Der "Brexit" 3 Jahre nach dem Votum




1. In Deutschland belegt der sogenannte "Brexit", also der per Volksabstimmung entschiedene Austritt Grossbritanniens aus der EU (European Union), wieder vordere Plätze in der medialen Darstellung, nachdem es zweieinhalb Jahre lang scheinbar nichts davon zu vermelden gab. Die Substantive "Chaos" und "Drama" fehlen dabei in fast keiner Überschrift bzw. Anmoderation, und der deutsche Besserwisser kann sich aufs Beste über die "dämlichen Briten" und Ihre "unfähigen Politiker" echauffieren.

Es gibt aber auch gehaltvolle Kommentare und Analysen dazu, beispielsweise auf Makroskop ("No-deal Brexit!").

Auch auf den immer lesenswerten "Nachdenkseiten" ist am 2. April ein sehr fundierter Artikel von Winfried Wolf erschienen ("Der Brexit, die EU und ein Plädoyer für Demokratie"), dem ich vollinhaltlich zustimmen kann. Ungewöhnlicherweise sah sich der Senior-Herausgeber der Nachdenkseiten, Albrecht Müller, veranlasst, diesen Artikel noch am selben Tag mit einer Gegenrede "einzurahmen": "Der Brexit soll ein fortschrittliches Projekt sein? ...". Dieser Vorgang ist es m.E. wert, etwas genauer betrachtet zu werden.



2. Ohne Zweifel hat Herr Müller recht, dass der Brexit von den wenigsten überhaupt als "Projekt" aufgefasst wird, vermutlich sogar von den meisten sogenannten "Brexiteers" auf der Insel selbst. Tatsächlich hat der Brexit ausgesprochen restaurativen Charakter, denn er will ja (zumindest hoheitsrechtlich) einen "status quo ante" wiederherstellen, nämlich den völkerrechtlichen Status Grossbritanniens, wie er vor dem EU-Beitritt gegeben war. Im Gegensatz dazu verbinden wir mit "Projekt" typischerweise etwas in die Zukunft weisendes, oft genug banale Sachen ("mit den neuen Kartenterminals werden wir kontaktlose Zahlung anbieten können"), manchmal auch umfassende gesellschaftliche Neuorientierungen ("mehr Demokratie wagen").

Und natürlich ist Herrn Müller dieser "projektlose" Zustand des Brexits besonders deshalb aufgefallen, weil als Gegenbegriff das "europäische Projekt" steht, welches er nicht gefährdet sehen möchte. Nur - was ist das "europäische Projekt"? Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, dass die "allwissende" Wikipedia nun ausgerechnet zu diesem Begriff keinen Artikel aufführt. Und in der Praxis sehen wir ja auch, dass dieser Begriff von verschiedensten Seiten mit ganz verschiedenen Inhalten gefüllt wird. Möchten die einen zurück zu den Idealen der "europäischen Gründerväter" (Schumann, de Gaspari etc.), so wollen andere einen neuen "europäischen Gesellschaftvertrag" mit Fundierung nicht mehr auf Nationen, sondern Regionen (z.B. Ulrike Guerot). Und die EU-Eliten in den Kommissionen, (also z.B. Juncker, Selmayr, Weber oder Mogherini) sind ganz klar unterwegs zu einem möglichst zentral gelenkten Superstaat. Herr Müller bemängelt also die Abwesenheit von politischer Vision bei den Brexiteers, während auf der Gegenseite geradezu ein Übermass an "Visionsmöglichkeiten" angeboten wird.

Dabei übersieht Herr Müller, dass die Projekt-Metapher ganz klar eine Schutzfunktion hat, denn ein "Projekt" ist halt noch nicht fertig, also darf man den "Projektbetreuern" auch nicht böse sein, wenn dieses oder jenes noch nicht so recht funktioniert. Und in der Steigerung zum "europäischen Friedensprojekt" wird der Propagandacharakter ganz klar, denn noch nie war die EU weiter entfernt von aktiver Friedenspolitik als heute, wo in jeder zweiten Sontagsrede der herrschenden EU-Politiker das "Friedensprojekt" betont wird, aber gleichzeitig an immer neuen Militärkonzepten ("PESCO") und Rüstungsprojekten gearbeitet wird.



3. Meine Vermutung ist, dass Herr Müller deshalb so "allergisch" auf die Analyse Winfried Wolfs reagiert, weil eine ganz tiefsitzende Wunschvorstellung davon berührt wird, nämlich die Vorstellung von einem solidarischen, einigen und friedensstiftenden Europa anstelle der Nationalstaaten, die in der Vergangenheit ja unzweifelhaft viele Kriege ausgefochten haben. Dieser Wunsch ehrt Herrn Müller, aber er beruht auf dem Irrtum, dass die kriegerische Vergangenheit ursächlich mit der Verfasstheit in Nationalstaaten zu tun habe. Ich habe schon mehrfach auf diesen Seiten dargelegt, dass dem - historisch belegbar - nicht so ist (z.B. im Text "8 populäre Irrtümer über die EU"); ich möchte es hier nicht wiederholen. Und weiter übersieht Herr Müller, dass es ja bei der Brexit-Abstimmung 2016 nicht um irgendwelche hypothetische Europa- oder EU-"Visionen" ging, sondern um die EU, wie sie jetzt ist - und bestenfalls noch um eine Abschätzung der kurzfristigen Entwicklung derselben.

Damit sind wir bei der Abstimmung selbst, und wenn Herr Müller die 52% "Leave"-Stimmen für ein bisschen zufällig hält, kann man das verstehen. Gewiss wäre z.B. eine Zweidrittelmehrheit überzeugender gewesen. Allerdings - mit Zufallsmomenten ist bei den meisten Wahlen zu rechnen - wenn es etwa am 28.09.1969 etwas weniger regnerisch *1 gewesen wäre, hätte es möglicherweise nicht zur ersten sozial-liberalen Koalition "gereicht", und Willy Brandt wäre nicht Kanzler geworden.

Vergleicht man das Brexit-Votum mit anderen Wahlen, so hat es eigentlich sogar mehr "Gewicht" als üblich. Zum einen war die Wahlbeteiligung sehr hoch, zum anderen war die Fragestellung absolut klar: In der EU bleiben oder sie verlassen. Noch dazu hatte das Remain-Lager erheblichen Rückenwind durch die Presse und Medien (meist für "Remain" werbend) und durch Prominente: Ob Herr Müller nicht zu Zeiten von Willy Brandt auch gerne einen leibhaftigen US-Präsidenten als Wahlkampfunterstützer gehabt hätte, wie es die "Remainer" mit dem (damals beliebten) Barack Obama hatten? Insofern fast schon erstaunlich, dass es dann doch eine klare Mehrheit für LEAVE gab.

Weiter stört sich Herr Müller daran, dass unter den Brexit-Befürwortern so viele rechte, national- oder gar nationalistisch argumentierende Politiker gab und gibt. Diese politischen Konkurrenten mögen "unappetitlich" sein, wenn sie aber (aus vielleicht anderen Gründen) zur selben Schlussfolgerung in einer Sachfrage kommen, darf man deshalb die Position nicht aufgeben. Als drastisches Beispiel möge der Begriff vom "Diktatfrieden von Versailles" dienen, den Hitler jahrelang als Kampfbegriff nutzte. Faktisch hatte er hier aber recht, es war im genauen Wortsinne ein Diktatfrieden (freilich liess Hitler den wichtigeren Teil der Geschichte eben aus, und das war, wie es denn überhaupt zu diesem "Versailles" gekommen war). Dass die "wackeren Demokraten" der bürgerlichen Parteien den Begriff lieber überhaupt nicht aufgriffen, war mit ein Grund für den zunehmenden Vertrauensverlust, den diese Politiker dann erlitten, mit dem Untergang der Weimarer Republik als Endresultat.



4. Wie Herr Müller bin auch ich mit einer über Jahrzehnte gepflegten Grundstimmung "Europa ist gut" aufgewachsen, und als nur natürliche Verlängerung dieses positiven Europa-Gefühls erschienen EWG, EC und schliesslich EU doch eigentlich "prinzipiell gut". Andererseits ist doch spätestens seit der Machtübernahme durch die "Troika" in Griechenland klar, dass es um dieses EU-Europa - von den Kernstaaten vielleicht abgesehen - gar nicht gut bestellt ist (wie schlecht, legt Winfried Wolf ja auch klar dar).

Die Unzufriedenheit an der EU wird auch von den Mainstreammedien wahrgenommen. Und der Wunsch nach einer Verbesserung, nach Reformen wird dann auch nicht nur von den Medien, sondern von allen fast allen *2 im Bundestag vertretenen Parteien vorgetragen - ja sogar die Jubeltruppe von "Pulse of Europe" will die EU reformieren: "Die Europäische Union muss erhalten bleiben, damit sie verbessert werden kann." *3

Wie hat schon Karl Valentin gesagt: "Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht." Den reformerischen Eifer, den auch die LINKE bei diesem Thema an den Tag legt, in allen Ehren - aber die EU der Gegenwart ist über die Verträge, die Organisationen und die Machtbezüge so unumkehrbar an neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen gebunden, als sei im grossen EU-Mechanismus eine Sperrklinke aktiv, die jede (politische) Richtungsänderung sehr effektiv verhindert.

Im Übrigen verkennen alle, die von Reformen der EU in Richtung auf mehr Sozialstaat und aktive Friedenspolitik etc. träumen, die gegenwärtigen Machtverhältnisse. Warren Buffetts Satz vom Klassenkrieg, den seine Klasse (die der Reichen) gewinne, ist eben allzu wahr. Oder anders formuliert: Es geht gar nicht darum, die Staaten und die (EU)-Union mit grossem Aplomb in eine sozialere oder gar "sozialistische" Zukunft zu führen, sondern darum, die Reste von Sozialstaatlichkeit (und Friedensverpflichtung) zu verteidigen, die noch nicht vom Neo-Liberalismus bzw. Oekonomismus überrollt worden sind.

Und in diesem Sinne sind die (National-)Staaten eben, und hier gebrauche ich bewusst die militärische Metapher, Verteidigungsbastionen gegen Privatisierung, Militarisierung und so weiter. *4



5. In der Samstagsausgabe des Daily Telegraph vom 30.03.2019 - dieses ja als konservativ geltenden und eher dem "remain"-Lager zuneigenden Blattes - finden sich neben einer balkendicken Titelzeile "BREXIT FIASCO" - überraschenderweise eine Reihe kluger Berichte und Kommentare zum Brexit-Thema. Natürlich kann ich mit so manchem Resumee nicht übereinstimmen ("We need a Thatcher or a Reagan"), aber die Analyse etwa eines Charles Moore berührt viele valide Punkte.

So über Theresa May: "...allowing the EU to dictate [the] terms...", "...giving away Northern Ireland...", "...sticking blindly to the same useless deal...". Über die Abgeordneten (die "MPs"), von denen rund 2/3 "Remainer" waren und sind: ""When they did not like what the people decided, they grabbed those powers [of legislation] back again." Und er folgert: "No deal remains the legal, correct and doable option.". Und er sieht die Gefahr, dass "...Parliament will have achieved the majestic feat of having to go to the EU and say: 'Tell us what to do, and we'll do it'" *5.

Ein anderer Kommentator wundert sich, warum überhaupt eine so feste Pro-EU-Politikerin wie Mrs. May sich berufen fühlte, einen Brexit "abzuliefern" ("We will deliver Brexit"). Und warum sie zu den vielleicht wichtigsten Verhandlungen, die das Vereinigte Königreich seit dem zweiten Weltkrieg zu führen hatte, einen simplen Beamten entsandte.



6. Wie gesagt, kann ich Herrn Müller und seine spontane Ablehung des Wolf'schen Textes in vielen Bereichen verstehen. Was mich aber verblüfft ist die Tatsache, dass ausgerechnet er nicht erkennt, dass es sich hier um die Umsetzung eines Planes (oder eben einer Kampagne, wie Müller dies sonst benennt) handelt, der a) Grossbritannien nach Möglichkeit in der EU halten und b) die Bevölkerungen in anderen EU-Mitgliedsstaaten von jeglicher Nachahmung abschrecken soll.

Dass die EU-Eliten, aber auch die zum Grossteil pro-EU ausgerichteten Eliten in Grossbritannien in dieser Richtung vorgehen würden, war mir klar, sobald das Brexit-Votum verkündet wurde. Wie es jetzt umgesetzt wurde, muss man neidlos als hohe Kunst der Propaganda anerkennen. Erst ein zweieinhalb Jahre dauerndes Einlullen, dann eine zunehmend hektischer und schliesslich allseits als "Chaos" wahrgenommene Abfolge von Kabinettssitzungen, Abstimmungen, Rücktritten, Konsultationen, Gipfeltreffen.

Die Absicht war klar: Nicht nur den Briten, sondern auch allen anderen EU-Völkern musste klargemacht werden, dass ein Austritt nicht nur ungemein kompliziert ("über 1000-seitiger Vertragsentwurf"), überaus wirtschaftlich gefährdend ("das BIP wird sinken, sinken, sinken") sein und darüberhinaus "unlösbare Probleme" (die "neue Nordirlandfrage") verursachen würde. Und den Briten speziell wurde ein fast schon zirkusreifes Programm von Rücktritten, Doppel- und Dreifachabstimmungen über ein und dieselbe Vertragsvorlage und wilden ad-hoc-Koalitionen ("remainer" von Labour und Tories, DUP und SNP, neue Fraktionen aus Abtrünnigen von allen Seiten etc.) geboten. Dass die einzig halbwegs sinnvolle Option - neue Unterhauswahlen mit dem Ziel der Bildung einer neuen Regierung - dann immer wieder abgeschmettert wurde, stellt dem britischen Parlament dann wahrlich kein gutes Zeugnis aus.

Auch das gemeinsame Ziel der Eliten diesseits und jenseits des Kanals stellt sich immer klarer heraus: Es wird um Verschiebung des Austrittdatums gebeten, erst in kleinen Inkrementen und schliesslich in Zeiträumen von Monaten und Jahren. De-facto also ein nicht-Austritt, vermutlich bemäntelt mit einer weiteren Kommission, die ein "endgültiges" Brexit-Dokument verhandeln soll (und die dann aber nach Jahren immer geräuschloser werdender Tätigkeit aufgelöst werden wird). Faktische Aufhebung des Brexit-Votums durch Vertagung also.

Belege für diese These? Man schaue sich einmal die Vorbereitungen bzw. die Nicht-Vorbereitungen auf beiden Seiten an. Regierungen, die für jeden Besuch eines US-Präsidenten vorsorglich ganze Städte abriegeln (inklusive zugeschweisster Kanaldeckel), haben sich offenbar bislang nicht bemüht, für das angeblich bevorstehende Grenz-Chaos auch nur einen zusätzlichen Zöllner einzustellen, von der Errichtung von Abfertigungsanlagen oder wenigstens der Ausweisung von entsprechenden Flächen ganz abgesehen.



7. Das selbstinszenierte Chaos in London wurde dann geschickt benutzt, um eine Art "Schein-Solidarität" der Rest-EU-Staaten anzufachen: "Wir müssen jetzt zusammenstehen, um es den blöden Briten zu zeigen!"

Dass die Arroganz, die die Herren Juncker und Barnier da gegenüber der britischen Regierung (und eigentlich dem Volk) zeigten ("Es gibt nur diesen Deal, oder keinen Deal!"), möglicherweise einmal von EU-Herrscherrn der Zukunft auch auf Deutschland angewendet werden könnte, dürfte den meisten Landsleuten noch nicht bewusst sein. Ein Rezept für einen echten Bundesstaat der Zukunft kann diese Art Umgang aber keineswegs sein - aber das hatte man ja schon am Verhalten gegenüber den "Südländern" beobachten können.

In der schon erwähnten Ausgabe des "Daily Telegraph" erscheint auch eine Seite mit Leserzuschriften. Auch wenn die Zielrichtung der Empörung uneinheitlich ist ('mal ist es eher die Regierung, 'mal eher die Opposition oder die Abgeordneten allgemein) - ein Grundtenor ist erkennbar: Eine wachsende Verachtung der Politikerkaste.

Es wird gerne vom "Vertrauensverlust" der Bevölkerungen in Ihre Politiker gesprochen - hier ist er greifbar und auch verstehbar. Ist auch dies ein Ziel der Elitenkampagne "Brexit-reversed" gewesen? Da bin ich mir nicht sicher. Mindestens ist es ein Kollateralschaden, der von einigen aus diesen Kreisen ganz gern hingenommen wird - bereitet er doch den Boden für eine Machtübernahme durch angeblich neutrale "Experten" oder Technokraten vor, für die EU-Brüssel oder das EU-Regiment in Griechenland ja schon ganz gute Blaupausen sind.

Nigel Farage zitierte neulich eine Umfrage, wonach über 90% derjenigen, die 2016 für LEAVE stimmten, den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen als "Verrat" ansehen. Und wenn es so kommt, wie im vorigen Kapitel skizziert, dann werden sie auch vollkommen recht damit haben.

Derselbe Nigel Farage hatte übrigens am Tage der Verkündigung des Brexit-Votums freudestrahlend verkündet "…and we will call it Independence Day!". Der 29. März ist verstrichen, und es steht zu befürchten, dass Grossbritannien seine Unabhängigkeit doch nicht wiedererlangen wird.



8. Ganz gewiss bin ich mit Albrecht Müller "für Europa", und dies ist heute prinzipiell genauso richtig wie vor 40, 30 oder 20 Jahren. Nur für EU-Europa kann man heute leider nicht mehr sein.


(7. April 2019)



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9. Nachtrag vom 13.04.2019:


Nun, nachdem unsere Kanzlerin den Briten auf dem letzten EU-Gipfeltreffen vom 10. April so überaus huldvoll einen "Aufschub" für den Brexit bis zum 31. Oktober gewährt hat *6, dürfte klar sein, dass die von mir in Kapitel 6 skizzierte Lösung "Faktische Aufhebung des Brexit-Votums durch Vertagung" das angestrebte Ziel der Eliten in der EU ist, und vermutlich werden sie dies auch durchsetzen können. Erinnert sich noch jemand an die "eiserne Kanzlerin", die in der Griechenland-Krise fast täglich die Losung "man muss sich an die Regeln halten" ausgab? Die einzige Regel, die im Zusammenhang mit dem Artikel-50-Austritt Grossbritanniens zu beachten gewesen wäre, war eben das vereinbarte Austrittsdatum 29. März - entweder mit irgendeiner vertraglichen Anschlusskonstruktion, oder in Abwesenheit derselben eben der Austritt ohne Vertrag oder sogenannten "Deal" (kleine Rätselfrage für juristisch Interessierte: Bestand die EU im Zeitraum vom 30.März bis zum 9.April eigentlich aus 28 oder 27 Mitgliedsstaaten?).


Aber für politische "Titanen" vom Schlage Merkels oder Macrons gelten solche kleinlichen Regeln natürlich nicht, da gewährt man eben huldvoll Verlängerungen (auf welcher rechtlichen Basis eigentlich?), nicht ohne den Aufsässigen auf der Insel allerlei gute Ratschläge und Ermahnungen ("...jetzt müsst ihr aber wirklich zu Potte kommen...") mit auf den Weg zu geben.


Und Mrs. Theresa May, mit der man doch auf allen "Gipfeln" so überaus kollegial umgeht, hat nun allerdings eine undankbare Aufgabe. Die Premierministerin, die politisch eigentlich ebenso tot ist wie etwa Neville Chamberlain *7, soll also einen "Deal" durchs Unterhaus bringen, den die Abgeordneten dort schon dreimal mit grosser Mehrheit abgelehnt haben, und an welchem Brüssel kein Jota mehr ändern lassen will. Wahrscheinlicher ist wohl, dass entweder die Abgeordneten zu einem resignierten "...wenn's sooo kompliziert ist, dann bleiben wir eben doch in der EU..." gebracht werden sollen, oder aber ein zweites Referendum mit noch mehr pro-EU-Propaganda auf den Weg gebracht werden soll. Für das diesbezüglich notwendige massenhafte EU-Fähnchen-Schwingen werden die Wahlen zum EU-Parlament eine gute Einübung sein. Dass die EU-Eliten die Teilnahme der britischen Bevölkerung an der EU-Wahl ohne Zögern hinnehmen, obwohl sie ja in beide Richtungen nur ein Hohn *8 ist, zeigt dann auch überdeutlich, welche "quantité négligeable" das EU-Parlament eigentlich ist.


In den letzten Märztagen griff Mrs. May auf eine merkwürdige Form der politischen Erpressung gegenüber den Abgeordneten der eigenen Partei zurück: "Wenn ihr dem Deal zustimmt, trete ich zurück!". Mit dem eigenen Rücktritt zu werben, um ein offensichtlich unakzeptables Vertragswerk zu retten, ist wirklich der Tiefpunkt einer politischen Karriere. Trotzdem soll Mrs. May, nach den Äusserungen ihres Finanzministers Hammond, "bis zum umgesetzten Brexit" im Amt bleiben. Da die Strategie offenbar Brexit-Vertagung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag (oder aber komplette Absage) ist, würde Frau May die Schmach eines Rücktritts also erspart bleiben...


Vielleicht ungewollt hat ZEIT online für einen Artikel zum Thema ("EU-Sondergipfel...") eine recht passende Überschrift gefunden: "Zum Bleiben verdammt".


(13. April 2019)









*1 Nach einer in der "alten" Bundesrepublik gerne zitierten Faustregel sollte schlechtes Wetter gut für die SPD sein ("weil die SPD-Wähler immer zur Wahl gehen"), während sich gutes Wetter besser für die CDU auswirken sollte ("weil die CDU-Wähler dann gerne einen Spaziergang zur Wahlkabine machen").


*2 Früher wollte die AfD ganz explizit "raus aus dem Euro" - heute ist es um dieses Thema recht still geworden. Da ja die AfD erkennbar keine "Programmpartei" ist, erspare ich mir die Mühe, das aktuelle AfD-Programm dahingehend zu untersuchen. Sollte es je zu konkreter Machtbeteiligung kommen, wird die AfD ohnehin rein opportunistisch agieren.


*3 Auch so kann man den Zweck der EU begründen: Wäre sie nicht so grottenschlecht organisiert, könnten wir garnicht so schön daran herum-"verbessern"...


*4 Eine andere Verteidigungsbastion sind die Gerichte, allerdings ist dieser Pfad mittlerweile mit Vorsicht zu geniessen. Der Journalist Norbert Haering, der über mehrere Instanzen sein Recht einzuklagen versucht, die Rundfunkgebühren bar zu bezahlen, hat Ende März einen Bescheid des Bundesverwaltungsgerichts erhalten (siehe www.norberthaering.de). Interessanterweise sah sich das oberste deutsche Verwaltungsgericht nicht imstande, einen Paragraphen des Bundesbankgesetzes von überwältigender Klarheit ("§14 "Auf Euro lautende Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel." auf den Fall anzuwenden, sondern verwies die Causa an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur gnädigen Überprüfung, ob da u.U. nicht ein Konflikt mit EU-Recht anzunehmen sei...


*5 Übersetzungen:

"We need a Thatcher or a Reagan" - Wir brauchen eine Thatcher oder einen Reagan.

"...allowing the EU to dictate [the] terms..." - .. liess sich von der EU die Bedingungen diktieren...

"...giving away Northern Ireland..." - ...gab [die Hoheit] über Nordirland [fahrlässig] auf...

"...sticking blindly to the same useless deal..." - ...blieb stur beim unsinnigen Abkommensentwurf...

"When they did not like what the people decided, they grabbed those powers [of legislation] back again." - Als das Volk eine Wahl traf, die ihnen nicht gefiel, rissen sie die legislativen Rechte wieder an sich.

"No deal remains the legal, correct and doable option." - Ein Brexit ohne Abkommen bleibt die rechtlich schlüssige, korrekte und machbare Möglichkeit.

"...Parliament will have achieved the majestic feat of having to go to the EU and say: 'Tell us what to do, and we'll do it'" - … das Parliament wird die wahrhaft majestätische Erniedrigung erreichen, dass man zur EU wird gehen müssen und darum bitten 'sagt uns, was wir tun sollen, und wir tun es.'


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*6 Bei diesem Gipfel waren natürlich auch die anderen 26 Staats- und Regierungschefs anwesend, aber ihre Hauptfunktion dürfte (vielleicht mit Ausnahme von Präsident Macron) diesbezüglich ein "Abnicken" gewesen sein.


*7 Neville Chamberlain hatte seine politische Karriere an den erhofften Erfolg seiner "Appeasement"-Poltik geknüpft, deren Höhe- oder eigentlich Endpunkt das berühmte Münchener Abkommen von 1938 war. Als nach dem deutschen Einmarsch in Polen der britischen Regierung nur noch das Zur-Kenntnis-Nehmen dieser Agrression und die Kriegserklärung an das deutsche Reich vom 3. September 1939 übrig blieb, war Chamberlain politisch "tot". Nach ein paar Monaten interner Klärungen (bzw. Machtkämpfe) wurde Winston Churchill am 10.Mai 1940 Premierminister und blieb es für die Dauer des Krieges. Dass Chamberlain, scheinbar gesund, aber schon lange an einer Krebserkrankung leidend, schon im Herbst desselben Jahres wirklich starb, verleiht der Geschichte zusätzliche Tragik.


*8 Für die britischen Wähler ein Hohn, weil sie Abgeordnete in ein Parlament wählen sollen, dem mindestens die Hälfte der britischen Bevölkerung garnicht mehr angehören will. Zur weiteren Verhöhnung auch der britischen "Remainer" soll das Vereinigte Königreich - sogar wenn es den Austritt zurücknehmen sollte - zu einem Mitglied zweiter Klasse werden (so zumindest zahlreiche Äusserungen auf besagtem Gipfel). Aber auch für die Rest-EU-Bürger ein Hohn, weil in einer EU der 27 dann die neugewählten britischen Abgeordneten irgendwie für 5 weitere Jahre "mitgeschleppt" würden (das Stimmrecht mag man ihnen nehmen, aber die Bezüge?).




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