Die Philanthropin, der Hilfsminister, die EU-Routiniers …

(Eindrücke vom Evangelischen Kirchentag in Berlin 2017)


Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug.
Niemals merkt er eben diesen Lug und Trug.

(Bertolt Brecht)



Der Evangelische Kirchentag, dieses Jahr in Berlin (und Wittenberg) veranstaltet, gleicht mit seinen vielen Hundert Veranstaltungen, die alle möglichen und durchaus nicht nur religösen Themenbereiche ansprechen, einer grossen Wundertüte, aus der man sich herauspicken kann (und soll), was einen anspricht oder bewegt. Natürlich ist für viele Besucher auch das Gemeinschaftserlebnis selbst ein zentrales Teilnahmemotiv. Und das ist ja auch nicht unberechtigt, denn eine friedlich-tolerante Grundstimmung "trägt" den Kirchentag, wie man sie auf anderen ähnlich grossen Veranstaltungen vermutlich kaum vorfinden wird. Diese Grundstimmung ist natürlich Segen und Fluch zugleich - Segen, weil sie nicht nur das ganz praktische Miteinander, gleich ob in einer überfüllten Messehalle oder am Wurststand, ungemein erleichtert - Fluch, weil sie natürlich von Politikern aller Grössenordnungen gerne als positive Hintergrundkulisse missbraucht wird.

Überhaupt ist ja die grosse Nähe zur Macht, die gerade die evangelische Kirche immer wieder gesucht (und gefunden) hat, sehr problematisch - exemplarisch etwa in der Ernennung von ausgerechnet Frank-Walter Steinmeier zum Präsidenten des nächsten Kirchentags in Dortmund.

Inwieweit gerade die evangelische Kirche da mehr "in Versuchung" ist als z.B. die katholische, wäre sicher untersuchenswert. Mann kann sich auch über die Beteiligung des Steuerzahlers an den Kirchentagskosten aufregen, wie es der Satiriker Oliver Welke in seiner "heute-Show" tut. Freilich - im Vergleich mit mit anderen öffentlich gesponsorten "Events" (seien es nun Fussball-WMs, Love-Parades oder Mega-Rockstar-Spektakel) - erscheint mir das als relativ sinnvolle Investition.

Aber zurück zu den Veranstaltungen aus dem "Wundertüten"-Korb DEKT 2017. Eine war betitelt "Der Not ein Ende machen", und auf dem Podium dieser Veranstaltung sassen neben dem Moderator (Prof. Schneidewind vom Wuppertal-Institut für Klima-Umwelt-Energie) ein Philosoph (Prof. MacAskill aus Oxford), Bundes-Entwicklungshilfeminister Dr. Gerd Müller, Dr. Seitz von "Brot für die Welt" sowie - sozusagen als "Top Act" - Melinda Gates von der "Bill and Melinda Gates Foundation", der finanzkräftigsten aller privaten Stiftungen im Bereich Entwicklungshilfe - mündlich vorgestellt als "Philanthropin".

Fangen wir mit dem Philosophen MacAskill an. In Vortrag und Diskussion propagiert er seine Vorstellung von einem "effizienten Altruismus". Das fängt mit der zunächst einmal nicht unsympathischen Überlegung an, dass man nicht auf irgendwelche Zuwächse der staatlichen Entwicklungshilfe hoffen solle, sondern - so wie es MacAskill selber tue - selber einen festen Prozentsatz seines Einkommens (z.B. 20%) für Entwicklungshilfe reservieren. Und bei der persönlichen Auswahl der Projekte solle man das Augenmerk auf Effizienz richten. Nicht ganz unerwartet landet er damit bei medizinischen Projekten - denn bevor man Effizienz beurteilt, muss man Messwerte haben, und beim Thema "Menschen retten" ist das natürlich am direktesten bei Medizinthemen zu ermitteln. (Wenn etwa durch die Gabe eines spezifischen Medikamentes die Sterblichkeit bei einer spezifischen Krankheit von 70% auf 15% fällt, so ist die Anzahl der "Geretteten" natürlich absolut eindeutig anzugeben und die "Effizienz" bewiesen.) Weiter empfiehlt er, durchaus einen Teil seines persönlichen Entwicklungshilfebudgets als Direktüberweisung an einen Bedürftigen in den "armen" Ländern zu gestalten. Demgegenüber sieht er Initiativen wie die verschiedenen "Fairtrade"-Organisationen als ineffektiv und nicht empfehlenswert an.



Nicht nur an diesem Punkt kommt erwartungsgemäss Widerspruch von Dr. Seitz von Brot für die Welt, der unter Beifall des Publikums darauf verweist, dass man gerade hier reichliche und positive Erfahrung mit "Fairtrade" habe.

Aber verbleiben wir noch etwas beim jungen Mr. MacAskill (Jahrgang 1987). Denn seine Thesen treffen ja bei jüngeren Menschen vermutlich auf viel Verständnis. Wenn sie selber in Schule und Studium ständig bewertet werden, wenn von Fernsehshows über Kinofilme, von Dienstleistern bis zu ganzen Volkswirtschaften alles ständig "be-votet" und "ge-rated" wird, wieso soll der Ansatz bei Entwicklungshilfe falsch sein? Und die persönliche Auswahl und die "instant-gratification", die das ganz persönliche Hilfsprojekt bieten, liegen ja voll im Trend einer immer mehr über Web-Portale kanalisierten "sofortigen" Bedürfnisbefriedigung.

Auch die Hilfsorganisationen haben sich ja schon darauf eingestellt - statt eines spröden "unterstützen Sie die Bauern in …" erhält man immer häufiger Aufforderungen wie "… mit nur 10 Euro pro Monat kann die kleine Malika endlich..." dies oder das tun. Damit will ich weder diese Art der Spendeneintreibung noch die Motive der auf diese Art zum Spenden angeregten Bürger generell herabwerten. Aber der Trend ist eben derselbe wie beim effizienten Herrn MacAskill.

Beim Thema "fairer Handel" bekam Dr. Seitz auch (für mich und viele andere überraschend) Beistand von Entwicklungshilfeminister Dr. Müller. Denn der Minister sieht es als Voraussetzung für echte Entwicklung an, dass "wir" (der industrialisierte Norden) endlich zu wirklich fairen Handelsbeziehungen mit den "Südländern" kommen. Für diesen und andere Sätze erhielt der Minister (m.E. zurecht) viel Beifall. Erstaunliche Sätze von einem Herrn, der ein CSU-Parteibuch trägt und Mitglied einer Bundesregierung ist, die noch nicht einmal willens scheint, auch nur mit den europäischen Nachbarstaaten fairen Handel zu betreiben - immer aus Angst, die heilige deutsche Exportindustrie zu verärgern. Trotzdem sollte man Herrn Müller im Auge behalten - er ist vielleicht noch für manche positive Überraschung gut.


Den m.E. stimmigen Vortrag von Dr. Seitz übergehe ich hier, um zum vermeintlichen "Top Act", der Publikumsmagnetin Melinda Gates, zu kommen. Ihr Vortrag und Ihre Beiträge waren nun ein Musterbeispiel dafür, was eine meine Englischlehrerinnen "diesen mitreissenden 'human touch'" nannte.

Denn "Bill and I" reisen viel, nehmen dabei auch "our kids" mit, sie bereden sich mit Leuten auf allen Erdteilen und natürlich auch mit Freund Warren [Buffett], sie sind persönlich betroffen von diesem und jenem etc. pp.

Und Mrs. Melinda hat auch schon höchstselbst in einer Lehmhütte auf dem nackten Erdboden geschlafen, mit Ihrer Tochter arme Frauen in Afrika besucht und vieles mehr. Etwas befremdlich klingt, dass es der Stiftung auch immer um "leverage" (ein typischer Börsenausdruck) ginge, also mit dem eingesetzten Geld "Hebelwirkung" zu erzielen, weswegen man auch nie allein in irgendetwas investiere, sondern immer Partner suche. Auch halte man keine eigene Organisation vor Ort in den Empfängerländern vor, sondern verlasse sich eben auf Partner. Interessanterweise erwähnt sie als eines der Felder, auf dem die Stiftung aktiv sei, "financial inclusion" (darauf wird noch zurückzukommen sein).

Auch Mrs. Gates erhält viel Beifall, und das ist angesichts der vorgetragenen hehren Ziele ja auch durchaus verständlich. Gut möglich, dass die "Bill and Melinda Gates Foundation" tatsächlich eine vorbildlich schlanke Organisation ist und dass Frau Gates tatsächlich aus tiefstem Herzen "Menschenfreundin" oder Philantropin ist.

Nur geht das an den grundsätzlichen Fragen, die man bei der Aktivität einer mehrmilliarden schweren privaten Stiftung auf dem "Entwicklungshilfe-Markt" stellen müsste, vollkommen vorbei. Da wäre zunächst einmal die ganz simple Frage, was denn nun Bill und Melinda und Warren plötzlich besonders befähigt, über den Hebel ihrer Stiftung das Schicksal so vieler Menschen in den Entwicklungsländern teilweise entscheidend zu verändern, nachdem zumindest die beiden Herren vorher ein Arbeitsleben lang vornehmlich damit beschäftigt haben, möglichst schnell möglichst reich zu werden. Dabei wäre die fehlende akademische Qualifikation sicher noch das geringste Thema.



Eine andere simple Frage wäre, was passiert, wenn die privaten Stifter der Gates Foundation das tun, was hunderttausende andere private Spender auch täglich tun: plötzlich und willkürlich ihre Unterstützung für Projekt/Organisation X entziehen und stattdessen Projekt/Organisation Y zukommen lassen. Was bei privaten Kleinspendern lästig, aber in der Regel nicht "lebensbedrohlich" für das jeweilige Projekt ist, kann bei einem plötzlichen Mittelentzug durch die Gates-Foundation das totale "Aus" bedeuten. Denn natürlich bedeutet "viel Geld" auch in diesem Umfeld "viel Macht" - wie ist diese Macht legitimiert? Weil der nette Bill vor vielen Jahren den richtigen "Riecher" hatte, sein Betriebssystem dem behäbig gewordenen Koloss IBM für dessen neues "Spielzeug" namens Personal Computer anzudienen?

Und dann müsste man zur konkreten Förderpolitik der Foundation kommen. Fast schon folgerichtig nach den Ausführungen von Prof. MacAskill ("Effizienz") ist man auch bei der Foundation an vielen medizinischen Projekten beteiligt - aber ist die dabei so häufige Kooperation mit Pharmariesen zu beiden Seiten des Atlantiks (Pfizer, GlaxoSmithKline, Merck) wirklich nur zufällig oder Teil von Deals "unter Freunden"? Und wenn im Lebensmittelbereich so häufig mit Monsanto (oder demnächst Bayer-Monsanto) kooperiert wird, so mag das unter dem Stichwort "Effizienz" ebenfalls folgerichtig sein - denn die berühmt-berüchtigte "Roundup-Ready"-Kombination von genetisch modifiziertem Saatgut und angepasstem Herbizid ist zumindest theoretisch "effektiver" als hergebrachter Anbau. Aber es macht die Landwirte - in den USA wie anderswo - eben auch abhängig von den gar nicht so milden Saatgut-"Gaben" des Konzerns.

Und schliesslich sollte die von Frau Gates so flüchtig erwähnte "financial inclusion" etwas näher beleuchtet werden. "Inklusion" ist ja so ein Modewort, dass dem liberalen Weltbürger flott von der Zunge geht. Alles und jedes wollen wir "inkludieren" - Behinderte, Alte, Einwanderer und Moslems - da kann "finanzielle Inklusion" doch nur gut sein. Aber was bedeutet das konkret? Wenn ich gelegentlich erläutere, dass das im Falle von Indien bedeutet, dass die beteiligten Akteure dort bis zum Jahr 2018 das Bargeld komplett abschaffen und alle Inder zu Nutzern irgendwelcher Kredit- bzw. Kontokarten machen wollen, ernte ich meist ungläubiges Kopfschütteln. Ausgerechnet in Indien? Dort, wo - manch fleissiger Zeitungsleser weiss das - über ein Drittel der Menschen noch nicht einmal Zugang zu einer richtigen Toilette hat? Wäre das nicht mindestens ein grotesk verfrühter Entwicklungsansatz?

Aber genau darum geht es der sogenannten "Better-than-cash-alliance", und die Gates-Foundation unterstützt diese Firmen tatkräftig bei der "Beratung" der indischen Regierung. Wer es detailliert nachlesen will, kann es z.B. auf den Seiten des Journalisten Norbert Haering tun:

http://norberthaering.de/de/27-german/news/785-gates-indien

http://norberthaering.de/de/31-english/802-modi-yunus

So spezifische Fragen werden aber auf dem Podium nicht gestellt, und auch die "Anwälte des Publikums" greifen eventuelle Vorgaben aus dem Publikum nicht auf *1.



Zusammenfassend also mehr als genug Ansätze, um das Handeln der Gates-Foundation sehr kritisch zu sehen. Dass auf dem Podium keine kritische Stimmung gegenüber Frau Gates aufkommt, ist aber sicher nicht nur überkommener Höflichkeit gegenüber der einzigen Frau geschuldet. Sondern sowohl Herr Seitz von Brot für die Welt als auch Minister Müller werden es sich nicht leichtfertig mit einer Stiftungsvorsitzenden verscherzen wollen, mit der sie - gewollt oder ungewollt - mit guter Wahrscheinlichkeit irgendwann bei irgendwelchen Projekten mit zu verhandeln haben werden. Oder aber vielleicht auch aktiv zum "Investment" auffordern wollen.

Übrigens verfolgen schlussendlich sowohl der super-individualistische Professor MacAskyll als auch das Wirken der "philanthropischen" Stiftung im Grunde eine zutiefst paternalistische Grundidee: Im einen Fall entscheidet der Super-Privat-Einzelspender allein darüber, was für "sein Projekt" oder für "seinen Schützling" gut sein soll, im anderen Fall beschliesst ein kleines Komitee mit "Bill und Melinda" an der Spitze darüber, was "gut" für ein ganzes Land oder eine ganze Region sein soll.

Insofern auch folgerichtig, wenn der Professor die "fair-trade"-Projekte eher ablehnt - ist doch nicht immer, aber häufig gerade die Stärkung der lokalen Produzenten über Genossenschaften oder Kooperativen - also ein bewusst emanzipatorisches Element - Teil solcher Projekte.

Im Lutherjahr könnte man sich daran erinnern, dass sich der Zorn des Martin L. besonders auf den geschäftsmässig betriebenen "Ablasshandel" der katholischen Kirche bezog.

Nun ist auch 500 Jahre später in gewisser Weise jede Spendentätigkeit, egal ob es um 10 Euro oder 100 Millionen geht, eine Art "Ablasshandel". Zwar suchen die meisten Bürger der Industriestaaten keine Erlösung von ewiger Höllenqual mehr, aber mindestens das eigene Gewissen soll doch etwas beruhigt werden.

Das ist weder zu vermeiden noch - soweit es um Kleinspender geht - wirklich zu verurteilen. Auch diejenigen, die sich in den verschiedenen Hilfsorganisationen um das Einsammeln von Spenden kümmern, wissen vermutlich sehr wohl um diese Umstände. Aber auch hier verändert die Grössenordnung die Qualität: In der Liga der Gates-Foundation wird Spendertum zur politischen und wirtschaftlichen Gestaltungsmacht, ausgeübt von Leuten, die dazu kein anderes Mandat haben als ihren wirtschaftlichen Erfolg und ihr mehr oder minder fundiertes Interesse an "Entwicklung".

Und da sich beispielsweise die Gates-Foundation so scheinbar generös gibt, verhüllt sie die Tatsache des obszönen Reichtums der Gates' und Buffetts'. Um eine mit Ronald Reagan berühmt gewordene Floskel aufzugreifen: diese Gross-Stiftung ist eher "Teil des Problems" als Teil der Lösung.



Bevor wir auf eine Podiumsdiskussion am Folgetag zu sprechen kommen, noch ein kleiner Exkurs zur medizinischen Praxis in den Zeiten Luthers.

Bekanntlich hatten die Ärzte dieser Zeit zwar oft praktische Erfahrung mit der Versorgung von Wunden aller Art, aber über Genese oder gar methodische Therapie der meisten Krankheiten war wenig bekannt. Wenn alle Salben, Puder und Duftfläschchen nicht halfen, so führten sie oft einen Aderlass durch. Die "Theorie" dahinter war, dass durch das Ablaufen-lassen des mit "Miasmen" versetzten Blutes der Körper sich wieder mit "frischen, gesunden Säften" auffüllen werde.

Aus heutiger Sicht nicht überraschend führte diese Kur meist dazu, dass der Kranke noch schwächer und kränker wurde.

Das ficht aber diese Doktoren Eisenbart nicht an, sondern sie verordneten den armen Patienten mehr von derselben Kur, also weitere Aderlässe.

Nicht wenige der so behandelten wurden auf diese Art zu Tode "kuriert".






Unter dem Titel "Sicheres Europa in einer besseren Welt" also waren unter der Moderation von Konstantin von Hammerstein *2 (vom Magazin >Der Spiegel<) die beiden langjährigen MdEPs *3 Elmar Brok (CDU) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP) versammelt, weiter Cornelia Füllkrug-Weitzel als Präsidentin von Brot für die Welt. Am Schluss kam noch ein Prof. Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin zu Wort.

Die Einleitung benutzte der Moderator von Hammerstein, um auf den Besuch "unseres Präsidenten der Herzen" (gemeint war Ex-US-Präsident Obama) am Vortag auf der Grossveranstaltung am Brandenburger Tor hinzuweisen und die Mainstream-üblichen Lobesworte auf die Kanzlerin abzusondern.

Alllzuviel Erkenntnisgewinn lieferte die Veranstaltung dann leider nicht. Wenig überraschend nutzten die beiden EU-Routiniers das schwammige Veranstaltungsthema für ausgiebige Darstellungen ihrer Sicht auf verschiedene politische Probleme. Selbstredend wurde auch hier immer die EU mit Europa gleichgesetzt, und wie die medizinischen Quacksalber von einst hatten auch diese beiden "Ärzte" für alle Probleme nur die eine Devise: Mehr von der gleichen Medizin!

Also mehr Frontex, mehr Entmündigung der Nationalparlamente, mehr Zuständigkeiten für Brüssel, mehr Handelsabkommen auf EU-Ebene und so weiter - und Herr Brok setzt noch einen drauf und fordert eine EU-Armee! *4

Dass in Südeuropa die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren herrscht, dass die TTIP- und CETA-Verhandlungsführung die Parlamentarier der EU-Staaten zu Befehlsempfängern degradiert, dass eine der wichtigsten europäischen Nationen sich zum Ausstieg aus dieser EU entschliesst - all das ficht diese EU-Routiniers nicht an. In ihrer Holzköpfigkeit scheinen sie sich ein Vorbild an König Philipp II. von Spanien *5 zu nehmen, von dem es hiess: "Alle Fehlschläge seiner Politik konnten seinen festen Glauben an die prinzipielle Überlegenheit derselben nicht erschüttern".


Ob die Herren diese Politik nun deshalb propagieren, weil sie es nicht besser wissen, oder ob sie da wider besseres Wissen handeln, ist eigentlich schon egal. Und wenn sie das ganze sogar manchmal mit leichter Kritik an der Bundesregierung, die auch manchmal "nationalstaatliche Egoismen" vertrete, verknüpften, so mag das für einige überraschend gewesen sein. Alllerdings bin ich mir sehr sicher, dass - sollte Herr Lambsdorff im Herbst in eine neue schwarz-gelbe Bundesregierung wechseln *6 - er diese Art von EU-Emphase schnell ablegen wird.

So fiel es also Frau Füllkrug-Weitzel zu, sich praktisch allein diesem neoliberalen Gedankenbrei entgegenzustemmen. Wie schon auf der TTIP-Veranstaltung auf dem Kirchentag in Stuttgart glänzte sie mit Faktenwissen und Logik. Leider ist sie aber offensichtlich nicht so eine routinierte Saalrednerin wie die MdEPs. Zum einen versucht sie möglichst viel Inhalt in ihre beschränkte Redezeit zu "pressen", und das geht dann manchmal auf Kosten der Verständlichkeit. Schwerer wiegt, dass sie Beifall des Publikums nicht durch entsprechende Pausen nutzt, um ihrer Argumentation mehr Gewicht zu verleihen, sondern oft schon weiterredet, bevor das im Saal rein akustisch überhaupt verstanden werden kann.

Davon abgesehen setzte sich auch die Brot-für-die-Welt-Präsidentin für einen wirklich fairen Welthandel ein, der auch den "Südländern" die Möglichkeit bieten muss, eigene Industrien etc. aufzubauen. Neu war ihr Hinweis darauf, dass man für viele Problemkreise auch aktiv mit Russland zusammenarbeiten werden müsse - Russland sei einfach zu gross und zu wichtig, um es im internationalen Rahmen vergessen oder an den Rand drängen zu können.

Einen enttäuschenden Schlusspunkt setzte dann der Professsor Zürn. Vom Moderator war angekündigt, er würde eine Zusammenfassung der Diskussion bieten. Stattdessen kam ein offensichtlich lang vorbereiteter Vortrag mit der Kernthese, dass "Europa" (die EU) nunmehr zwischen den beiden "Antiliberalen" Trump und Putin eingezwängt sei und deshalb gegebenenfalls allein für die Fortsetzung der Erfolgsmodelle "Liberalität und Freihandel" streiten müsse. Damit ist er zwar ganz auf Linie mit einem anderen "Berufs-Atlantiker" namen Josef Joffe von der ZEIT - aber mehr Sinn als bei Joffe kommt dabei auch nicht heraus.

So oder so - die EU scheint fest in der Hand von Nachfahren der mittelalterlichen Aderlass-Quacksalber, und sie werden "Europa" solange mit untauglichen Mitteln zu kurieren suchen, bis die Demokratie endgültig "erledigt" ist.



(Juni 2017)



*1 Über die "Anwälte des Publikums" wird bei diesen Podiumsdiskussionen versucht, Fragen und Einwürfe des Publikums einzubringen. Dabei werden die Besucher aufgefordert, ihre Fragen auf Zetteln zu notieren - diese werden gesammelt und von besagten "Anwälten" zu einer Art Frage- oder Stimmungscollage zusammengefasst, die dann gegen Ende der Diskussion vorgetragen wird. Zwar kann ich verstehen, dass man hier möglichem Chaos (und auch nicht so selten anzutreffenden Hobby-Monologisierern am Mikrofon) vorbeugen will. Aber natürlich sind auch die Mitglieder der Podiumsrunde überfordert, auf eine so erzeugte Fragencollage sinnvoll zu antworten. M.E. wäre es besser, einzelne , vielleicht repräsentative "Original"-Fragen heruszugreifen und direkt an die Diskutanten weiter zu geben.


*2 von Hammerstein, von Randow, von Thadden, von Rutenberg, von Mallinckrodt, von Mittelstaedt, von Rohr, von Bredow, von Haaren, von Fallois - das ist das Ergebnis einer fünfminütigen Mini-Recherche bei ein paar TV- bzw. Print/Online-Redaktionen nach Mitarbeitern mit "von" im Namen. Angesichts dessen, dass nur 1 Promille der Deutschen aus adeligen Familien stammen, eine erstaunliche Adels-Dichte in deutschen Redaktionen...


*3 Lambsdorff ist seit 2004 Mitglied des EU-Parlaments, sein Kollege Brok schon seit 1980 und kann damit seinem 40-jährigen (!) MdEP-Jubiläum entgegen sehen.

*4 Als strammer CDU-Rechtsaussen lehnt Herr Brok sicher jeden Gedanken an Austritt aus der NATO entschieden ab. Welchen Sinn es dann machen soll, die Armeen der EU-Staaten unter ein weiteres multinationales Kommando zu stellen, erläutert Herr Brok vorsichtshalber nicht. Oder will er gar eine Parallel-Armee ? Vielleicht geht es auch nur darum, dem soeben in Brüssel eingeweihten Neubau der NATO-Zentrale (Kosten über 1,1 Milliarden Euro!) ein ebenso schickes und teures "Central-EU-Command" zur Seite zu stellen.


*5 Der berühmte "Felipe Segundo" des 16. Jahrhunderts mühte sich ernsthaft, das ererbte Riesenreich zu bewahren, aber seiner Holzköpfigkeit waren zahlreiche Misserfolge geschuldet, darunter der Verlust der "Armada" vor England und die Sezession der Niederlande.


*6 Jedenfalls wollen die berühmten "gut unterrichteten Kreise" wissen, dass Lambsdorff für den Fall einer CDU-CSU-FDP-Koalition als Anwärter auf einen Ministerposten gesehen wird.