz auf der Schiene (schade, dass sich das Transportmittel Schiene aus technisch-organisatorischen Gründen so wenig dazu eignet). Staatliche Daseinsfürsorge bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter? Weg damit, die privaten Versicherungen brauchen dringend neue Geschäftsfelder. Gewerkschaften und Kündigungsschutz? Weg damit, dadurch werden die Arbeitnehmer nur zu unflexibel ("flexibel" ist dann auch das Lieblingswort bei allen Themen rund um das Arbeitsverhältnis). Und ganz aktuell: Autobahnen in Staatsbesitz? Nun, der Besitz kann bleiben - aber das Verfügungs- und Bewirtschaftungsrecht muss ganz schnell privaten Firmen zugeschanzt werden.

Und wie auf der nationalen Ebene wurde auch die EU immer hektischer verändert, vergrössert und erweitert. Und das Tor, dass man den grossen Konzernen im nationalen Rahmen eher verschämt öffnete, war in Brüssel ganz weit offen. Brüssel als Lobbyistenparadies zu bezeichnen ist wahrscheinlich noch untertrieben. Die bisher höchste Ausformung dieser Lobbytätigkeit ist das Bemühen um die grossen Freihandelsabkommen namens CETA, TTIP und TISA.


Aber wozu eigentlich dieser Flexibilisierungs- und Privatisierungsrausch?


Sebastian Haffner folgert an der obengenannten Stelle:


"Das Deutsche Reich musste aufhören, Staat zu sein, um ganz Eroberungsinstrument werden zu können."



Und heute? Es geht offensichtlich nicht mehr um militärische Eroberung *2. Lassen wir unsere Kanzlerin sprechen - mehrfach hat sie - 'mal in Bezug auf Deutschland, 'mal in Bezug auf "Europa" - geäussert:

"Wir müssen die wettbewerbsfähigste Region der Welt werden".

Es geht also um nicht mehr um militärische, sondern um ökonomische Eroberung. Und dafür muss eben an der "Heimatfront" einiges geopfert werden, z.B. auch die Würde arbeitslos gewordener Menschen (Stichwort Hartz-4-Sanktionsregime). Wenn es sich bei der ökonomischen Eroberung nur um ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger Marktanteil handeln würde, könnte man damit vielleicht leben - aber an vielen Orten geht es längst um viel mehr: In Afrika walzt die europäische Wirtschaftsmaschine nicht wenige Landwirtschaften und lokale Kleinindustrien in Grund und Boden, und auch in Europa selbst gelingt es vielen Menschen nicht mehr, in ihren Heimatländern Arbeit zu finden und wandern in die "Nordländer" aus - Resultat der vornehmlich deutschen Exportfixierung und Lohndumpingpolitik.



3. Auch das "europäische Haus" in seiner Inkarnation als "Europäische Union" ist in den letzten Jahrzehnten vornehmlich damit beschäftigt gewesen, alles Feste beweglich zu machen, auf Vorläufigkeit und ständige Erweiterung zu drängen. Die Vielzahl an Organisationen (siehe dazu auch die Grafik im Text "Den Puls Europas fühlen...") möchte man zwar noch nicht unbedingt ein "gebändigtes Chaos" nennen, aber für den einfachen EU-Bürger wird immer schwerer durchschaubar, welches Gesetz oder welche Verordnung nun auf welcher Ebene angestossen und von welchem Organ beschlossen wurde. Dass die EU-Institutionen beständig bestrebt sind, ihre Macht auszudehnen, kann man für ein Naturgesetz der Dynamik solcher Organisationen halten - aber bevor man diesem Drängen nachgibt und die Entmachtung der Nationalparlamente bejubelt, sollte man schon nach Zielrichtung und Leistung dieser neuen Entitäten fragen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich muss auch die gesellschaftliche Organisationseinheit "Staat" manchmal neuen Gegebenheiten angepasst werden, und manchmal (selten) muss dazu auch die Verfassung geändert werden. Aber in einer Demokratie sollten diese Änderungen eben den Volkswillen bestmöglich repräsentieren.

Im Extremfall kann es notwendig sein, einen Staat komplett aufzulösen (man könnte an die DDR 1989 oder an Österreich-Ungarn von 1918 denken). In so einem Falle wird man das bisherige Staatssytem nach brauchbaren, weiter nutzbaren Teilen untersuchen (wie man bei einer defekten Maschine brauchbares "ausbeint") und in das neue System zu integrieren suchen. Was man aber keinesfalls machen sollte: Einen funktionierenden Staat "de-konstruieren", wenn als Ersatz nur ein Gebilde mit grossen Fehlstellen bereitsteht. Und die EU ist, nicht nur was das Sozialwesen anbelangt, eigentlich eine einzige grosse Fehlstelle *3.

Kommen wir noch einmal zurück auf Herrn Macron und seine marschierende Bewegung. Auch diese will gar nicht mehr Partei sein, sondern ausgesprochen "zentristisch" und natürlich pro-europäisch oder genauer pro-EU. Auf ein spezifisches Programm wollte man sich zuerst garnicht festlegen und hat es dann zum Schluss bewusst wolkig angelegt. Möglicherweise ist Macron mitsamt seiner Bewegung ebenso eine "Erfindung" wie sein deutsches Gegenstück namens Martin Schulz. Dazu passen die ebenso fast über Nacht aus allen Mainstrem-Medien tönenden Lobeshymnen auf den vorgeblichen "Anti-Establishment"-Kandidaten, seine Weltoffenheit und seine jugendliche Tatkraft, mit der er nun Frankreich "von Grund auf modernisieren" wolle.

Erstaunlich auch, mit welchen Mitteln diese "ganz neue" Bewegung da plötzlich riesige Säle mieten und die französischen Innenstädte mit Plakaten zukleistern konnte (der alte Ratschlag "follow the money" sollte auch hier beherzigt werden).

Während freilich Herr Schulz nur den Juniorpartner für die ewige Kanzlerin M. abgeben soll, ist Herr Macron wohl tatsächlich für die Präsidentschaft auserkoren - allerdings eine Präsidentschaft von Gnaden der deutschen Regierung. Folgerichtig kamen denn die wärmsten Glückwünsche für die gewonnene erste Runde von Pressesprecher Seibert und ex-SPD-Chef Gabriel.

Ach, armes Frankreich - wer "Freunde" wie Merkel, Schäuble und Gabriel hat, muss sich um Feinde keine Gedanken mehr machen ...

Und wenn ein Präsident Macron dann einen noch treueren Pudel der Kanzlerin abgibt als Monsieur Hollande, dann sollten wir uns erinnern, dass in dieser ersten Runde rund 60% der Franzosen für Kandidaten gestimmt hatten, die eben diesen Kotau vor Berlin nicht machen wollten (Melenchon, Le Pen und zumindest teilweise auch Fillon).



4. Ein zentrales Thema beim Front National ist die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Der FN möchte Immigration aus aussereuropäischen Ländern nach Frankreich ganz stoppen oder mit einer strikten Obergrenze versehen. An diesem Punkt scheinen die "Europafreunde" um Macron ganz klar die menschenfreundlichere Politik zu verfolgen *4.

Versuchen wir zu erkennen, was eine solche Politik des FN, wenn sie denn durchgesetzt würde, ganz konkret bedeuten würde.

Zunächst einmal sind ja jene Menschen, die sich da in den nordafrikanischen Hafenstädten und Küstenregionen für die Reise über das Mittelmeer vorbereiten, nicht vom Himmel gefallen, noch haben sie einem instinktiven Herdentrieb nachgegeben.

Sondern sie haben sich an ihren jeweiligen Herkunfsorten Gedanken darüber gemacht, wie es jetzt weitergehen soll, ob sie vor Ort noch auf eine Besserung ihrer (wirtschaftlich, politisch, menschenrechtlich...) schlechten Lage hoffen sollen oder aber die Kosten und Risiken einer Reise nach Europa auf sich nehmen. Und wahrscheinlich wird auch sehr viel öfter, als wir es denken, dabei auch ein konkreter, angestrebter Zielort oder -Region eine Rolle spielen - insbesondere wenn evt. schon Verwandte oder Bekannte dort sind. Wer hoffen kann, dass z.B. ein Onkel Idrissa in Paris oder eine Tante Winnie in Toulon bei der Jobsuche helfen kann oder wenigstens eine erste Bleibe bieten könnte, wird sich Paris oder Toulon zum Ziel nehmen. In Nordafríka, dass ja zahlreiche frankophone Gebiete hat, wird nicht selten eine Stadt oder Region in Frankreich das Wunschziel sein. Nehmen wir für unser Gedankenexperiment an, dass vielleicht 100 von 1000 Flüchtlingen sich mit dem Ziel Frankreich auf die Reise machen.

Wenn nun Frankreich unter einer Präsidentin Le Pen tatsächlich gänzlich oder zeitweise "die Tore schliessen" würde - wie würden wohl die "Zielpersonen" in Nordafrika reagieren? Sicher würden von unserer Beispielgruppe von 100 einige einfach "umdisponieren" und ein anderes Land zum Ziel machen (oder ihre Wünsche auf ein "Hauptsache irgendwo in Europa" reduzieren). Aber ein Teil würde sich eben nicht auf den Weg machen, sondern noch vor Ort "ausharren" - vielleicht 50 Menschen?

Kürzlich war in den Nachrichten zu vernehmen, dass die Zahl der in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge bereits auf über 1'000 geschätzt wird. Wenn sich aber nur 950 auf die Reise an Bord der gefährlichen Boote gemacht hätten - müsste man dann nicht sagen, dass Präsidentin Le Pen 50 Menschen das Leben gerettet hätte?

Und wäre nicht umgekehrt eine Politik, die den Afrikanern vor Ort keine Perspektive bieten kann oder will, aber andererseits auf allen Kanälen ein "refugees welcome" herausposaunt *5 und den Menschen damit allen Anreiz bietet, sich notfalls auf die gefährlichsten Routen zu wagen, nicht zu einem wesentlichen Teil für die vielen Toten mitverantwortlich?

Übrigens ist das offizielle Ziel aller EU-Verhandlungen mit nordafrikanischen Staaten eigentlich genau dassselbe, was ein angekündigter Immigrationsstop a la FN mehr oder minder automatisch erreichen würde: Dass die Menschen eben vor Ort ausharren und sich nicht auf die Reise nach Norden machen.

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Aber daran wollen diejenigen, die sich da bei En Marche oder Pulse of Europe oder auch dem Science March einreihen, vermutlich lieber nicht denken.



5. Als Gruppenwesen ist der Mensch nicht so sehr zu permanenten Abwägungen bereit, sondern möchte - nach ein paar "Schlüsselmomenten" oder "Schlüsselreizen" - seine Mitmenschen lieber einfach in GUTE und BÖSE einteilen.

So ist es für viele Bundesbürger selbstverständlich, dass Kanzlerin Merkel die besten Werte des "modernen Deutschlands" repräsentiert - nicht nur arbeitsam und pragmatisch, sondern auch weltoffen, tolerant, "europäisch" etc.pp. Und so stand sie nicht nur für viele "Selfies" *6 mit Flüchtlingen bereit und hat immer wieder "das Asylrecht kennt keine Obergrenze" gerufen, sondern auch das weinende Flüchtlingskind tröstend getätschelt. Sie muss doch einfach eine GUTE sein.

Ähnlich scheint es doch bei Herrn Macron zu sein. Sein Kampf "gegen die Ängste der Alten" *7 und sein entschiedenes Eintreten "für Europa", für Freihandel und für "Offenheit" kann doch nur GUT sein.

Und muss Frau Le Pen nicht einfach BÖSE sein - wo sie doch "gegen Europa", gegen Immigration, gegen eine "Liberalisierung des Arbeitsrechts" ist und so altmodische Werte wie die "Nation" betont. Das kann ja nur BÖSE sein.

Eigentlich eine simple Sache, diese Art von Bekenntnisethik:

Bekenne dich zu etwas Gutem, und du bist ein Guter.

Im Deutschen gibt es das schöne Sprichwort "gut gemeint ist nicht unbedingt gut gemacht" - und das weist eben schon auf das schwierige Verhältnis zwischen "gut sein" und "Gutes tun" hin.

Wenn etwa Winston Churchill im Krieg gegen Deutschland (fast) alle zur Disposition stehenden Waffen einschliesslich Phosphor-Brandbomben einsetzte, so war das natürlich grausame Kriegführung - aber eben auch im Kampf gegen das skrupellose Hitler-Regime vermutlich unvermeidlich. Und die Alternative - eine kampflose Überlassung Europas an das menschenverachtende NS-Regime - wollen wir uns lieber nicht vorstellen.

Das heisst natürlich nicht, dass alle Aktionen Grossbritanniens und der Allierten im 2. Weltkrieg deshalb "sakrosankt" sind - so wird etwa die Bombardierung Dresdens in den letzten Kriegswochen gerade in England sehr kritisch gesehen (und wurde vielleicht schon von Churchill selbst bereut).

Bei den meisten geschichtlichen Persönlichkeiten, die heute aus verschiedenen Gründen als "gross" eingeordnet werden, finden wir dieses Spannungsverhältnis zwischen "grossen und guten" Taten und zweifelhaften Methoden bei der Durchsetzung (und nebenbei auch oft allerlei moralische Verfehlungen im Privatleben).

Gut sein und Gutes erreichen sind eben zwei verschiedene Dinge. Heutzutage besonders wichtig ist, das man "gut sein" mit der Unterstützung talentierter PR-Leute eben auch nur vorspielen kann.



6. Bei der Mainstream-Darstellung des französischen Präsidentschaftswahlkampfs in den deutschen Medien (und vermutlich auch in den meisten französischen) fällt auf, dass das FN-Programm immer nur in Negativ-Formulierungen dargestellt wird:

So könnte man statt "gegen Europa" auch "für nationale gesetzgeberische Souveränität" formulieren, statt "gegen Liberalisierung des Arbeitsrechts" auch "für Stärkung der Arbeitnehmerrechte" und statt "Nationalismus" auch "für Patriotismus".

Und eine Orientierung auf eine Politik "für Frankreich" hat man früheren Präsidentschaftkandidaten, von de Gaulle über Pompidou und Mitterand bis Chirac, aus gutem Grund nie übelgenommen - schliesslich geht es um das Amt des Präsidenten der Republique francaise und nicht um das des Präsidenten der EU-Kommission.

Übrigens enthält auch der Amtseid, den unsere Bundeskanzlerin schon mehrfach geschworen hat, keinerlei Verpflichtung zu "Europa" oder der EU oder der "europäischen Idee", sondern verlangt vom Gewählten "meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes [zu] widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm [zu] wenden …". Ist das nicht - im Sinne unserer Hofberichterstatter - schon "Nationalismus pur" ?



Leider sind meine Französischkenntnisse nur rudimentär, so dass ich im offiziellen 144-Punkte-Programm der Kandidatin le-projet-de-marine-le-pen nur Teile sicher übersetzen kann (eine deutsche Übersetzung habe ich überraschenderweise im Netz bislang nicht finden können). Aber wenn da z.B. an prominenter Stelle (Punkt 9) die Stärkung der Rechte der Frauen mitsamt Durchsetzung gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit gefordert wird, verbietet es sich eigentlich schon, das ganze simpel als "rechtsextrem" einzuordnen.




Professor Heiner Flassbeck beobachtet das wirtschaftliche und politische Geschehen in unserem Nachbarland schon seit geraumer Zeit sehr intensiv (zugegebenermassen auch aus Eigennutz, da er zeitweise in Frankreich lebt).

Auf makroskop.eu hat er sich dazu in einer Reihe von Artikeln meiner Meinung nach sehr sachverständig geäussert, zuletzt in "Das mittlere Mass der Unvernunft" , und auch sein Kollege Sebastian Müller hat mit "Macron - der Postdemokrat" (leider nur im Abo lesbar) viel Interessantes zusammengetragen.

Das Credo ist leider sehr deprimierend: Flassbeck sieht mit der ja leider sehr wahrscheinlichen Wahl Macrons "Frankreich weitere fünf Jahre gefangen in einer Ideologie, die am Ende nur scheitern kann" - nämlich schmerzliche Austeritätspolitik verknüpft mit einer ideenlosen und (vom Standpunkt der Arbeitnehmer) aussichtslosen Nachahmung der deutschen Lohndumping- und Exportförderungs-Politik.

Aber vielleicht bescheren uns ja die französischen Wählerinnen und Wähler eine Überraschung und wählen am 7.Mai doch statt dem "extremen Zentristen" Macron eine gar nicht so extreme "populistische Patriotin" namens Le Pen.

Wäre das dann "Gallia finem", wie es die stock-konservative NZZ in Bezug auf das Wirtschaftsprogramm schon befürchtete?

Sicher, einer Präsidentin Le Pen würde angesichts der in ihren Machtpositionen verschanzten wirtschaftlichen, politischen und medialen "Eliten" *8 heftige Gegenwehr entgegenschlagen. Gut möglich, dass ihr Erfolg sich auf die Umsetzung weniger Programmpunkte beschränken würde.

Und wenn einer dieser Punkte der Ausstieg aus der Euro-Währung und/oder aus der EU selbst wäre, dann könnte das gut "finem EU" sein. Schon die Durchsetzung eines Referendums zu beiden Themen (bei der sie immerhin auf Unterstützung aus dem Melenchon-Lager rechnen könnte) wäre ein politisches Erdbeben. Und meiner Ansicht nach ein heilsames - denn ein "weiter-so" unter Macron wäre, da stimme ich Herrn Flassbeck zu, eine Katastrophe für Frankreich und letztlich für alle europäischen Staaten.

(April 2017)



Ein Nachtrag:

Vermutlich wird mancher obigen Text als schlimme "Weisswaschung" einer als rechtsextrem eingestuften Partei empfinden.

Aber - abgesehen davon, dass bei den Präsidentschaftswahlen Personen und nicht Parteien zur Wahl stehen - bin ich mir durchaus bewusst, dass es im Front national Leute gibt, deren Ansichten man keinesfalls teilen kann.

Marine Le Pens inzwischen aus der Partei ausgeschlossene Vater war sicher nicht der einzige Xenophobe und Rassist in dieser Partei, und gewiss wird es noch einige FN-Leute geben, die auf Stammtischen oder sonstwo wüste Reden gegen alle Afrikaner oder alle Moslems oder alle Schwulen etc. halten.

Nur - wenn es nach dem Kriterium "es darf keine alten Nazis in der Partei geben" gegangen wäre, so wäre beispielsweise die CDU bis in die 1970er Jahre hinein "unwählbar" gewesen. Und wenn auf der Begräbnisfeier für einen der letzten bekannten CDU-Nazis, den ex-Marinerichter Hans Filbinger, ausgerechnet der heutige EU-Kommissar Oettinger die lobendsten Worte für den Verblichenen fand - dann darf man sich schon fragen, wo denn die bedenklicheren Verbindungen zu nazistischem Gedankengut vorzufinden sind.

Meine Einschätzung ist, dass die heutige FN-Mitgliedschaft und Wählerschaft sehr viel näher an den Einstellungen und Überzeugungen etwa der CSU-Mitglieder und -Wähler ist, als man in Deutschland wahrhaben will (ganz abgesehen davon, dass man an CSU-Stammtischen wahrscheinlich ähnliche verbale Ausfälle gegen Afrikaner, Moslems und Schwule hören kann).

Übrigens hat auch die CSU in ihren Gründertagen sehr explizite soziale Vorstellungen vertreten (die "Reste" davon findet man in der bayrischen Verfassung und dem einsamen "S" im Parteinamen).

Wer also verbal den EU-Notstand ausrufen will, weil eine FN-Kandidatin in Frankreich in die Stichwahl gekommen ist, sollte auch schon einmal die Bundespolizei in Alarmbereitschaft versetzen, damit sie die bayrische Staatsregierung bei der nächsten bekanntwerdenden Klüngelei (Stichwort die diversen Affären von "FIBAG" bis "Amigos") festsetzen soll (Ironie aus).



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Auch ich hätte sehr viel lieber Jean-Luc Melenchon als Frau Le Pen in der Stichwahl gesehen. Ein Blick auf die Zahlen aus dem ersten Wahlgang zeigt, dass Melenchon heute in der Stichwahl stehen könnte, wenn Benoit Hamon seine absehbar chancenlose Kandidatur frühzeitig zurückgezogen hätte.

Aber die beständigsten Verhinderer sozialer Politik sind ja mittlerweile, man muss es so scharf sagen, die ehemals sozialdemokratischen Parteien. Wenn Hamon, kaum dass die ersten Prognosen über sein eigenes Wahlergebnis vorlagen, seinen Anhängern empfahl, nunmehr Macron zu wählen - so hat er damit nicht nur sein eigenes politisches Grab geschaufelt, sondern auch gleich noch das für seine Partei.



(Mai 2017)



Ein zweiter Nachtrag:

Die Stichwahlen sind vorbei, Emmanuel Macron ist zum Präsidenten gewählt. Durch die deutschen Mainstream-Medien ist ein vernehmlicher Seufzer der Erleichterung gegangen - ist doch nun der "Europa-Freund" Macron und nicht die "Europa-Gegnerin" Le Pen ins Amt gewählt worden.

Aber wahrscheinlich wird Mme. Le Pen auch mit ihrer Prophezeiung recht behalten, dass nach der Wahl auf jeden Fall eine Frau die Richtung im Elysee vorgeben werde: entweder sie selbst oder Frau Merkel.

Und wie zum Beweis, dass dem Präsidenten-Azubi kein Fussbreit Manövrierraum zugestanden werden wird, haben Schäuble & Co. schon alle diesbezüglichen Ideen (etwa mit den Eurobonds) verbal abgeschmettert.

Wenn Macron nicht durch irgendetwas zum vollständigen Umdenken seiner Positionen gezwungen wird, dann ist sein politisches Scheitern schon absehbar. Und Frau Le Pen braucht eigentlich nur 5 Jahre abzuwarten, denn die Zeit arbeitet für Sie - aber eben auch gegen das französische Volk.

Denn die "Cohabitation" mit dem bewundert-geliebt-gehassten Nachbarn Deutschland in EU und EURO gleicht immer mehr der Umarmung durch eine Boa Constrictor. Den französischen Eliten wird dadurch nicht die Luft ausgehen, vielen einfachen Bürgern schon.

Sehen wir es positiv: Wenn Macron in 5 Jahren aus dem Amt scheidet, auf dem Polster eines vermutlich sehr auskömmlichen Ruhestandsgehaltes, kann er mit 44 Jahren immer noch etwas ganz anderes anfangen - vielleicht "irgendwas mit Medien" (Sarkasmus aus).

In der Zwischenzeit können sich die Franzosen mit dem ersten Präsidenten "anfreunden", der nun ausgerechnet die Existenz einer französischen Kultur leugnet:

«Il n'y a pas de culture française. Il y a une culture en France. Elle est diverse»

(Francophile dürfen an dieser Stelle die Trikolore auf Halbmast setzen...)



(Mai 2017)



*1 Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Seite 48.

Der jetzige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat übrigens schon 1999 ganz ähnliche Worte für das Agieren der EU-Eliten gefunden: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

*2 Zumindest nicht mehr um militärische Eroberung in Zentraleuropa. Ansonsten ist die gegenwärtige Bundesregierung ja durchaus darum bemüht, deutsche Soldaten an möglichst vielen "Fronten" unterzubringen - Afghanistan, Türkei/Syrien, Mali, Horn von Afrika, aber auch im Baltikum …

*3 Nur als Beispiel: Weder eine europaweite Renten- oder Arbeitslosen-Versicherung ist jemals auch nur angedacht worden., dito bei Krankenversicherung etc. Einheitliche Gesetze zum Kündigungsschutz oder zur Leiharbeit fehlen ebenso. Noch nicht einmal gemeinsame Regeln zur Eindämmung von Steueroasen konnten geschaffen werden. Von aktiver, antizyklischer Beschäftigungspolitik ganz zu schweigen …

*4 Allerdings wird von Macron auch sehr deutlich vermieden, kundzutun, was man denn nun konkret in diesem Bereich tun will.

*5 Eine verantwortliche Politik unter dem Slogan "refugees welcome" müsste sich dann nicht nur zuallererst um sichere Transportmittel sorgen, sondern anschliessend ein koordiniertes Programm für Wohnungsbau und Schaffung von Arbeitsplätzen für die Neubürger in Aktion setzen. Stattdessen hat unsere Kanzlerin ein wolkiges "wir schaffen das" propagiert und ansonsten Länder, Städte und Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt.

*6 Müsste es in diesem Falle nicht eigentlich "Group-ies" heissen? :-)

*7 So betitelt die Freiburger "Zeitung zum Samstag" ihren fast schon euphorischen Artikel zu Macron und wiederholt das beliebte Muster, dass "gegen Europa" nur die verknöcherten Alten sein könnten. Allerdings - angesichts einer durchschnittlichen EU-weiten Jugend-Arbeitslosenquote von 20% hätten vielleicht gerade "die Jungen" allen Anlass zu Ängsten. Und konkret in Frankreich hatte auch Melenchon wesentlich mehr Zuspruch unter den jüngeren Wählern als Macron.

*8 Darunter nicht wenige "normaliens" (Absolventen der berühmten ecoles normales superieur), die in der französischen Nachkriegsgesellschaft leider immer mehr die Rolle einer Ersatz-Adelsschicht eingenommen haben.