Mikro und Makro




1.

Szene 1: Sie sitzen mit Zehntausend weiteren Sportbegeisterten im Fussballstadion. Da gibt es eine spannende Situation auf dem Spielfeld, leider am Rande ihres Blickfelds. Instinktiv springen sie auf, und schon haben sie einen besseren Überblick - nur leider währt ihre Freude über diesen Zustand nur kurz, denn gleich darauf springen auch alle anderen Zuschauer auf, und die Sichtverhältnisse sind wieder genauso schlecht wir zuvor.

Diese Situation ist unter dem Namen "Tribüneneffekt" wohlbekannt und auch jede Woche neu zu beobachten.

Nehmen wir an, sie sollten einem Stadionneuling gute Tips für das Verhalten im Stadion mitgeben. Würden Sie dann sagen: "Besorge dir einen Sitzplatz, aber verfolge das Spiel dann im Stehen!"



Wohl kaum, obwohl es an den geometrischen Gesetzmässigkeiten keinen Zweifel geben kann:

Wenn alle anderen sitzenbleiben, dann hat man stehend die bessere Übersicht. Nur bleiben die anderen eben nicht sitzen, sondern springen auch auf. Im wirklichen Stadionalltag ist es natürlich so, dass nach einer Weile zuerst wenige, dann immer mehr Leute sich wieder hinsetzen, bis (fast) alle wieder Platz genommen haben. Und es zum nächsten Aufspringen kommt...

Einem Fussball-uninteressierten neutralen Beobachter könnte der Gedanke kommen, dass das Sichtfeld für alle Stadionbesucher zusammengenommen am besten gewesen wäre, wenn alle schlicht sitzen geblieben wären.



2.

Szene 2: Sie steigen in Stadt A in ihr Auto und wollen zu Stadt B. Die Strecke ist ihnen wohlbekannt, normalerweise schaffen sie das in 2 ½ Stunden. Aber heute haben sie es eilig, der Termin in Stadt B ist wichtig und sie sind spät dran. Also entschliessen sie sich, spätestens auf der Autobahn "voll auf die Tube zu drücken". Tatsächlich schaffen sie die Strecke diesmal in unter 2 Stunden, vielleicht etwas erschöpft, aber glücklich ob der rechtzeitigen Ankunft. Möglicherweise haben sie auf der Fahrt auch die Verkehrsregeln etwas "kreativ" ausgelegt - sind möglicherweise mit Tempo 120 durch die mit 80 ausgeschilderte Baustelle geeilt oder haben rechts überholt, wenn sich auf der linken Spur zuviele "Schleicher" angesammelt hatten. Aber das Ergebnis rechtfertigt für sie die Methode - sie sind rechtzeitig am Zielort.

Welchen Rat würden sie ihrem Sohn oder ihrer Tochter geben, wenn diese in ähnlicher Situation ebenfalls "volle Pulle" geben wollen? Dass die "kreative" Regelauslegung in obigem Falle effektiv war, ist nicht abzustreiten, aber auch nicht, dass eine solche Fahrweise sehr anstrengend ist.



Dass es unsere Autobahnen in der Regel schon aushalten, wenn gelegentlich ein oder zwei "Maximalbeschleuniger" unterwegs sind, ist erfreulich. Aber ebenso klar ist, dass ein solches Verhalten, massenhaft ausgeübt, eben auch massenhaft Unfälle provozieren würde. Ganz ohne Sinn sind diese Regeln ja nicht aufgestellt worden.

Die Verkehrswissenschaft hat übrigens schon lange herausgefunden, dass Anzahl und Länge der Autobahnstaus am besten dadurch drastisch zu verringern wäre, wenn alle Fahrzeuge dasselbe Tempo von etwa 80-90 km/h einhalten würden. Angesichts dessen, dass ja auf deutschen Autobahnen gigantische "Mengen" von Lebens- und Arbeitszeit unproduktiv in Staus vernichtet werden (ganz abgesehen vom Treibstoff), wäre ein Tempolimit auch volkswirtschaftlich eigentlich dringend angesagt.

Es zeigt sich, dass die individuell und "ausnahmsweise" erfolgreich angewandte Strategie (maximales Tempo) sich geradewegs in ihr Gegenteil verkehrt, wenn alle sie anwenden wollen.



3.

Szene 3: Denken wir uns eine Einzelhandelsangestellte X, die das Gehalt ihrer Teilzeittätigkeit bislang "irgendwie" ausgegeben hat. Um das Rechnen einfach zu halten, gehen wir von EUR 1000,- im Monat aus, ergänzt um ein 13. Monatsgehalt von ebenfalls EUR 1000,- als Weihnachtsgratifikation. Auch die Frage nach netto oder brutto können wir uns für dieses Beispiel, ganz unserer grossen Kanzlerin folgend, "schenken" - nennen wir es also "bretto" oder "nutto" *1.

Nun setzt sich unsere imaginäre Kollegin ein Ziel - sie möchte irgendwann eine grosse Reise oder besondere Anschaffung tätigen. Sie beschliesst, ab sofort eisern zu sparen und jeden Monat 10% weniger auszugeben. Wenn sie das durchhält, so hat sie nach 1 Jahr offensichtlich EUR 1200,- angespart.

Beflügelt von ihrem Sparerfolg, propagiert sie ihre Spartipps vielleicht auf ihrer Facebook-Seite. Denken wir uns weiter, dass diese Spartipps in der betreffenden Stadt von fast allen Mitbürgern befolgt werden - es wird also in dieser Stadt plötzlich rund 10% weniger konsumiert. Während die Sparanstrengung der Einzelperson X für den Einzelhandel der Stadt natürlich fast irrelevant war, ist es der Konsumverzicht (fast) aller Bürger natürlich nicht.

Auf einen 10%-igen Umsatzrückgang mag dann der Arbeitgeber von Kollegin X ganz verschieden reagieren. Eine (beliebte) Möglichkeit wäre, die Weihnachtsgratifikation zu streichen. Für unsere Musterkollegin X sähe die Rechnung dann plötzlich ganz anders aus: Konsumverzicht=Ersparnis=1200, aber Einkommensschmälerung um 1000, also am Ende nur 200 "gespart".


Auch dieser Effekt ist unter den Namen "Sparparadoxon" wohlbekannt.

Für diese Szene 3 habe ich natürlich bewusst das Umfeld einer Stadt und als Beruf "Einzelhandelsangestellte" gewählt. Wäre Kollegin X bei einer Rüstungsfirma angestellt, so könnte ihr das Umsatzniveau des Einzelhandels ihrer Stadt ziemlich lange "schnuppe" sein, da ihr Gehalt ja letztendlich aus ganz anderen Quellen gespeist wird, z.B. den militärischen Wünschen arabischer Oel-Potentaten.

Je weiter wir aber den Kreis ziehen, desto unvermeidlicher greift das Sparparadoxon. Wenn alle Deutschen 10% sparen wollen, so ist ein erheblicher Umsatzrückgang der gesamten Volkswirtschaft sicher. Wenn gar die "gesamte Welt" 10% sparen wollte, dann wäre eine globale Rezession unausweichlich.



4.

Szene 4: Ein Bekannter kommt zu ihnen und will Rat bezüglich seiner Beschäftigung haben. Sein Arbeitgeber hat in einer ausserordentlichen Betriebsversammlung bekannt gemacht, dass das Unternehmen in ernsten Schwierigkeiten sei. Wichtige Kunden seien abgesprungen, gleichzeitig hätten sich die Kosten für Materialeinkauf deutlich erhöht. Bei der angespannten Lage in der betreffenden Branche sei eine baldige Besserung nicht in Sicht. Deshalb schlage die Geschäftsführung vor, dass alle Arbeitnehmer einer unbefristeten 10%igen Lohnsenkung zustimmen - nur so könnten die Arbeitsplätze erhalten werden.

Konkret will ihr Bekannter wissen, ob er diesem Vorschlag bei der nächsten Versammlung zustimmen soll. Gemeinsam gehen sie gründlich alle Möglichkeiten durch. Allerdings ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt in dieser Branche eher schlecht, die Chance für ihren Bekannten, eine neue Anstellung zu finden, deshalb sehr gering. Auch ist er durch Familie und Hausbau ziemlich gebunden, könnte also nicht "irgendwo" eine neue Stelle annehmen.

Nach vielen Gesprächen und gründlichem Überdenken kommen sie zum Schluss, dass dem Bekannten am besten eine Zustimmung zur Lohnsenkung anzuraten sei.

Dieser individuelle Ratschlag mag für die konkrete (Einzel-)Person in der konkreten Situation - sozusagen mikro-ökonomisch - vollkommen richtig sein.



Und sicher haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Deutschland Tausende von Arbeitnehmern solchen oder ähnlichen "Offerten" ihrer Arbeitgeber zugestimmt, und letztendlich mit dem scheinbar schlüssigen Argument "besser weniger Lohn als arbeitslos".

Nur wie sieht es makro-ökonomisch aus? Wir haben schon beim Beispiel zum Spar-Paradoxon gesehen, dass eine grossflächige Reduktion des Konsums natürlich auch Rückwirkung auf die (Volks-)Wirtschaft hat. Wenn also in grossem Stil Arbeitnehmer Lohnreduktionen hinnehmen oder - was bei mehrjähriger Betrachtung auf das gleiche hinausläuft - auf (durch die Produktivitätsentwicklung eigentlich berechtigte) Lohnzuwächse verzichten, dann folgt daraus zwangsläufig ein Nachfrageschwund.

Jene von Politikern und Wirtschaftsführern so oft gerühmte deutsche Lohnzurückhaltung hat dann auch genau dazu geführt. Ohne Exportanteil wäre das BIP Deutschlands seit langer Zeit rückläufig, oder pathetischer formuliert: das "Volksvermögen" wäre gesunken.

Aber es gibt ja noch den Export, und so nimmt es wenig wunder, dass die gleichen Politiker und Wirtschaftsführer das "deutsche Exportwunder" und die immer neuen Aussenhandels-Überschuss-Rekorde gerne rühmen - da sind sich auch z.B. CDU-Kanzlerin und SPD-Kanzlerkandidat vollkommen einig.



5.

Bevor wir zur Rolle des Exports kommen, wollen wir die Relevanz der 4 Szenarien zusammenfassen. In allen Beispielen geht es darum, dass eine Handlungsweise, die für ein Individuum oder einen Betrieb vollkommen vernünftig erscheint, bei Anwendung in grossem Rahmen ganz andere Resultate zeitigt.

Der Wunsch nach besserem Überblick im Stadion könnte durch das simple Aufspringen erfüllt werden - wird aber durch die gleichartige Reaktion der anderen Besucher nutzlos.

Die "volle-Kanne"-Autobahnfahrt kann im Einzelfall erfolgreich sein - wenn die Mehrzahl der Fahrer es ebenso täte, wären Staus und Unfälle vorprogrammiert. Und das ambitionierte 10%-Sparziel gelingt der Einzelperson mehr oder minder mühelos - im auch nur städtischen Rahmen wird daraus aber schon mehr Fluch als Segen.


Letztendlich ist das eben auch eine Auswirkung unserer gegenseitigen Abhängigkeit in modernen Gesellschaften.


Wer als Einsiedler irgendwo im australischen "Outback" lebt (von hunderten Kilometern "Nichts" umgeben), kann mit dem Jeep bei Tempo 100 durch die Steppe brettern, ohne sich um irgendwelche Verkehrsregeln zu sorgen, oder aber sein Altöl in der Senke hinter dem Haus abkippen- niemand schert sich darum, und selbst der ökölogische Schaden ist begrenzt.



In den dicht besiedelten Gebieten der Welt geht das aber ohne Zweifel nicht. Und auch die ökonomischen Wechselwirkungen unserer Handlungen müssen wir eben berücksichtigen.



6.

In unserem Nachbarland Frankreich hat es sich der neue Präsident E. Macron zur Aufgabe gemacht, ein Paket von Änderungen der Arbeitsgesetzgebung möglichst rasch umzusetzen. Unter anderem geht es darum, den Arbeitgebern die Entlassung von Angestellten wesentlich zu erleichtern, die Bezüge von Arbeitslosen zu reduzieren und es den Unternehmen zu ermöglichen, Lohnabschlüsse mit wenig oder gar keiner Einflussnahme der Gewerkschaften direkt auf Betriebsebene auszuhandeln.

Vorbild ist dabei - da ist Macron ganz offen - Deutschland, dass seinen Arbeitsmarkt viel früher "liberalisiert" und "flexibilisiert" habe.

Manches davon mag der eine oder andere als ganz plausibel empfinden - gibt es nicht wirklich manchmal Angestellte, die jede Motivation verloren haben, aber dennoch auf ihrem Platz "kleben" und deren (leichtere) Entlassung vielleicht wirklich ein Vorteil für das Unternehmen wäre? Und es wird genügend französische Unternehmer geben, die mit Verweis auf die je schwierige Lage ihrer jeweiligen Branche schon lange "Lohnanpassungen nach unten" vorschlagen wollten, um "Arbeitsplätze zu retten".

Allerdings wird dann wieder mikro-ökonomischer Vorteil mit makro-ökonomischem Vorzug verwechselt. Denn eine - vielleicht auch nur temporär gedachte - Erhöhung der Arbeitslosenzahl verringert die inländische Kaufkraft ebenso wie die durch Aushebelung der Flächentarife beabsichtigte Senkung des Lohnniveaus. Eigentlich müssten weniger die Industriearbeiter gegen diese Gesetze auf die Strassen gehen als die Bäcker und Metzger, die Schuh- und Kleiderverkäufer, die Handwerker und Kleinhändler. Denn ihnen wird mit dieser Lohnsenkungsstrategie nachhaltig die ökonomische Grundlage entzogen - nämlich die Binnenkonsumkraft.



Allerdings darf man annehmen, dass dem durchaus gebildeten Herrn Macron dieser "Nebeneffekt" nicht durch Unachtsamkeit ins Konzept geraten ist, sondern dass er gerade ein wesentliches Ziel ist.

Denn diese Strategie ist unter dem (euphemistischen) Namen "interne Abwertung" schon ziemlich lange "en vogue". Für die Bundesrepublik lässt sich nachweisen, dass schon in den 1950er Jahren eine (relative) Lohnzurückhaltung gepaart mit vielfältigen staatlichen Aussenwirtschaftshilfen (z.B. Hermes-Kredite) die Exportfähigkeit stärken sollte. In einem System, in welchem die (nationale) Währung and die (nationale) Wirtschaft gekoppelt ist, ergibt sich aber der Effekt des Aufwertungsdrucks. D.h. die Handelspartnernationen werden politisch oder wirtschaftlich eine Aufwertung der Währung der Exportnation erzwingen, die dann - zumindest für eine Weile - wieder zu "Waffengleichheit" führt: Für die Partner der Exportnation werden deren Waren teurer und damit unattraktiver, während die eigenen Waren wieder besser absetzbar werden.

Die EU leistet sich aber seit der Jahrtausendwende ein Währungsmodell namens EURO, dass den beteiligten Volkswirtschaften genau jenen Hebel der Auf- oder Abwertung aus der Hand genommen hat. Und - zufällig oder nicht - die deutschen Wirtschafts- und Politikeliten haben als erste erkannt, dass konsequente "interne Abwertung" das Exportvolumen nicht nur mit den EU-Ländern, sondern auch nach ausserhalb steigern kann. Denn bezogen auf die deutschen Produkte ist der EURO ja deutlich unterbewertet. Dieses (verzerrte) Verhältnis macht dann deutsche Autos z.B. in den USA so attraktiv - weitaus mehr als die vermeintliche oder wirkliche technische Überlegenheit (die in den 1960er, 1970er und 1980er-Jahren vermutlich sogar eher gegeben war).



7.

Müssen wir uns aber überhaupt Sorgen machen, wenn nach Deutschland nun auch Frankreich (endlich?) den Weg zur "Exportnation" beschreitet? Was sollte überhaupt schlecht an Export sein?

Nun - als ein phönizischer Händler einem gallischen Druiden ein geheimnisvolles "petra-oleum" verkaufte, war das natürlich auch schon Export. Und dieses Geschäft war vermutlich nicht nur für die Asterix-Geschichte gut, sondern auch im tatsächlichen Handelsleben vor 2000 Jahren. Denn der Händler bekam für sein petra-oleum natürlich entweder einen schönen (Geld-)Taler, oder aber er tauschte es gleich in ein gallisches Produkt ein - beispielsweise Wein. Wenn auf diese Art Waren aus Land A in Land B "nachgefragt" wurden und mit gleichwertiger Ware aus Land B getauscht wurden, war das in aller Regel für beide Seiten vorteilhaft.

Diese Idee des Gleichgewichts ist übrigens in der alten Bundesrepublik als so essentiell beurteilt worden, dass sie sogar als ein Hauptziel der Aussenwirtschafts-Politik definiert wurde, nämlich im sogenannnten "Stabilitäts- und Wachstumsgesetz" von 1967, dass eigentlich noch immer in Kraft ist (nur halten will sich niemand mehr daran). Die Exporte an sich (in welcher Höhe auch immer) sind danach nicht schädlich, wenn sie von Importen in annähernd gleicher Höhe ausgeglichen werden.

Wenn aber ein Land - wie eben Deutschland - dauerhaft mehr exportiert als importiert, ergeben sich offensichtlich belastende Sachverhalte:

Während die Exportüberschussnation Beschäftigung aufbaut (Arbeitslosigkeit sinkt), ist es im "Defizitland" spiegelbildlich: Es werden (relativ) weniger Waren produziert, der Auslastungsgrad sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Genau diesen Effekt konnte man in der Vergangenheit (schon zu Kolonialzeiten) sehen, und man kann ihn heute immer noch bestätigt sehen.

Damit so ein Ungleichheitssystem über längere Zeit hinweg funktioniert, muss das "Defizitland" freilich mitmachen. Entweder scheinbar freiwillig (man könnte die USA nennen), oder unter Gewaltandrohung (wie in früheren Zeiten die Kolonien), oder weil man der Abwehrmechanismen verlustig gegangen ist (heute die EURO-Partner).

Für Deutschland, das muss man klar erkennen, war der EURO also bislang eindeutig ein vorteilhaftes Geschäft - und zwar nicht wegen irgendwelcher touristischen Erleichterungen, sondern weil man mit den Waren auch die Arbeitslosigkeit exportieren konnte.

Aber die Sache hat eben einen doch einen internen Preis: durch die Lohndrückerei sinkt der Binnenkonsum immer weiter ab. Immer schwerer wird es dadurch, wieder zu einem ausbalancierten Aussenhandel zu kommen. Und ob die "Afrikanisierung" der EU-Partner von diesen auch ewig weiter hingenommen wird, ist fraglich.

In Frankreich will also Präsident Macron das deutsche Modell kopieren. Es ist insofern nur konsequent, wenn einige deutsche Unternehmer angesichts einer vermuteten künftigen Erstarkung der französischen Wettbewerbsfähigkeit neue Nullrunden in der Lohnpolitik fordern. Das Rattenrennen nach unten ist eröffnet...


8.

Den wirtschaftstheoretischen Hintergrund für alle "wirtschafts-reformerischen" Politiker - von Thatcher bis Reagan, von Blair bis Schröder, von Merkel bis Macron - bildet der sogenannte Neo-Liberalismus. Von der schwedischen Reichsbank durch die Vergabe der sogenannten Wirtschafts-"Nobel"-Preise tatkräftig gefördert, haben deren Vertreter das wirtschaftspolitische Denken in Universitäten, Think Tanks und Regierungen in den letzten Jahrzehnten fast monopolisiert.

Interessanterweise fusst diese Denkrichtung auf manchmal verblüffend einfältigen Annahmen. Da ist der bedingungslose Glaube an den fast schon religiös verehrten "Markt", das Axiom von den jederzeit umfassend informierten Wirtschaftsteilnehmern, die Verengung auf "supply-side-economics" und folgerichtig die mikro-ökonomische Ausrichtung auf für den Unternehmer (scheinbar) vorteilhafte Bedingungen: Wenn der Unternehmer nach Gutdünken feuern kann, wird er auch wieder (mehr?) Leute anheuern. Wenn er den Lohn drücken kann, werden seine Produkte so billig, dass die erhöhte Nachfrage automatisch neue Arbeitsplätze generiert. Wenn er nur genügend Geld in der Tasche hat, wird er von ganz allein Arbeitsplätze in Massen anbieten.

Die makro-ökonomische Wirklichkeit ist aber anders strukturiert. Da ist gesunkenes Lohnniveau eben auch gesunkene Nachfrage. Da sind die Marktteilnehmer durchaus nicht umfassend über ihre wirtschaftlichen Rahmenbedingungen informiert, und sie begehen immer wieder Fehler (gerade diejenigen, die sich für die allerschlauesten halten - siehe Lehman Brothers).

Und die Unternehmer freuen sich natürlich über jede Auffüllung des "Geldspeichers", aber investieren trotzdem erst dann in neue Produktionsmittel, wenn sie sich davon lukrativen Absatz erhoffen können.

Obwohl doch seit der Jahrtausendwende fast alle europäischen Regierungen ebenso wie die der USA und viele weitere Länder dem neoliberalen Modell folgen, dümpelt das Wirtschaftwachstum dieser Länder seit der Krise von 2007 in niedrigen einstelligen Prozentwerten. Während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit von "erträglich" (USA, D) bis "alarmierend hoch" (F, I, E, GR) einzustufen ist.

Wo ist der Boom, den doch diese beste aller Wirtschaftstheorien eigentlich als natürliches Ergebnis vorweisen können müsste?

Bei einer so erschütternd schlechten Bilanz muss man sich fragen, wie die "wiz-kids" des Neo-Liberalismus überhaupt diesen ungeheuren Einfluss gewinnen konnten.



9.

Teil der Lösung dieses Rätsels liegt in der Faszination, die die Mathematisierung auf alle geisteswissenschaftlichen Fächer ausübt. Statt von den Kollegen der "exakten Wissenschaften" milde als "nette Schwafler" abgetan zu werden, wollte man ebenso Theorien von mathematischer Schönheit und Stringenz entwerfen. Für die Wirtschaftwissenschaftler war diese Versuchung besonders gross, da man ja sozusagen natur-notwendig mit Zahlen zu tun hatte.

Und unter den verschiedenen Schulen, die sich nun mit immer mathematischeren Modellen um die Gunst der Aufmerksamkeit der Universitätsverwaltungen bemühten, waren die Neo-Liberalen mit die fleissigsten.

Dabei darf man durchaus annehmen, dass unter den mannigfach erarbeiteten Theorien und Modellen der Neo-Libs auch solche sind, die gewisse Teilbereiche des Wirtschaftslebens "richtig" beschreiben, vielleicht etwa die Kursbewegungen an der Chicagoer Warenterminbörse. Allerdings sind die Prognosen zu den Kern-Parametern der Volkswirtschaften (Auftragslage, BIP, Beschäftigung etc.) weiterhin so unexakt wie je.

Von einer rechtzeitigen Diagnose oder Prognose von Wirtschaftskrisen ganz abgesehen - von den Mainstream-Ökonomen hat niemand die Krise von 2007/2008 kommen sehen!

Der andere, vermutlich wesentlichere Grund für den Erfolg des Neo-Liberalismus auf dem "Markt der Theorien" dürfte woanders liegen.



Gerade in den USA ist ja die universitäre Forschung (jenseits von Rüstungstechnik) stark von privatwirtschaftlichen Sponsoren abhängig. Ohne diese können i.d.R. keine Professorenstellen ausgeschrieben und keine Institute ausgerüstet werden. Im Wettlauf um die Gunst der Sponsoren hatten aber die Neo-Liberalen einen gewichtigen Vorteil: Die aus den Theorien abgeleiteten Haupt-Forderungen wie De-Regulierung, Senkung der Staatsquote, Steuersenkung, Lohn-"Moderation" (=Senkung) etc. waren fast deckungsgleich mit dem, was die Unternehmerverbände schon immer wollten.

Damit waren die Neo-Libs schnell die Haupt-Nutzniesser der privaten Fördermittel. Ob die so gewonnenen Förderer die abstrakteren Theorien der neo-liberalen Nobelpreisträger überhaupt verstanden, war dafür irrelevant. Vielmehr wurden die neo-liberalen Ökonomen gerade auch als Mittel im politischen Kampf eingesetzt, um die schon immer gewollten, eigentlich restaurativen *2 Massnahmen - jetzt als "Reformen" verkleidet - durchzusetzen.

Und es wurden auch speziell für diesen Meinungskampf neue Organisationen geschaffen, die die neo-liberale Heilslehre dem allgemeinen Publikum, aber vor allem den politschen Entscheidungsträgern in die Köpfe hämmern sollten.

Hier in Deutschland könnte man dazu z.B. die INSM ("Iniative für Neue Soziale Marktwirtschaft") oder die Bertelsmann-Stiftung nennen.




10.

Von manchen linken Kommentatoren wird geäussert, dass man "den Kapitalismus vor den Kapitalisten schützen" müsse.

Das ist wohl insofern richtig, als der angewandte Neo-Liberalismus keine gute Bilanz aufweist. Wie schon in Absatz 8 ausgeführt, ist der heilige Gral aller konventionellen Wirtschaftstheorie, beständiges Wirtschaftswachstum, für die "Länder des freien Westens" in immer weitere Ferne gerückt. Es lässt sich m.E. sogar beobachten, dass die Länder, die sich am engsten an die neoliberalen Rezepte halten, meist schlechter dastehen als jene, die (auch) alternative Methoden anwenden - momentan z.B. in der EU am Unterschied zwischen Portugal und Griechenland ablesbar.

Eigentlich gar nicht überraschend, dass eine Ideologie, die Löhne immer nur als Kosten, Nachfrage als aus dem Angebot selbst-generierend und den Staat nur als Störfaktor betrachtet, gar nicht das volle Potential der Volkswirtschaften aktivieren kann.

Machen wir eine Beispielrechnung für einen "Otto-Normal-Unternehmer". Dessen Unternehmen wachse immer schön im Gleichklang mit dem BIP. Wenn er im Jahre 2015 eine Million Euro als Rohgewinn verbucht hat, so werden daraus im Jahre 2016 (bei der für D ausgewiesenen BIP-Steigerung von 1,77%) EUR 1'017'700. Wenn der "Fiskus" davon 45% als Steuer kassiert, so bleiben unserem Muster-Unternehmer rund EUR 560'000.


Eine andere, aktivere Wirtschaftpolitik könnte das BIP aber vielleicht um 4% steigern (der 2016er Wert für Israel). Der Rohgewinn läge dann also bei EUR 1'040'000, nach Steuern blieben EUR 572'000.

Eine staats-autoritäre Wirtschaftpolitik nach der Art von China könnte das BIP vielleicht sogar um 6,6% (der dortige Wert) steigen lassen. Entsprechend läge der Rohgewinn bei EUR 1'066'000 oder nach Steuern bei rund 586'000. In diesem Fall könnte der glückliche Unternehmer sogar eine Anhebung der Steuerlast auf 47% verschmerzen, mit EUR 565'000 hätte er immer noch mehr in der Tasche als im ersten Fall.

Diese Zahlenspiele werden aber vermutlich keinen Unternehmer dazu bewegen, die Rückkehr zu keynesianischer Wirtschaftspolitik zu fordern. Obwohl es ja im Rechenbeispiel durchaus Sinn machen würde. Da sind wir wieder beim Unterschied zwischen Mikro und Makro. Sein mikro-ökonomischer Blick auf die Zahlen sieht eben anders aus: auf ein möglicherweise erzielbares höheres Wirtschaftswachstum kann er bestenfalls spekulieren, eine für das nächste Jahr angekündigte Steuersenkung oder einen günstigen Lohnabschluss kann er aber sofort in seine Gewinnrechnung einsetzen.

Insofern macht es wenig Sinn, auf Regierungsebene auf mikro-ökonomisch fixierte Berater zu setzen. Die Besetzung der sogenannten "Wirtschaftsweisen" oder die Namen der wirtschaftspolitischen Berater der Kanzlerin (Ackermann, von Pierer etc.) weisen aber eher auf das Gegenteil hin.



11.

Dass die Rabulistik der gerade jeweils angesagten "TV-Ökonomen" wie z.B. Prof. (Un-)Sinn meist auf schwachen Füssen steht, zeigt m.E. dieser Vortrag von Prof. Flassbeck zur Eurokrise an der FU-Berlin aus dem Jahre 2015. Ich kann nur empfehlen, sich die rund 90 Minuten Zeit zu nehmen. Für die von Prof. Flassbeck intensiv genutzten "sektoralen Finanzsalden" findet übrigens die englischsprachige Wikipedia die schöne Formulierung "all these relationships hold as a matter of accounting and not as a matter of opinion" - sie sind also nicht Resultat irgendeiner ökonomischen Weltanschauung, sondern schlichter, altmodischer Buchführung. Und allein der Blick auf diese Finanzsalden zeigt, dass die von den Mehrheits-Abgeordneten des Deutschen Bundestages (in einem Akt von Selbst-Verstümmelung?) in das Grundgesetz gehobene "Schuldenbremse" ökonomischer Unfug ist.





In diesen letzten Tagen vor der Bundestagswahl ist eine Stellungnahme dazu natürlich irgendwie Pflicht. Mit dem Text "Fünf Gründe, warum anständige Menschen Frau Merkel nicht untertützen können" habe ich auf eher moralische Positionen abgehoben. Aus naturgemäss ganz anderer Perspektive hat sich die Redaktion von MAKROSKOP die Wahlprogramme der wichtigsten Parteien vorgenommen und sogenannte "Wahlprüfsteine" erstellt. Diese kann ich ebenfalls zur Lektüre empfehlen.



(20. September 2017)




*1 Volker Pispers klärt hier nicht nur über "bretto und nutto" auf (Video von 2007, immer noch erhellend): www.youtube.com

*2 man könnte auch reaktionär sagen...