Tee im Garten von Alexandrowka



"Es ist mir klargeworden, daß die Vorschläge der Air Force

auf dem Ziel beruhen, eine Erstschlagsfähigkeit zu erreichen."

Robert S. McNamara zu John F. Kennedy, 1962


1. Wer das schöne Städtchen Potsdam bei Berlin besucht, wird vielleicht zu Fuss oder mit der Strassenbahn das nördliche Stadttor hinter sich lassen und trifft dann auf eine eigentümlich wirkende, dörfliche Siedlung. Die mit weiten Abständen an den Strassen und Wegen platzierten Häuschen wirken dezidiert nicht preussisch oder brandenburgisch, und die kleine Kirche in der Mitte der Anlage zerstreut jeden Zweifel. Ohnehin hat man in der Zwischenzeit auf Stadtplan oder Navi-App geschaut und festgestellt: Man ist in Alexandrowka, der russischen Siedlung Potsdams.

Eines der Häuschen ist als Museum zur Geschichte der Anlage hergerichtet, dort kann man sich über dieses merkwürdige Fleckchen Russland in Deutschland informieren:

http://alexandrowka.de/.

Danach hat man vielleicht noch Zeit, eines der Garten-Cafes zu besuchen, und bei einer schönen Tasse russischen Tees und einem leckeren Kuchen kann man sich Gedanken machen über den Ort und über die deutsch-russischen Beziehungen.



2. Wer zum Spötteln neigt, könnte Alexandrowka auch eine Art preussisches Disneyland nennen - denn "wirklich original russisch" ist hier wenig. Die Häuser wirken zwar wie Blockhäuser aus dem hintersten russischen Oblast, sind aber eigentlich ganz normale Fachwerkhäuser, wie sie im frühen 19. Jahrhundert in ganz Preussen üblich waren - nur eben mit halbrunden Holzbohlen verkleidet und mit landestypischen Schnitzereien verziert. Die ganze Anlage gründet auf dem Plan eines italo-russischen Architekten für ein "idealtypisches" russisches Dorf, das es so vermutlich nie gegeben hat.

Allerdings - die Bewohner, die da 1827 in diese Anlage einzogen, waren wirklich gebürtige Russen, und das Bestreben des Stifters - des preussischen Königs Friedrich Wilhelm III. - war es gewesen, seinen mehr oder minder zufällig in das eigene Militär geratenen russischen Militärmusikern eine dauerhafte, heimisch wirkende Bleibe zu bieten.

Damit das auch möglichst dauerhaft so blieb, hat "seine Majestät höchstselbst" detaillierte Regeln zu Verwaltung und Erbrecht zu Papier gebracht.

Nun könnte man die Geschichte Alexandrowkas als das Ergebnis einer monarchischen Schrulle, einer naiv-sentimentalen Anhänglichkeit des preussischen Königs zu seinem "Waffenbruder" Zar Alexander I. sehen, und mit dem Tod des Königs 1840 oder dem Tod des letzten russischen Militärmusikers 1861 hätte man das Kapitel beenden, das Dorf einebnen und das Gelände neuer Nutzung zuführen können.

Fast 200 Jahre später existiert Alexandrowka - trotz einer höchst wechselvollen deutschen und Welt-Geschichte - jedoch noch immer.



3. Wie war wohl Anfang des 19. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Europa und Russland? Nun war zwar Moskau damals wie heute weit weg von den Metropolen Paris, Rom, London oder Berlin - und der Reiseweg beschwerlich und zeitaufwändig. Allerdings waren die rund 1600 km nach Moskau oft schneller zu bewältigen als die rund 900 nach London (jeweils von Berlin aus) - denn die Passage über den Ärmelkanal war wetterbedingt oft wochenlang unmöglich (die Redewendung von der "splendid isolation" hatte da ihren realen Hintergrund). Überhaupt gab es für die Menschen des 19. Jahrhunderts keine Veranlassung, zwischen "Europa" und Russland zu unterscheiden - Moskau und St. Petersburg waren ebenso europäische Großstädte wie Paris, London, Rom oder Madrid. Gewiss, hinter Moskau kam noch viel "asiatisches" Land, aber das interessierte den normalen Deutschen oder Franzosen ebensowenig wie die Indianerkriege im fernen "wilden Westen" einen Fischhändler in New York.

Uns heutigen, die wir durch Geschichtsbücher blättern und für das 19. Jahrhundert einen Krieg nach dem anderen aufgeführt finden, erscheint dieses alte Europa unheimlich zertritten und verfeindet. Dabei übersehen wir, dass zwischen all diesen Kriegsdaten auch sehr viel Friedenszeit war. Übrigens war auch das Kriegsgeschehen selbst viel regionaler, denn der "totale" Krieg harrte ja noch seiner Erfindung.

Im Alexandrowka-Museum selbst habe ich keine Hinweise darauf gefunden, wie denn die Potsdamer Bürger damals auf die Errichtung dieser "russischen Exklave" direkt vor der Stadtmauer reagierten. Vermutlich hat man es - wie so viele andere plötzliche Eingebungen der Herrscher - halt ertragen, sich im Laufe der Zeit arrangiert, Kartoffeln und Obst bei den Teilzeit-Bauern gekauft und ansonsten "leben und leben lassen" als Devise genommen.

Russland selbst blieb in der Vorstellung der meisten Deutschen ein selbstverständlicher Teil der europäischen Staatenwelt, auch wenn natürlich die wechselnden Bündnisse und Koalitionen auch wechselnde Ansichten über den Wert der Beziehungen mit sich brachten. Hatte z.B. Bismarck den Wert einer Abstimmung mit Russland immer für hoch erachtet, so fand der junge Kaiser Wilhelm II. eher das Gegenteil und liess dann auch folgerichtig den sogenannten "Rückversicherungsvertrag" nicht verlängern.

Damit sind wir auch schon bei der Vorgeschichte zum ersten Weltkrieg, und eben dieser Krieg sollte die Stellung sowohl Deutschlands als als Russlands drastisch verändern.

Ganz wesentlich sollte zu dieser Veränderung einer der letzten "Kriegs-Gewinn-Pläne" der deutschen OHL ("Oberste Heeresleitung") beitragen. Teil davon war die von der OHL gesponsorte Rückkehr des exilierten Revolutionärs Lenin in das zaristische Russland 1917.



4. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges (oder des "Grossen Krieges", wie er von den Zeitgenossen genannt wurde), sahen sich sowohl Deutschland als auch die neugegründete Sowjetunion sozusagen als "Parias" innerhalb der Staatenwelt wieder.

Bei Russland bzw. der UdSSR lag der Grund schlicht darin, dass die "Bolschewiki" die überkommene Wirtschaftsordnung ablehnten und diese ihre Revolution (damals noch) ja auch ganz bewusst in andere Länder zu exportieren suchten. Wenig bekannt ist, dass deshalb sowohl Grossbritannien als auch die USA noch Jahre nach dem Waffenstillstand von 1918 grössere Expeditionsarmeen auf russischen Territorium unterhielten, die zusammen mit den sogenannten "weissrussischen Kräften" die bolschewistische Regierung stürzen sollten.

Deutschland wiederum war von den Allierten in Versailles quasi zum Alleinschuldigen für den Kriegsausbruch erklärt worden - sicherlich auch deswegen, weil der andere Hauptschuldige, die k.u.k.-Monarchie, nicht mehr existierte (und weil man so am besten von eigenen politischen Fehlern ablenken konnte). Alle Verhandlungen mit dem nunmehr territorial zurechtgestutzten Deutschen Reich blieben lange von diesem implizierten Vorwurf geprägt, und die geforderten Reparationsleistungen wurden von den meisten Deutschen als überzogen und/oder beleidigend empfunden.

Wenig überraschend ist, dass die so zu "Outlaws" gemachten Staaten bald Gemeinsamkeiten entdeckten. Zum einen auf wirtschaftlichem Gebiet, wo man oft auf Kontakte aus zaristischer Zeit zurückgreifen konnte. Zum anderen auf militärischem Gebiet: Die neue deutsche Reichswehr, noch immer vom alten preussischen Militäradel durchdrungen, war händeringend auf der Suche nach Übungsgelände und Grossverbänden, um mit neuestem technischen Gerät (vor allem Panzern) üben zu können. Aber dem auf 100'000 Mann beschränkten Heer war dies gemäss alliertem Statut untersagt - umso schöner, dass man sich alles in Russland sozusagen "ausleihen" konnte. Und die russische Armee hatte als Hauptlektion von 1914-1918 ausgemacht, dass man dringend Versäumnisse in Logistik und Stabsarbeit nachholen musste - und da waren die deutschen Offiziere als Lehrmeister hoch willkommen. Eine, wie man heutzutage sagen würde, "win-win"-Situation, die dann auch von Jahr zu Jahr ausgebaut wurde.

Vermutlich waren die Kommandoränge der deutschen Reichswehr diejenige deutsche Gesellschaftsschicht mit den intensivsten russischen Kontakten.

Mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichkanzler im Jahre 1933 hätte diese Zusammenarbeit der "Underdogs" sofort ein Ende haben müssen - möchte man meinen.



5. "Bringen Sie mir das russische Abkommen!" - mit diesem Satz soll Hitler seinen Aussenminister Ribbentrop 1939 auf den Weg nach Moskau geschickt haben. Ergebnis war der die meisten Europäer verblüffende "Hitler-Stalin-Pakt" (auch "Molotow-Ribbentrop-Pakt" genannt), offiziell ein auf 10 Jahre geschlossener Nichtangriffspakt, mit seinem geheimen Zusatzprotokoll aber auch die erneute militärische Aufteilung Polens besiegelnd.

Das Verblüffende an Hitlers Satz ist aber, dass er ja auch zum Ausdruck bringt, dass er ein solches Abkommen für überhaupt möglich hielt. Denn natürlich hatte auch Stalin (oder zumindest seine Berater) Hitlers "Mein Kampf" mit dem nur allzu deutlich formulierten Plan zur Eroberung des "Riesenreichs im Osten" gelesen, und ebenso hatte man natürlich auch den Aufbau des sogenannten "Antikomintern"-Bündnisses nicht ignoriert.

Andererseits hatten sich in den 6 Jahren seit Hitlers Machtantritt die wirtschaftlichen Beziehungen kaum verschlechtert, und auch die Militärkontakte waren zumindest informell durchaus noch vorhanden. Insofern verständlich, dass man auf sowjetischer Seite glaubte, mit diesem Pakt einen (vielleicht unausweichlichen ?) Krieg doch noch für mehrere Jahre mindestens hinauszögern zu können.

Auch auf deutscher Seite war die antisowjetische Propaganda spätestens mit dem Abschluss des Paktes auf ein Minimum reduziert worden, und sollte eigentlich und in vollem Umfange dann erst vor dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 wieder aufgenommen werden.

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Machen wir nunmehr einen Zeitsprung vor auf 1945 …


Nach dem zweiten Weltkrieg fanden sich die Deutschen in Ost und West bald in zwei sehr verschiedenen Welten wieder, und diese Welten wurden auch sehr bald von Stacheldraht und Mauern fein säuberlich geteilt.

In den Westzonen bzw. der späteren BRD wurde - nachdem man sich zur "Westbindung" durchgerungen hatte - ziemlich rasch die Kalte-Kriegs-Rhetorik, wie sie sich in Grossbritannien und den USA entwickelte, übernommen. Adenauer blieb zwar im Ton meist reserviert, aber in den unteren Rängen und in manchen Presseorganen wurde dabei auch ziemlich direkt die antirussische Propaganda des 3. Reiches fortgeführt (so spät das 3.Reich diese antirussische Propaganda eingeführt hatte, so intensiv war sie bis Kriegsende betrieben worden). Das Nazi-Wort vom "Untermenschen" taucht zwar in der BRD der 1950er in offiziellen Kreisen nicht mehr auf, aber Wahlplakate und Pressekarikaturen zielten oft genau in diese Richtung.

In der Ostzone, der späteren DDR, war die Lage naturgemäss anders und komplizierter. In der Anfangszeit musste man - ebenso wie im Westen - bestrebt sein, möglichst keinen Konflikt mit der Besatzungsmacht heraufzubeschwören. Aber mit der Konsolidierung des SED-Staates kam auch die sozusagen staatsbürgerliche "Pflicht" hinzu, die Sowjetunion und die Führung der KPdSU als Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts anzuerkennen. Für die zum allergrössten Teil aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten KP-Kader war das vielleicht kein Problem, für die Masse der "Arbeiter und Bauern" aber oft schon.

Und natürlich gab es mannigfaltige Anlässe für Reibereien und Animositäten - ob es nun um von sowjetischen Panzerfahrern verwüstete Felder oder durch russische Demontagetrupps funktionsunfähig gemachte Betriebe ging.

Trotzdem scheint sich das Verhältnis auch des breiteren DDR-Publikums spätestens in den 1960/1970er-Jahren entspannt zu haben - die Demontagen waren vergessen, die Grausamkeiten der Besatzung von 1945 zumindest verdrängt, und man hatte ja in der Zwischenzeit auch reichlich Gelegenheit für ganz zivile Kontakte gehabt.



6. Spätestens in den 1960er-Jahren schienen beide deutschen Staaten fest eingefügt zu sein in die beiden antagonistischen Machtblöcke, und auch die heutzutage "Narrative" genannten vorherrschenden Beschreibungen der jeweils anderen Seite wurden wohl von der Mehrheit der Bevölkerungen geteilt.

In der DDR war der Durchschnittsbürger sicher nicht von so undurchdringlicher Treue zum "Brudervolk" durchdrungen, wie es die Staatsführung gerne gehabt hätte, aber man fuhr lieber UdSSR-Lada als DDR-Trabant, hatte sogar etwas mehr direkte Kontakte zu Russland wie in der Vor-Sowjetzeit und konnte sich auch ehrlich begeistern, wenn ein Sigmund Jähn an Bord einer sowjetischen Sojus-Kapsel ins All schwebte.

In der West-BRD fühlte man sich bestätigt, mit der Entscheidung für den "Westen" nunmehr auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Man erfreute sich einer bislang unbekannten wirtschaftlichen Prosperität und glaubte sich vor allen weltpolitischen Gefahren durch den großen Verbündeten in Übersee geschützt, der - das hatte man ja aus den verschiedenen Berlin-Krisen gelernt - notfalls mit aller Macht sein Ziehkind BRD verteidigen würde.

Das zum Instrumentarium dieser Verteidigung dann auch die grosse "Atomkeule" gehörte, bereitete einigen allerdings auch gehörige Angst.



7. 1989 kam die sogenannte Wende, also der Zusammenbruch der "realsozialistischen" Staaten. Zu diesem Zeitpunkt waren wohl die meisten Deutschen in Ost und West dankbar für die so unverhofft ermöglichte deutsche Wiedervereinigung.

Freilich wurde auch diese Dankbarkeit von den meinungsführenden Medien geschickt personalisiert, und so hieß es dann "Danke Gorbi" und nicht "Danke Russland". In der folgenden Zeit der Unsicherheit agierten die Kohl-Regierungen verständlichlicherweise im Verhältnis zum neugebildeten Russland vorsichtig, zumal es ja innenpolitisch jede Menge Handlungsbedarf gab - von der Besetzung der Verwaltungen bis zur Einführung neuer Postleitzahlen. Hat jemand die Chance erkannt, die in den zu DDR-Zeiten recht intensiv entwickelten deutsch-russischen Geschäftsbeziehungen lag? Im Rückblick wohl eher wenige, denn der marktgläubigen Kohl-Regierung schien es keiner Intervention wert, wenn große Kombinate von der Treuhand ohne viel Aufhebens zerstückelt und die Reste "abgewickelt" wurden.

Neben den verfehlten Währungsentscheidungen hatte dazu freilich auch die grosse Depression beigetragen, in der sich Russland damals befand. Denn auch Boris Yeltzin war unter den Einfluss von Chicago-Boys geraten, die den wirtschaftlichen Absturz von Millionen Russen als "unvermeidliche Marktanpassung" deklarierten.



Medial, das kann man zumindest für Deutschland sagen, war das Thema deutsch-russische Beziehungen in den späten 1980er bis 1990er Jahren von untergeordneter Bedeutung. Neben vielen innenpolitischen Themen gab es ja noch viele andere Aufreger wie Desert Storm, Ruanda und Yugoslawien. Da kam ein Präsident Yeltzin am ehesten dadurch in die "Tagesschau", wenn er nach zuviel Wodkagenuss über irgendeinen roten Teppich wankte.



8. Um die Jahrtausendwende gab es nicht nur Regierungswechsel in den USA (von Clinton zu Bush) und Russland (von Yeltzin zu Putin), sondern sowohl in den USA als auch in Europa einen gewaltig zunehmenden Einfluss von (oft sehr finanzstarken) Stiftungen und "Think Tanks". Als Beispiel sei das sogenannte "Project for a New American Century" genannt, von dem zahlreiche Mitglieder in einflussreiche Positionen der Bush-II-Regierung wechselten (u.a. Dick Cheney).

Auch die SPD-Grünen-Regierung von 1998 wurde in Form ihrer Personalspitzen Schröder und Fischer bei ihrem ersten Besuch in Washington "eingenordet", wie es Albrecht Müller so schön formuliert hat.

In der BRD hatten sich eben nicht nur Äußerlichkeiten geändert (das Parlament tagte nun im runderneuerten Reichstag in der neuen/alten "Reichshauptstadt", und der Kanzler residierte im Regierungssitz mit dem "größten umbauten Raum aller Regierungssitze"), sondern dass teilweise sehnsüchtig erwartete "sozial-ökologische Projekt" ging energisch daran, bislang feste Grundüberzeugungen der Parteimitglieder über Bord zu werfen.

Die Beteiligung am NATO-Krieg in Yugoslawien war für die Grünen der Ausgangspunkt innerparteilicher Erosion, wie es für die SPD die Umsetzung der sogenannten Agenda 2010 war.

An den deutsch-russischen Beziehungen schien sich dadurch zunächst nicht viel zu ändern, aber sie wurden eben auch nicht intensiviert - selbst da, wo es sich geradezu angeboten hätte, etwa beim Irak-Krieg 2003. Hier hatte Kanzler Schröder zwar trotz erklärter transatlantischer Solidarität beschlossen, die BRD (noch?) nicht teilnehmen zu lassen, aber die Chance, die USA gemeinsam mit Russland und anderen skeptischen Regierungen von dieser Wahnsinnstat abzuhalten zu versuchen, ergriff er nicht. Das damals eine gewisse Oppositionspolitikerin namens Angela Merkel am liebsten auch deutsche Soldaten nach Baghdad und Fallujah geschickt hätte, sollte man auch nicht vergessen ...



9. Die mediale Neudeutung Russlands als "Erzfeind des freien Westens" erfolgte dann in der BRD spätestens ab 2014. Ausgangspunkt war die Ukraine-Krise. In dieser Deutungsart hat Russland nicht nur einen Bürgerkrieg im Osten der Ukraine entfacht, sondern gleich noch einen Teil der Ukraine selbst annektiert, nämlich die Krim. Und neben den üblichen Scheusslichkeiten eines Krieges spielen in dieser Erzählung auch noch die Passagiere eines malaysischen Passagierjets, internationale Untersuchungskommissionen und als OECD-Beobachter getarnte Bundeswehrsoldaten eine Rolle.

Es würde zu weit führen, hier eine weitreichende Analyse der Vorgänge in der Ukraine abliefern zu wollen, zumal ja wesentliche Teile nach wie vor unklar sind (z.B. wer und wieso die malaysische Passagiermaschine abgeschossen hat). Jedoch war die Darstellung in den großen deutschen Medien überraschend uniform, und der Schuldige schnell ausgemacht: "Putin-Putin-Putin!", wie es im Schluss einer TV-"Reportage" von Golineh Atai aus jener Zeit melodramatisch hieß.

Über die Genese des Konflikts, über die merkwürdige Methode der EU, ein Assoziierungabkommen mit einer Art Ultimatum zu verbinden, über die intensive (und milliardenschwere) Tätigkeit von US- und deutschen "NGOs" oder Stiftungen im Vorfeld des "Euromaidan" usf. wurde kaum oder gar nicht berichtet.

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Mittlerweile ist die Saat dieser Propaganda "erfolgreich" aufgegangen. So kann das ZDF im Juli 2017 geschlagene 10 Minuten Sendezeit damit zubringen, sich darüber aufzuregen, dass ein amerikanischer Politiker mit einem russischen Politiker REDET (ein Trump-Berater mit einem Botschafts-Vertreter). Zu fragen, ÜBER WAS da geredet würde und mit WELCHEM ERGEBNIS, das Interessiert die ZDF-Reporter gar nicht mehr, denn der Skandal ist in ihren Augen schon der Tatbestand, dass jemand mit RUSSEN zu reden wagt.



10. Es gibt mittlerweile verschiedene Zeugnisse von US- Politikberatern, nach denen eine Hauptsorge der US-Politik seit dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen Deutschland und Russland (oder gar eines europäisch-russischen Bündnisses) sei. Und entsprechend müssten die USA zur Aufrechterhaltung ihrer hegemonialen Stellung alles unternehmen, um solche Bündnisse zu verhindern. *1

Natürlich kann man solche Aussagen und die, die sie publik machen, als "Verschwörungstheorien" bzw. "Verschwörungstheoretiker" abtun, aber es bleibt auffällig, wie sehr die US-Politik in den letzten Jahrzehnten genau in diese Richtung gewirkt hat.

Insbesondere erklärt sich der seit der Jahrtausendwende stetig beschleunigende Konfrontationskurs gegenüber Russland. Vom Standpunkt der US-Eliten ist dies umso notwendiger, je weniger die "klassischen" Hemmnisse für eine deutsch-europäisch-russische Annäherung (antagonistische Wirtschafts-Systeme, Entfernung, Sprache) wirksam sind.



Oder anders formuliert: Eine hypothetisch mögliche europäisch-russische Kooperationszone wird von diesen US-Eliten als Bedrohung empfunden und muss folgerichtig von ihnen verhindert werden.



11. "Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt!"

Mit diesem schlauen Satz leitete Stalin die Abkehr von der anti-deutschen Propaganda, die die sowjetisch-russischen Kriegsanstrengungen im 2. Weltkrieg (fast möchte man sagen: natürlicherweise) begleitet hatte, ein.

Wenn wir hier über eine "neue Ostpolitik" nachdenken, dann können wir Stalins Satz durchaus umdrehen: Auch Russland wird bleiben, egal ob nun Putin oder ein anderer an der Spitze dieses Staates steht. Und Russland wird ein europäischer Nachbar bleiben - denn das ist das Unangenehme an Geopolitik: Sofern sich die Kontinente nicht plötzlich um 180 Grad drehen, bleiben die Zwänge, die sich aus der geografischen Lage ergeben, ja bestehen.

Folgerichtig werden auch künftige russische Regierungen, wie schon seit Zarenzeiten, sichere Häfen für die russische Flotte beanspruchen (siehe Krim), und auch sie werden die Westgrenzen sichern wollen.


Denn das ist DIE historische Erfahrung Russlands, welches in der "Neuzeit" schon drei große Armeen (Napoleons Grande Armee, das kaiserliche Heer und Hitlers Wehrmacht) Krieg und Verwüstung ins Land hat tragen sehen.


Es bleibt eine Voraussetzung für gut-nachbarschaftliche Politik, dass man sich ein Stück weit "in die Schuhe des anderen" hinein zu versetzen gewillt ist.




12. Jenseits der allgegenwärtigen Personalisierung müssen wir uns jetzt trotzdem etwas mit Wladimir Putin beschäftigen. Ist es überhaupt möglich, mit so einem "Autokraten", der ja hierzulande gerne in einem Atemzug mit Erdogan, Trump oder gar Kim Jong-Un genannt wird, zu vernünftigen Abkommen zu gelangen? War es nicht Putin, der - wie es ein Titelbild des "Spiegel" suggerierte - quasi persönlich für den Abschuss des MH17-Fluges verantwortlich zeichnete? Bedroht uns nicht Putin - ein anderer "Spiegel"-Titel - mit Flugzeugen und Raketen?

Klar ist, dass Putin auch zu harten, unerbittlichen Massnahmen fähig ist - das hat der Tschetschenien-Krieg und die Verfolgung der tschetschenischen Terroristen gezeigt. Freilich hatte er diesen Krieg ja von seinem Vorgänger geerbt, und ob mit den damaligen Tschetschenen-Extremisten überhaupt eine Verhandlungslösung möglich gewesen wäre, bleibt angesichts von Beslan *2 und vielen anderen grausamen Terrorattacken fraglich. Mindestens gibt ihm der Erfolg recht: in Grosny schreitet der Wiederaufbau voran, und die vielleicht verbliebenen tschetschenischen Terroristen scheinen nicht mehr zu größeren Aktionen fähig.

Ob der russische Inlandsgeheimdienst und die dabei eingesetzten "Spezialkräfte" bei diesen Operationen immer die Menschenrechte beachteten, kann sicher bezweifelt werden - allerdings WISSEN wir von den US-Counterparts, dass diese sich vielfach nicht daran gehalten haben (Stichworte Abu Ghraib, Guantanamo, Baghram etc.).


Das berühmte Schröder-Wort vom "lupenreinen Demokraten" Putin wird ebenfalls kaum jemand unterschreiben wollen, aber fast alle grossen Entscheidungen der letzten Jahre wurden von der DUMA (dem russischen Parlament) gebilligt oder bekräftigt und, etwa im Falle des Krim-Anschlusses, durch lokale Referenden bestätigt. Man kann dies als formal-demokratische Inszenierung abtun - aber dann muss man auch fragen, ob die vom Bundestag jahrelang gebilligte Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr auch nur "formell" einwandfrei war, denn innerhalb der deutschen Bevölkerung wurde dieser Einsatz immer mit grosser Mehrheit abgelehnt.



13. Offenbar sind Putin und Medwedjew innerhalb der russischen Bevölkerung auch deshalb beliebt, weil sich in ihren Amtszeiten der Lebensstandard wesentlich erhöht hat. Und die russische Aussenpolitik war durchaus von Vorsicht gekennzeichnet - z.B. wurden die vielfältigen Provokationen seitens der Ukraine recht geduldig hingenommen. Auch in Syrien wurde erst nach jahrelangem Zögern interveniert, und es bleibt ein Fakt, dass die russischen und iranischen Einheiten in Syrien die einzigen sind, deren Anwesenheit nach internationalen Regeln legal ist.

Russland hat auch immer wieder geduldig verhandelt, wo es um internationale Konflikte ging - etwa bei den "Atomgesprächen" mit Iran, bei den Minsker Verhandlungen über die Ost-Ukraine oder den verschiedenen Waffenstillstandsbemühungen für Syrien.

Nüchtern betrachtet ist Putin m.E. ein fähiger Politiker, der die Interessen seines Landes mit Bestimmtheit wahrnimmt und sich dabei breiter Zustimmung der russischen Bevölkerung sicher sein kann. Auch nicht unwichtig, dass der Kurs seiner Regierung, verglichen insbesondere mit dem der US-Regierung unter Trump, ein Muster von Geradlinigkeit (und damit Kalkulierbarkeit) ist.

Eine gewisse Berühmtheit hat Putins Rede vor dem deutschen Bundestag *3 im Jahre 2001 erlangt, in der er vielfältige Angebote zur deutsch-russischen und europäisch-russischen Kooperation machte. Für eine intelligente deutsche Regierung könnte dies der Ansatzpunkt für eine "neue deutsche Ostpolitik" sein, die die grösstenteils künstlichen Konfliktpunkte ausräumt und den Weg für eine friedliche und wohlstandsmehrende Kooperation öffnet.

Nur sind - leider - weder ein Willy Brandt noch ein Egon Bahr in Sicht, die solch eine mutige Politik angehen würden. Denn, auch das ist klar, am Anfang müsste eine klare Emanzipation von der US-amerikanischen Hegemonialpolitik stehen, und u.a. müsste der Austritt aus der NATO dabei wenigstens ein Nahziel sein.

Stattdessen werden dem deutschen Wahlvolk in diesem Jahr mit Angela Merkel und Martin Schulz absolut pudeltreue "Atlantiker" als Kanzlerkandidaten angeboten, wobei man garnicht weiss, ob "100-Prozent-Martin" sich nicht ohnehin schon in der Rolle als Juniorpartner einer weiteren "GroKo" sieht. Inhaltlich wäre Schulz ohnehin nur eine Merkel mit Bart ...



14. Vor einiger Zeit las ich in einem Leserkommentar eines Internetblogs etwa folgende Formulierung:



"Es sind russische Interkontinentalraketen, die aufgrund ihrer Fähigkeit, US-amerikanische Zentren wie New York oder Washington mit Nuklearwaffen vernichten zu können, uns hier in Europa vor der unbeschränkten Ausweitung von US-Militäreinsätzen bewahren."



Beim ersten Lesen habe ich den Gedanken sofort fortgeschoben - das musste doch die irrige Meinung eines unbelehrbaren DKP-Aktivisten der 1980er-Jahre sein...

Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher. Nehmen wir das US-Programm der "targeted killings" mittels bewaffneter Drohnen. Es gibt in Theorie und Praxis keinen Hinderungsgrund, warum solche Angriffe nicht irgendwann auch in Tschechien oder Rumänien, in Belgien oder eben auch Deutschland stattfinden sollten. "Terroristen" nach CIA-Ansicht kann es in allen diesen Staaten geben, und ein Gutteil der Attentäter vom 11. September (z.B. Muhammad Atta) lebten ja gerade hier in Deutschland. Wieso nicht in Zukunft den "war on terror" auch in diese Staaten tragen? Sicher nicht wegen rechtlicher Bedenken. So hat Präsident Obama bei seinen Entscheidungen zu "targeted killings" nur dann einen Mitarbeiter des US-Justizministeriums hinzugezogen, wenn die Gefahr bestand, dabei auch einen US-Bürger zu töten. Nicht-US-Bürger waren nie einer besonderen Erwägung bzw. Konsultation wert.

Dem einen oder anderen Leser wird der Verdacht kommen, dass hier neue oder alte "Verschwörungstheorien" präsentiert werden. Nun, einen "geheimen Welteroberungsplan der USA" wird es wohl nicht geben. Was es aber sehr wohl gibt, sind "Kongruenzen" oder "Resultierende" aus verschiedenen, sehr machtvollen Interessen-Gruppen. So wird zwar eine Firma wie Lockheed, die sich vor Jahrzehnten von jeder zivilen Fertigung verabschiedet hat, nicht "eigenhändig" einen Luftkrieg gegen einen Nahost-Staat auslösen, aber sehr wohl alle Politiker unterstützen, die militärische Aufrüstung propagieren. Und wenn im Irak oder anderswo dann Lockheed-Technik "verbraucht" wird, ist das eben gut für Kurs und Dividende der Lockheed-Aktie und die Boni der Manager. Und im Gegenzug wartet auf die pro-Aufrüstungs-Abgeordneten nach ihrer Politik-Karriere oft ein wohlbezahlter Posten bei einer der Rüstungsfirmen.

Auch die US-Regierungen mögen "per se" garnicht unbedingt kriegslüstern sein, aber die Phalanx der diversen machtvollen Lobbys (Militär-, Energie-, Finanz-, IT-Industrie) legen im Zweifelsfall einen expansiven und "interventionistischen" Kurs nahe. Im Zusammenspiel mit dem nie korrigierten Mangel der US-Verfassung (die dem Präsidenten in der Aussenpolitik fast unbeschränkte Vollmachten einräumt) und der so sehr gepflegten Überzeugung vom "US-Exzeptionalismus" kommt es dann zum aus lauter "limited wars" bestehenden "perpetual war" *4.

Eine Lehre aus dem kalten Krieg könnte sein, dass es eines starken Gegenparts bedarf, um die hegemonialen Aspirationen eines Staates oder eines Machtblocks einzuhegen. Gegenüber den USA des 21. Jahrhunderts werden es die europäischen Staaten (egal in welcher Art von politischer Verbindung) alleine nie sein. Dann bleiben Russland und China als potentielle Partner, mithin die Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik.



(August 2017)



*1 Informationen dazu u.a. hier:

Kai Ehlers in den Nachdenkseiten über Zbigniew Brzezinski

George Friedman von STRATFOR zu US-Strategien (Video)



*2 In Beslan hatten im Jahre 2004 tschetschenische Terroristen ein Schulgebäude besetzt und die rund 1100 Anwesenden (Kinder und Lehrer) zu Geiseln gemacht. Dabei liessen die Terroristen u.a. stundenlang Schulkinder vor improvisierten Bomben knien und verhinderten lange die Versorgung mit Essen und Getränken. Am Schluss wurde die Geiselnahme durch eine improvisierte Erstürmung beendet, die tragischerweise rund 300 Todesopfer forderte. Interessant ist, dass dieses Ereignis, das doch von der Grössenordnung her durchaus mit ähnlichen Terror-Anschlägen in West-Europa (London, Madrid etc.) vergleichbar ist, im Westen kaum Beachtung fand. Noch interessanter, dass im Jahre 2017 durch ein Urteil des "Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte" (EGMR) Russland wegen der blutigen Beendigung des Geiseldramas von Beslan zur Zahlung von Schmerzensgeld an 409 Kläger verurteilt wurde. Medial wurde das als willkommene Bestätigung genommen, dass die russischen Sicherheitskräfte notorisch Menschenrechte verletzen, ja recht eigentlich überhaupt an dem Drama schuld sind.

Nur - wenn wir das einmal gedanklich umkehren: Ist die Münchener Polizei schuld daran, dass ein jugendlicher Amokläufer im Juli 2016 neun Menschen in München-Moosbach erschoss? Oder, wenn wir 4 Jahrzehnte zurückgehen: War die gescheiterte Geiselbefreiung 1972 in Fürstenfeldbruck hauptsächlich die Schuld der Polizeikräfte, oder lag die Hauptschuld nicht doch bei den damaligen Terroristen? Sollte man nach dieser Logik nicht unter den Feuerwehrleuten von New York nach "Schuldigen" suchen, weil eben über 3'000 Menschen nicht aus den brennenden "Twin Towers" am 11.09.2001 gerettet wurden?

Den Opfer-Angehörigen, die jetzt infolge des EGMR-Urteils im Schnitt rund 8'000 Euro als (zusätzliches) Schmerzensgeld erhalten sollen, sei das Geld sicher gegönnt. Und das in Beslan wie in Fürstenfeldbruck wohl gravierende Fehler gemacht wurden, die man analysieren sollte, ist vollkommen richtig. Nur würden sich sowohl die USA als auch die BRD solch eine Art öffentlicher Aburteilung durch das EGMR oder eine andere internationale Organisation mit Sicherheit nicht bieten lassen.


*3 Eine kommentierte Version findet sich u.a. hier:

"Putins Rede vor dem Bundestag" (Nachdenkseiten)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine neue Ostpolitik, die auf solche Kooperations-Offerten seitens Russlands eingehen würde, bedeutete natürlich nicht eine bedingungslose Zustimmung zu allen Positionen der russischen Regierung oder gar eine Wiederauflage des Warschauer Paktes. Aber eine punktuelle Zusammenarbeit wäre doch in verschiedenen Feldern (IS-Bekämpfung, Dialog mit Iran und Nordkorea, Energiepolitik etc.) eigentlich jetzt schon problemlos möglich.



*4 Dazu auch hier: "Vom Limited War ..."



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Das McNamara-Eingangszitat stammt aus DER SPIEGEL Ausgabe 44/1987 (im Web unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13526540.html )