BoJo: Brexit with a Mojo?



1. Der neue Premier


Am 24.Juli 2019 hat Alexander Boris de Pfeffel Johnson, meist kürzer bekannt als Boris Johnson oder noch kürzer als "BoJo", einen seiner Lebensträume wahr machen können: Er wurde zum Premierminister des Vereinigten Königreichs gewählt. Für den britischen Kommentator Finian Cunningham ist damit offenbar die Zeit reif für "send in the clowns" *1, und wohl auch die Mehrzahl der Briten rätselt, wie es dazu kommen konnte, dass eine hauptsächlich als "TV personality" und Klatschpresse-Akteur bekannte Person in das höchste Staatsamt aufrücken konnte. Und scheinbar fügt sich BoJo ja auch bestens in den "Trend", den die Wahlen von Donald Trump in den USA und von Wolodomyr Selenskyj in der Ukraine darstellen - ebenfalls nicht durch konsequente politische Tätigkeit, sondern offensichtlich vor allem durch TV- und Medienpräsenz ins Amt gekommene Personen.


Allerdings unterscheidet sich die Wahl von BoJo doch sehr von der in den USA und der Ukraine: Trump und Selenskyj haben, wie knapp auch immer, allgemeine Wahlen zum Präsidentenamt gewonnen und können dadurch auf die Unterstützung eines substantiellen Teiles des jeweiligen Volkes verweisen. Demgegenüber ist "BoJo" nur von der Mehrheit der Parteimitglieder der Conservative Party zum Vorsitzenden (und damit zum Premier) bestimmt worden, einer nach den quälenden Jahren unter Theresa May erheblich geschrumpften Partei - in Zahlen: rund 92'000 von insgesamt ca. 160'000 "Tories" stimmten für ihn. Überhaupt ist Johnsons Aufstieg nur durch das Fiasko der Politik Theresa Mays erklärbar: Sie hat nicht nur den Wählerauftrag "BREXIT" so gründlich "verbockt", dass sie sich in den Augen Neil Clarks den Titel "schlechteste Premierministerin aller Zeiten" *2 verdient hat. Und offenbar war die Personaldecke der "Tories" so dünn (oder die Bereitschaft, das Debakel zu übernehmen, so gering), dass die schrillste Persönlichkeit gewinnen musste.




2. Grundlagen


In Deutschland herrscht, befeuert von den Mainstream-Medien, ein m.E. sehr verzerrtes Bild vom Brexit, von den Briten und vom ganzen Austrittsprozedere vor. Um das Geschehen überhaupt richtig bewerten zu können, muss wohl erst noch einmal Grundlegendes klargemacht werden.


Basis des "Brexit" ist der Artikel 50 des EU-Vertrages von 2009 (auf Grundlage des Lissabon-Vertrages):


(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus...


Das ist eine, nachgerade im EU-Umfeld, selten eindeutige Bestimmung. Und das macht den EU-Austritt, rechtlich gesehen, absolut vergleichbar mit dem Austritt aus einem beliebigen Verein. Volker Pispers hat (freilich in anderem Zusammenhang *3) darauf verwiesen, dass der Austritt aus einem Verein, der seit dem Beitritt seine Ziele gründlich verändert hat, nur sehr natürlich ist: "Wenn ich einem Sportverein beigetreten bin, weil ich gerne Fussball spiele, der Verein aber mittlerweile nur noch Tennis anbietet, dann werde ich halt austreten."


Nun ist eigentlich unübersehbar, dass der "Verein" namens "Europäische Gemeinschaft", dem Grossbritannien *4 1973 beigetreten ist, sich innerhalb der letzten 40 Jahre gründlich gewandelt hat (und ja nicht grundlos auch den Namen mittlerweile in Europäische Union geändert hat).


Von einer "Hohen Vertreterin für Aussenpolitik" damals keine Spur, ein "PESCO" ("Permanent European Security Cooperation") samt milliardenschwerem Etat hielt niemand für notwendig (waren doch die meisten EG-Länder ohnehin in der NATO und damit militärisch "abgesichert"). Reihenweise sogenannte Freihandelsabkommen auszuhandeln, die eigenen und fremden Grosskonzernen absolut undemokratischen Einfluss auf die Gesetzgebung zuschanzen, wäre der damaligen EG-Führung nicht in den Sinn gekommen, weil sie dann von den Regierungen der Mitgliedsländer prompt in die Wüste geschickt worden wäre. Diese in Geheimtreffen ausgekungelten Abkommen dann noch frech für "nicht zustimmungspflichtig" durch die Mitgliedsländer zu erklären (wie es die EU-Kommission bei CETA tat), wäre dann vollends als ein Stück aus dem Tollhaus betrachtet worden. Die hektische Erweiterung nach Osten, wie sie nach 1990 stattfand, wäre in der "alten" EG wahrscheinlich auf erheblichen Widerstand gestossen.


Was waren denn damals die Themen in der EG? Zum einen ging es weitere Vereinheitlichung vielerlei technischer und Handelsnormen, eine sicher sinnvolle Sache (wenngleich wir auf den EU-einheitlichen Schutzkontakt-Netzstecker immer noch warten...). Immer wieder schlagzeilenträchtig der EG-Agrarhaushalt mit seinen vielfältigen, gelegentlich auftretenden "Butterbergen" und "Milchseen", die allerdings wenigstens den Vorteil hatten, dass man komfortablerweise nur "einen Überfluss und keinen Mangel" *5 zu verwalten hatte. Und dann natürlich die Abwertungs- und Aufwertungs-Debatten - ein sicher nicht einfaches, aber bei so unterschiedlichen Volkswirtschaften schwer notwendiges Werkzeug zur Kontrolle der Handels- und Vermögensströme. Und ein direktes Hineinregieren der Kommission in die Wirtschafts- und Sozialpolitik eines Mitgliedsstaates, wie wir es bei Griechenland in den Jahren nach 2015 gesehen haben, wäre damals undenkbar gewesen.


Überspitzt formuliert, hat die EU des Jahres 2019 (oder 2016) mit der EG des Jahres 1973 etwa soviel zu tun wie Südkorea mit San Marino: Beide Länder haben zwar annähernd die gleiche Bevölkerungsdichte, sind aber ansonsten sehr verschieden...



3. Der Wanderer


Ein Wanderer ist irgendwann des Wanderns müde und setzt sich in einen Bus, der vielleicht nach Westen unterwegs ist. Nach einiger Zeit ist ihm auch die Busfahrt leid, und er verlässt bei der nächsten Haltemöglichkeit den Bus. Sobald er ausgestiegen ist, stehen ihm alle Richtungen der Windrose zur Fortsetzung seiner Wanderung offen. Vielleicht wendet er sich nach Norden, wo ein Gebirgszug das Wandern in klarer Höhenluft verspricht. Er mag sich auch nach Süden wenden, wo er schon das Glitzern des Meeres erahnen kann. Oder er macht kehrt und läuft zurück in das idyllische Städtchen, das der Bus gerade durchfahren hatte, um dort vielleicht über den schönen Wochenmarkt zu streifen.


Gemäss dem schönen Satz der Grafin Dönhoff ("Jeder Vorteil hat seine ihm spezifischen Nachteile") sollte auch klar sein, dass jeder eingeschlagene Weg auch spezifische Gefährdungen beinhaltet. Im Gebirge könnte unser Wanderer in eine Felssspalte stürzen, während er beim Baden im Meer ertrinken könnte. Und im angesprochenen Städtchen könnte er von einem Radfahrer oder Auto umgefahren werden. Wie hoch unser Wanderer die jeweiligen Gefährdungen, aber auch die jeweiligen "Erlebnisgewinne" beurteilt und eben abwägt, können diejenigen, die im Bus verblieben sind, schlecht beurteilen.


Klar ist aber auch, dass unser Wanderer überhaupt erst dann die Auswahl aus den verschiedenen Optionen hat, wenn er aus dem Bus ausgestiegen ist. Wer nicht aus dem Bus aussteigt, ist offensichtlich an den von der Busgesellschaft im Voraus oder aber an den vom Busfahrer ad hoc festgelegten Weg gebunden. Wer wie in unserem Beispiel den Weg "nach Westen" nicht mitmachen will, muss also den Bus verlassen.


Natürlich ist "der Wanderer" eine Metapher für die Brexit-Situation. Und zwar nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern für jeden Staat, der sich zum Austritt aus der EU entschliessen würde. Ob ein Staat überhaupt einen wesentlich anderen (ökonomischen, sozialen, politischen) Kurs als den von der EU verfolgten einschlagen kann, hängt zuvorderst davon ab, dass er wieder die staatliche (oder "nationale") Souveränität wiedererlangt, mithin "aus dem Bus aussteigt". Gewiss birgt jeder von der EU-Politik abweichende Kurs spezifische Gefahren. Dies zu leugnen, wäre unredlich - aber ebenso unredlich ist es, die sich dann eröffnenden Chancen zu leugnen. So müsste eine konsequent sozialdemokratisch agierende Regierung sich vielleicht wirklich auf ein temporär oder längerfristig geringeres Wirtschaftswachstum einstellen, andererseits würde eine deutliche Reduktion der Vermögensungleichheit den Zusammenhalt der Gesellschaft unzweifelhaft stärken.


Es geht also zum einen darum, die Politik der EU und ihren "Generalkurs" einzuschätzen und zu bewerten, zum anderen die möglichen (ökonomischen, sozialen, politischen) Gewinne und "Verluste" eines eigenständigen Kurses zu berücksichtigen.



4. "BoJo" übernimmt


In den Reportagen und Kommentaren der deutschen Mainstream-Medien zur Lage in Grossbritannien finden seit Monaten die Vokabeln "Chaos" oder "chaotisch" plakative Verwendung. Wiewohl in Bezug auf Wirtschaft oder allgemeine gesellschaftliche Lage überzogen, beschreibt es die politische Situation vermutlich richtig. In dieses Chaos hinein wurde also Boris Johnson Ende Juli zum Premierminister gewählt. Seine Kernaussage seitdem ist, dass er zwar wohl neue Verhandlungen angehen, aber den Brexit im Zweifelsfall "no matter what" umsetzen werde, also gegebenenfalls ohne Übergangsvertrag - die berühmte "no-deal"-Option.


Man tut Mr. Johnson wohl nicht unrecht, wenn man davon ausgeht, dass er es sich und seiner Regierung schlicht etwas leichter machen wollte, indem er der Königin die Ausweitung der anstehenden Parlamentspause auf 5 Wochen vorschlug - was diese auch genehmigte. Welche neuen Erkenntnisse oder gar parlamentarischen Iniatiativen hätte denn dieses Parlament liefern können, welches in den vergangenen Monaten alle Vertragsentwürfe (meiner Ansicht nach zu Recht) verwarf und sich ansonsten in einer mehrfachen Blockadehaltung *6 verhakt hatte?


In den Kommentaren, aber auch auf Protestplakaten auf den Londoner Strassen wurde diese erweiterte Pause (die sogenannte"prorogation") schnell als "Coup" gebrandmarkt. Dies ist aber, wenn man der Definition von "Coup" folgt, schlicht Unsinn - bei einem Coup wird eine Regierung auf eine (nach den Regeln des jeweiligen Landes) ungesetzliche Art durch eine andere Regierung ersetzt. Die Regierung war aber vor, während und nach der geplanten Pause dieselbe - wo ist der Coup?


Trotzdem wurde - ein ziemliches Novum in der britischen Geschichte - der "Supreme Court" angerufen, der nach kurzer Beratung diese "prorogation" für ungesetzlich befand. Das ist auch insofern erstaunlich, als die Richterinnen und Richter - anders als ihre Kollegen z.B. in der Bundesrepublik - nicht einfach in der Verfassung nachschauen können, wer wann welche Parlamentsferien von welcher Dauer anordnen darf.


Denn das Vereinigte Königreich hat im Unterschied zur BRD gar keine geschriebene Verfassung. Man kann über die Sinnhaftigkeit eines solchen Zustands im 21. Jahrhundert streiten, aber man muss den Briten zugutehalten, dass ihre Verfassungswirklichkeit nun schon über mehrere Jahrhunderte vielerlei grosse und kleine Krisen überstanden und meist auf zivile Art gehandhabt hat - etwa im 20 Jahrhundert nicht nur die Weltkriege, sondern auch die Loslösung der Kolonien *7.


Ein Kernelement der britischen (und auch US-) Rechtstradition sind "Präzedenzfälle". Wer kennt nicht die typische Szene aus zahllosen US-Gerichtsfilmen, wo der wackere Verteidiger mit den Worten "ich habe den Präzedenzfall" aus seinem Büro stürmt und damit die Gerichtsschlacht fast schon gewonnen hat. Traditionen, Verhandlungen und Präzedenzfälle machen also das Gerüst der britischen Verfassung aus. Allerdings vermute ich, dass es zu der Frage der "prorogation" gar keinen Präzedenzfall geben konnte, allein schon deshalb, weil der Supreme Court in seiner jetzigen Form erst seit Tony Blair existiert. Wenn das so ist, dann hat das Gericht einen Präzedenzfall erst geschaffen. Man darf vermuten, dass die Überlegung, damit den eigenen Machtbereich (den des Supreme Courts) auszuweiten, durchaus eine Rolle spielte.*8



5. Das traurige Parlament


Das Parlament (Unterhaus) konnte also schon im September wieder zusammentreten und hat, sicher auch beflügelt durch den "Triumph" in der Vertagungsfrage, dann auch gleich zwei folgenschwere Entscheidungen getroffen.


Nummer 1 ist die Verabschiedung des sogenannten "Benn Act", den man auch "Anti-No-Deal-Brexit"-Gesetz nennen könnte. Danach soll die Regierung den Austritt aus der EU nicht vollziehen dürfen, wenn bis zum momentanen Leave-Stichtag (31. Oktober) keine Austrittsvereinbarung mit der EU unterzeichnet ist. Wenn kein Übereinkommen mit der EU erreicht ist, wird der Premierminister mit diesem Gesetz dazu verpflichtet, bei der EU um eine weitere mehrmonatige Verlängerung der Mitgliedschaft zu bitten.


Nummer 2 war die Weigerung, dem überraschenden Vorschlag Boris Johnsons zu neuen Unterhauswahlen zuzustimmen. Letzteres hat, da bin ich mir leider sicher, der Labour-Party und ihrem Führer Corbyn viel Vertrauensverlust eingebracht. Hatte nicht derselbe Jeremy Corbyn monatelang der Regierung May den Vorwurf gemacht, ohne reale Legitimation zu handeln, und deshalb Neuwahlen verlangt, um eine Regierung bilden zu können, die nach aussen und innen mit neuer Legitimation Verhandlungen führen könnte? Jetzt, wo Umfragen doch wieder einen Tory-Sieg *9 möglich erscheinen lassen, ist all das vergessen. Es ist schwer, dies anders als hochgradigen Opportunismus zu werten.


Und auch beim Anti-No-Deal-Brexit-Gesetz muss man (schweren Herzens) Johnsons Argumenten folgen: Damit ist jedem Premier eigentlich von vornherein die Möglichkeit genommen, einen inhaltlich anderen, "besseren" Deal auszuhandeln als das, was Frau May nach Hause gebracht hatte. Wer schon zu Verhandlungsbeginn proklamiert, auf jeden Fall das "Produkt" (also den "Deal") haben zu wollen, dem muss der "Verkäufer" (hier also die EU) natürlich keinerlei Zugeständnisse mehr machen. Man stelle sich so ein Vorgehen etwa beim Auto- oder Waschmaschinenkauf vor - dann wird sofort klar, dass dies unsinnig ist.


Schliesslich hat das Gesetz einen Zug ins Irreale, denn natürlich kann man die EU-Verhandlungspartner weder zu einem anderen Deal noch zu einen Aufschub des Austritts zwingen. Wie hatte schon im März dieses Jahres der Kommentator Charles Moore im Daily Telegraph vorhergesagt: "...Parliament will have achieved the majestic feat of having to go to the EU and say: 'Tell us what to do, and we'll do it'" (" … das Parlament wird die wahrhaft majestätische Erniedrigung erreichen, dass man zur EU wird gehen müssen und darum bitten 'sagt uns, was wir tun sollen, und wir tun es.'".


Genau so ist es gekommen! Ein trauriger Zustand für ein Parlament.



6. Machet nur einen Plan...


Irgendwo in der Bibel steht der schöne Satz "...machet nur einen Plan, und er wird zunichte...". Damit kommen wir zur Vorgeschichte des Referendums, die auch einen Gutteil des gegenwärtigen Chaos erklärt.


Tatsächlich sind von den Tory- und Labour-Abgeordneten im gegenwärtigen Unterhaus je rund zwei Drittel "remainer", also gegen einen Austritt aus der EU, und nur rund ein Drittel für "leave". Mit leichten Variationen gilt dieses Verhältnis von pro-EU-Vertretern und sogenannten "EU-Skeptikern" in Grossbritannien schon vermutlich seit 1973 (wobei Labour lange eher als pro-EU galt). Im Gegensatz zum Kontinent, wo "EU-Skeptiker" innerhalb der "Volksparteien" entweder garnicht oder nur als Einzelstreiter auszumachen sind (man denke an Peter Gauweilers einsamen, auch juristischen Kampf gegen z.B. die EU-Verfassung), war diese Fraktion in der Konservativen Partei eben nicht nur deutlich grösser, sonder je nach aktuellem Personal auch deutlich lautstärker. Mit Margaret Thatcher stellten die "Skeptiker" dann einmal sogar selbst die Premierministerin (allerdings war Thatchers Position zur EU durchaus ambivalent).


Im Jahre 2010 wurde David Cameron Premierminister, und irgendwann in seiner Regierungszeit muss er den Plan gefasst haben, die bei so vielen Projekten lästige Fraktion der Tory-EU-Skeptiker sozusagen "endgültig mundtot" zu machen. Da immer wieder ein Verlassen der EU von diesen Skeptikern in die Diskussion gebracht wurde, nahm Cameron sozusagen "den Stier bei den Hörnern" und versprach 2013, im Falle einer Wiederwahl (in 2015) ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Ein bisschen war das auch kurzfristige Wahltaktik, um der damals in den Umfragen erheblich emporschnellenden UKIP (United Kingdom Independence Party) das Wasser abzugraben.


Camerons Kalkül kann man nachvollziehen: Mit entsprechender medialer Begleitung sollte es doch möglich sein, die britische Bevölkerung pünktlich zum Referendumstermin auf ein hinreichend deutliches REMAIN einzustimmen *10. Und an medialer Einflussnahme hat es auch nicht gemangelt: Die BBC war nahezu geschlossen auf REMAIN-Kurs, ebenso fast alle "wirtschaftsnahen" Zeitungen, die Kontinentalpresse sowieso. Zum Schluss wurde gar der extra eingeflogene strahlende "yes-we-can"-US-Präsident Obama in die Kampagne integriert. Beste Voraussetzungen also...


Aber wir wissen heute: "der Plan ward zunichte". Zu den Gründen will ich hier garnicht ausholen. Wichtiger ist: Wie immer, wenn ein von den Eliten favorisierter Plan "nicht aufgeht", fängt die eigentlich hässliche Kampagne erst hinterher an. Mit allen Mitteln wird dann versucht, das nicht genehme Abstimmverhalten der Bevölkerung in seinem Effekt zu neutralisieren oder gar umzukehren.



7. "Deal or no deal, das ist hier die Frage..."


Deutsche Reporter und Kommentatoren haben verschiedentlich die Frage aufgebracht, warum denn das britische Parlament und/oder die Regierung das Brexit-Vorhaben nicht einfach abbläst - schliesslich stehe nirgendwo geschrieben, dass Parlament und Regierung an dieses Referendum gebunden seien.


Das ist sogar formal richtig und hat wieder mit der ungeschriebenen Verfassung des Königreichs zu tun. Natürlich kann man nirgendwo einen Paragraphen finden, der das Parlament an irgendwelche Referenden bindet, noch gar vielleicht mit einem festgelegten Quorum. Das britische System beruht auf der Verfolgung von Traditionen und Präzedenzfällen, und wo solche nicht vorhanden sind oder sein können (wie beim Brexit), auf Verhandlungen und Abmachungen. Und die Versicherung, die beide grossen Parteien vor dem Referendum sozusagen "hoch und heilig" abgaben, war: "Wir werden uns an das Votum halten!"


Das ist der Grund, warum eine feste "Remain"-Gläubige wie Theresa May immer wieder "we will deliver Brexit" verkündete und, zuletzt recht verzeifelt, ein halbwegs glaubhaftes Faksimile von Austritt in Form eines "Deals" dem Parlament und letztlich dem Volk vorzulegen versuchte. Ein nicht-Umsetzen des Brexit-Versprechens würde tatsächlich eine ernsthafte Verfassungskrise auslösen - weitaus ernster als die Frage einer verlängerten Parlaments-Pause. Denn es ginge um die Fundamente des in Grossbritannien eben weitgehend ungeschriebenen Gesellschaftsvertrages: Wenn "ihr" (Parlament und Regierung) euch an Traditionen, Präzedenzen und Abmachungen haltet, werden "wir das Volk" euren Beschlüssen folgen.


Boris Johnson ist also in einer wirklich unangenehmen Lage: Lässt er einfach den 31.10. auf sich zukommen und verkündet dann den "no-deal-Brexit", dann hat er zwar eine Art Verfassungskrise vermieden, löst aber eine andere (offener Verstoss gegen den Benn-Act) aus. Von der EU noch irgendwelche Zugeständnisse zu erwarten, ist angesichts der früh verkündeten und konsequent durchgehaltenen Verweigerungshaltung der EU ("es gibt nur diesen Deal") ein recht hoffnungsloses Unterfangen. Es scheint also darauf hinauszulaufen, dass der Premierminister doch den Canossa-Gang nach Brüssel wird antreten müssen, um um eine Verlängerung zu bitten - oder eigentlich: zu betteln.


Und es werden sich einige erinnern, dass BoJo verkündet hatte, er wäre lieber "dead in the ditch" als eine solche Schmach zu erleben.



8. Die EU: erfolgreiche Obstruktionspolitik


Was unsere deutschen Qualitätsmedien in Bezug auf den Brexit kaum beleuchten, ist die konsequente und, soweit man das bisher beurteilen kann, erfolgreiche Obstruktionspolitik der EU. Denn man hätte ja auch ganz anders verhandeln können: Man hätte Grossbritannien - wie dem fernen Südkorea (!) - ein Freihandelsabkommen mit nahezu vollständiger Zollfreiheit anbieten können, oder alternativ ein einseitiges Moratorium von einem oder mehreren Jahren für die Inkraftsetzung von Zöllen. Diese Zölle, über deren eventuelle Höhe man sich ja auf beiden Seiten des Kanals beharrlich ausschweigt, hätte man auch schlicht auf ein Viertel oder Drittel der derzeitig für abkommenslose Drittstaaten geltenden Sätze festlegen und damit der ansonsten so beklagten "Planungsunsicherheit der Wirtschaft" entgegentreten können. Man hätte auch - einmal wenigstens - von den Asiaten lernen und deren Praxis von Sonderwirtschaftszonen auf Nordirland anwenden können.


Schlicht, man hätte sich im Sinne guter Nachbarschaft auf vernünftige, für beide Seiten tragbare und vielleicht auch nur "auf Sicht" geplante Lösungen verständigen können. Man hätte schon, aber man wollte eben nicht! Man wollte diesen bedauernswerten Anfall von Selbständigkeit eines EU-Volkes ungeschehen machen und gleichzeitig ein Exempel für alle anderen aufbegehrenden Bevölkerungen setzen. Und in diesem Sinne war diese Politik bislang auch sehr erfolgreich.


Faktische Aufhebung des Brexit-Votums durch Vertagung war und ist das Hauptziel dieser Politik. Wenn das selbst angestiftete Chaos dann die Briten immer noch nicht zur "Besinnung" und zum Widerruf bringt, wird man das Thema vermutlich durch Delegierung an Fachkommisionen "entsorgen".


Wenn allerdings - wie oben beschrieben - der ausgehebelte Brexit zum weitreichenden Vertrauensverlust der Briten in ihre Regierungen führen würde, dann könnte Grossbritannien zum dritten oder vierten europäischen Staat werden, dessen gesellschaftlicher Zusammenhalt auf dem Altar des transatlantischen Neoliberalismus geopfert wurde (nach Jugoslawien, Ukraine, Griechenland).



9. "Brexit-Preparedness"


Die Frage taucht, gerade auch bei Menschen mit in Grossbritannien lebenden Verwandten oder Freunden auf: Was, wenn der Brexit - doch - wirklich kommt? Müssen meine Freunde dann an Apotheken Schlange stehen, weil es keine Medikamente mehr gibt? Wird Brot knapp, oder - für den Millenial wahrscheinlich genauso schlimm - gar das Angebot an iPhones und Tablets? Wird man in der ungeheizten Wohnung frieren *11 müssen? Kommt man noch mit dem Flugzeug über den Kanal, oder werden Abfangjäger die Jets zur Umkehr zwingen?


Panik beiseite: Sowohl Grossbritannien als auch die restlichen EU-Staaten werden nach wie vor kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ökonomien bleiben. In solchen wird eine irgendwie quantifizierbare Nachfrage - sei es nach Brot, Eiern, Tranquilizern, Luxus-Pkws oder Flugreisen - natürlich "irgendwie" bedient. Was sich ändern kann, ist die Preisstruktur - eben durch eventuelle Zölle. Die Preise können, wenn sie "zu hoch" sind, auch irgendwann die Nachfrage dämpfen.


Konkret wird ein britischer Gemüseimporteur, der bislang monatlich beispielsweise 10'000 Avocados importiert hat, aufgrund eines durch Zölle bedingten Anstiegs der Endverbraucher-Preise seine Bestellmenge vielleicht auf 9'000 reduzieren. Aber er wird sicher nicht "gar keine" mehr importieren, und wenn die 9'000 Stück genauso schnell abverkauft sind wie bisher, wird er eben auch 1'000 nachordern. Kurz gesagt: Alles, was irgendwie mit EU-Handel zu tun hat, könnte teurer werden, manches (aus bisherigen Drittländern) könnte aber auch billiger werden.


Wiewohl sich die EU trotz entsprechend betitelter Website ( preparedness-notices_en ) sehr zurückhält mit konkreten Hinweisen, kann man sich auf anderen wenigstens eine Vorstellung davon machen, was da auf uns zukommen könnte. Etwa diese Seite, die sich an Privatpersonen richtet: https://www.zoll.de/ (die gute Nachricht hier: USB-Sticks bleiben zollfrei !?!).


Wer es etwas ausführlicher mag, kann auch auf die Tariftabelle der EU zugreifen https://eur-lex.europa.eu/ . In EU-typischer prägnanter "Kürze" von 675 Seiten werden die Tarife für etwa Benzol (8-25%), Elektro-Lokomotiven (4,9-14%), Pkws (10-29%) Brillengläser (7,5-17%), aber auch Waren des täglichen Bedarfs wie Kernreaktoren (mit 6,2-10% recht günstig) aufgelistet... *12


Und zu guter Letzt möge man sich erinnern, dass es auch vor 1973 (dem EU-Beitritt) Handel mit Grossbritannien gab: Austin Minis und Jaguar-Sportwagen, Anzüge und Schuhe wurden von uns importiert, während VW- und Mercedes-Pkw ebenso wie Nähmaschinen und Rheinwein auf die Insel rollten. Die EU hat schliesslich den internationalen Handel nicht erfunden.


Man möchte mit den Worten, die Billy Wilder einst Horst Buchholz *13 in die Rolle diktierte, schliessen:


"Die Lage ist hoffnungslos - aber nicht ernst ..."





(September-Oktober 2019)




*1 Finian Cunningham: johnson-british-dangerous-policy-iran/

*2 Neil Clark: theresa-may-worst-pm/

*3 Volker Pispers bezog seinen Satz (hier aus dem Gedächtnis zitiert) auf die Austrittswelle bei SPD-Mitgliedern nach der Einführung der Hartz-Gesetze.

*4 Der Kürze halber werde ich das "United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland" im Folgenden als "Grossbritannien" bezeichnen und hoffe, dass evt. nordirische Leser/innen mir dies verzeihen mögen.

*5 So beschrieb es damals ein EU-Beamter, der vermutlich noch selber das Lebensmittelkarten-System der Nachkriegszeit erlebt hatte.

*6 Diese Blockaden betrafen nicht nur die Vertragsentwürfe, sondern auch die Frage eventueller Neuwahlen oder der Abhaltung eines neuen Referendums. Dabei gingen die jeweiligen Bruchlinien quer durch die Parteien.

*7 Bezüglich der Kolonien würde ich mit etwas Vorsicht behaupten wollen, dass die Ablösung derselben von Grossbritannien in der Regel besser abgewickelt wurde als etwa von Frankreich. GB konnte unter anderem den riesigen indischen Subkontinent ohne grosse innere Krise "verlieren", Frankreich dagegen zerbrach fast an der Abspaltung des kleinen Algeriens. Freilich spielten etwa bei der Bildung der OAS noch spezifische Umstände hinein, die es so in GB nicht gab.

*8 Auch hier muss ich betonen, dass ich sicher kein Experte für britisches Recht bin. Der langjährige frühere britische Unterhausabgeordnete George Galloway hat u.a. hierzu einen interessanten Kommentar

geschrieben: boris-johnson-supreme-court-brexit .

Die Tradition, die hier langjährig beachtet wurde, sah wohl so aus, dass die Königin aufgrund der Beratung durch "Her Majesty's Prime Minister" der Terminierung der Parlamentsferien entweder zustimmte oder sie ablehnte, während "Her Majesty's Loyal Opposition" diese Entscheidung dann auch akzeptierte. Um den bei der Einstufung der prorogation als "unlawful" eigentlich implizierten Vorwurf an die Königin abzuschwächen, haben die Richter den Schwerpunkt auf die angeblich mangelhafte oder "ungesetzliche" Beratung durch den Premier gesetzt.

*9 Auch dieser Stimmungsumschwung ist bedeutsam. Meine Vermutung ist, dass viele Briten jetzt den Wunsch haben "let's get it done, one way or another". Und dem "Feuerkopf" Johnson trauen viele wohl genau dies zu, auch wenn sie ansonsten durchaus ein Unbehagen mit dem oszillierenden Charakter dieses Politikers verspüren.

*10 Anlässlich der S21-Volksabstimmung in Baden-Württemberg gab es diesen schönen Spruch: "Eine Volksabstiimmung heisst deshalb so, weil dabei das Volk auf die Regierungswünsche abgestimmt wird..."

*11 Gänzlich ohne Brexit ist es in Grossbritannien in den vergangenen Jahren immer wieder zu Vorfällen gekommen, in denen typischerweise ältere Menschen in ihrer Wohnung erfroren sind. Nämlich, wenn sie die Kosten für Heizung bzw. Elektrizität nicht mehr aufbringen konnten. Dies hat also nichts mit Brexit, aber sehr viel mit Austerität zu tun.

*12 Die Spannen gelten dabei jeweils zwischen "autonom" und "vertragsmässig", näheres siehe verlinkter Text.

*13 Kinofilm "One-two-three", USA 1961, Regie und Buch Billy Wilder. Neben Horst Buchholz auch beeindruckende schauspielerische Leistungen von James Cagney (in einer Komödie!), Lieselotte Pulver, Hanns Lothar und Karl Lieffen.


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Da es hier soviel um Boris Johnson ging, sei noch kurz auf die häufige Behauptung, er sei ein Rassist, eingegangen.


Ein Blick auf sein aktuelles Kabinett zeigt m.E., dass er durchaus nicht als "praktizierender" Rassist gelten kann. Ein echter Rassist könnte nicht mit Leuten wie Sajid Javid, Priti Patel, Rishi Sunak oder Kwasi Kwarteng an einem Kabinettstisch sitzen, es wäre ihm "physisch" unmöglich. BoJo hat aber offenbar kein Problem mit Menschen, deren "nicht-original-britische" Abstammung nicht nur am Namen, sondern auch an der Hautfarbe ablesbar ist.


Die unbestreitbar rassistischen Äusserungen, die Boris Johnson immer wieder getan hat, offenbaren sich m.E. als klar kalkulierte Werkzeuge im Kampf um mediale Aufmerksamkeit oder Wählerstimmen. Wenn man so will, könnte man ihn also als "opportunistischen Rassisten" bezeichnen.


Zur absoluten Klarstellung: 3 der 4 genannten Kabinettsmitglieder sind in UK geboren, an der Rechtmässigkeit ihrer britischen Staatsangehörigkeit bestehen bei allen 4 keinerlei Zweifel. Aber ihre Ernennung in das aktuelle Kabinett zeigt übrigens eben auch, dass "migrantische Herkunft" durchaus keine Garantie für die Entwicklung eines sozialen Gewissens ist.




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