Nachdenken über OTAN





1. Was ist OTAN ?



Das Kürzel oder "Akronym" OTAN wird den meisten Lesern fremd vorkommen, obwohl das entsprechende Logo gar nicht so selten über die Bildschirme flimmert. Auch die sozusagen wortgetreue Eindeutschung "NAVO" ist unbekannt, denn hierzulande wird für die "Organisation du traité de l'Atlantique nord" fast immer das englische Akronym NATO benutzt, also die "North Atlantic Treaty Organization". Schon lange ist die NATO das "mächtigste Militärbündnis der Welt" und zählt mittlerweile 30 Mitgliedsländer, die allerdings zunehmend weniger Nähe zum "Nordatlantikraum" haben. Auch die Bundesrepublik ist schon seit 1955 treuer Bündnispartner, nach Eigeneinschätzung seiner Regierungspolitiker wohl sogar der "allertreueste".

Gegründet wurde die NATO von 12 Staaten am 4. April 1949 und ist damit Teil der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte. Vorangegangen war der immer offener zutage tretende Bruch zwischen den "Anti-Hitler"-Allierten des Zweiten Weltkriegs, namentlich den Westallierten USA und Grossbritannien (und später Frankreich) auf der einen Seite, und der Sowjetunion auf der anderen Seite. Diesen Bruch in eine griffige Formel zu kleiden gelang Winston Churchill in seiner berühmten "Iron Curtain"-Rede in Fulton, Missouri, in der er die zwischen den sowjetisch beherrschten Staaten Osteuropas und den Staaten Westeuropas gebildete Grenze als einen nahezu undurchdringlichen "Eisernen Vorhang" darstellte.

Mehr als 70 Jahre nach der Gründung lohnt ein Blick auf NATO-OTAN, um die Relevanz für das 21. Jahrhundert einschätzen zu können.



2. Wachstum in Schüben

Die 12 Gründungsstaaten waren von durchaus unterschiedlichem politischem und militärischen Gewicht, aber auch unterschiedlicher politischer Verfasstheit:

Grossbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Portugal, Italien, Island, USA und Kanada.

Kleinste Inselstaaten also neben Weltmächten, die kurz zuvor die mächtigsten Militärmaschinen der Welt (Deutschland und Japan) zermalmt hatten; mehr oder minder konstitutionelle Monarchien neben klassischen Republiken bzw. Demokratien; und nebenbei noch eine Diktatur nach Lehrbuchart (Portugal, von 1932-1968 von Salazar beherrscht). Diese Staaten schworen sich also im "Nordatlantikpakt" gegenseitige, notfalls militärische Unterstützung bei Angriffen auf einen der Partnerstaaten.

Nach 1949 bis zum Ende des "Kalten Krieges" traten weitere 4 Staaten bei: 1952 Griechenland und die Türkei, 1955 die BRD und 1982 Spanien.

Griechenland hatte 1952 gerade erst einen sehr blutigen Bürgerkrieg mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung beendet. Sowohl Griechenland als auch die Türkei sollten in der Folgezeit mehrere Militärputsche erleben, blieben aber trotzdem immer Mitglied. Der Beitritt der BRD war 1955 nach einer sehr intensiv geführten Wiederbewaffnungsdebatte erfolgt, und man tut der jungen Bundeswehr sicher nicht unrecht, wenn man feststellt, dass damals ehemalige Wehrmachtsoffiziere und -Generäle entscheidenden Einfluss ausübten *1.

Nach der 1991 erfolgten Auflösung des östlichen Gegenstücks, des "Warschauer Paktes" (übrgens erst 1955 gegründet), erfolgte dann eine rasche Ausdehnung der NATO, vornehmlich nach Osten:

1999 Tschechien , Ungarn, Polen

2004 Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen

2009 Albanien, Kroatien

2017 Montenegro

2020 Nord-Mazedonien

Damit zählt die NATO nun 30 Mitglieder (weit mehr als ehemals der Warschauer Pakt mit 8 Ländern), dazu kommen sieben weitere Länder, die über sogenannte "IPAPs" (Individual Partnership Action Plan") mehr oder weniger eng an die NATO angebunden werden sollen, bzw. deren Voll-Mitgliedschaft damit vorbereitet wird.

Das grosse Wachstum nach 1991 ist schon deshalb auffällig, weil mit der Auflösung von Sowjetunion und Warschauer Pakt der Daseinszweck als Bündnis gegen "aggressive" östliche Mächte ja eigentlich weggefallen war.



3. "… not exactly the ready sword Excalibur"

Der "operative Kern" des Nordatlantikpakts findet sich in Artikel 5:

"The Parties agree that an armed attack against one or more of them in Europe or North America shall be considered an attack against them all and consequently they agree that, if such an armed attack occurs, each of them, in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations, will assist the Party or Parties so attacked by taking forthwith, individually and in concert with the other Parties, such action as it deems necessary, including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area." *2

Die Historikerin Barbara Tuchman konnte sich bei der Beschreibung des entsprechenden Artikels des südostasiatischen Pandants zur NATO (des SEATO-Vertrages) einer ironischen Bemerkung nicht enthalten: Er sei wohl "not exactly the ready sword Excalibur", also keinesfalls ein stets einsatzbereites "Zauberschwert" wie das des Sagenkönigs Artus.

In der Rückschau fällt es (angesichts der Formulierung des Artikels 5) schwer zu verstehen, warum die Öffentlichkeit der Nachkriegs-BRD mehrheitlich so felsenfest überzeugt war, nur die Mitgliedschaft in der NATO sichere den US-"Atomschild", der das kleine Land vor dem "Überrennen" durch rote Armeen bewahre.

Denn die Formulierung "such action as it deems necessary" (also "Massnahme, die für erforderlich erachtet wird") konnte ja vom US-Standpunkt ganz verschiedene Reaktionen auf einen "Angriff auf das Nordatlantikgebiet" möglich machen: Es war denkbar, dass die USA schon dann den 3. Weltkrieg auslösten, wenn nur ein Sowjetpanzer über die Grenzlinie am berühmten "Checkpoint Charlie" in Berlin rollte. Oder aber selbst dann keinerlei Aktion ergriffen, wenn die Sowjetarmeen schon das ganze norddeutsche Tiefland erorbert hätten. "As it deems necessary" eben.

Klar ist auch, dass die ganze versammelte Militärmacht vollkommen von den politischen Entscheidungen der jeweiligen US-Regierung abhing. So hätte sicher Island, wenn es allein von der Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens, z.B. anlässlich irgendeiner Souveränitätsverletzung in der 4-Mächte-Stadt Berlin, überzeugt gewesen wäre, trotzdem nicht isländische Soldaten an die Spree entsandt.

Anders formuliert, war und ist die NATO vor allem ein Machtverstärker für die USA, ein Mittel der Machtprojektion über die Grenzen der kontinentalen USA hinaus.



4. Die NATO im "Kalten Krieg"

Den berühmten "Bündnisfall", also die Notwendigkeit der gemeinsamen ggf. militärischen Aktion gegen einen Angreifer, hat die NATO bis 1991 nie erklärt, was ohne Zweifel ein Glücksfall für die ganze Welt war. Denn die Erklärung des Bündnisfalls hätte in der Konstellation des Kalten Kriegs sehr schnell einen 3. Weltkrieg auslösen können, und der war spätestens seit den 1950er Jahren nur noch als nukleares Armageddon vorstellbar.

Gab es trotz solcher apokalyptischen Aussichten stichhaltige Gründe, der Allianz in dieser Zeit beizutreten, wie es z.B. die BRD 1955 tat? Für eine Reihe kleinerer Staaten mag die Aussicht auf finanzielle Unterstützung durch die USA, nicht nur im Militärbereich, schon ausschlaggebend gewesen sein. Und unzweifelhaft ist auch, dass die Sowjetunion als Ergebnis des Vormarschs seiner Armeen im 2. Weltkrieg eine ganze Reihe osteuropäischer Staaten unter seine Kontrolle gebracht hatte und in diesem seinem neuen "Glacis" bei aufkommenden Revolten hart und ggf. militärisch gegen die Bevölkerungen vorging (DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968).

Grund zur Besorgnis konnte man also haben, und der Anschluss an ein entsprechend ausgerichtetes Militärbündnis war und ist in solchen Konstellationen ein ziemlich übliches Vorgehen.

Allerdings ging der ganzen Konstruktion spätestens am 1.Juli 1991 mit der formellen Auflösung des Warschauer Paktes (und dem Untergang der "real-sozialistischen" Staaten einschliesslich der UdSSR) eben die "raison d'Etre" verlustig: Es gab ja gar keinen Feind mehr, der nur mit "kollektiver Einsatzdrohung" von einem Überfall auf das Vertragsgebiet abzuhalten gewesen wäre.

Konsequenterweise verlangte auch die SPD 1991 die Ablösung der NATO durch ein "System kollektiver Sicherheit" *3 unter Einbeziehung Russlands als der nach wie vor grössten kontinentaleuropäischen Macht. In welche Richtung solch ein System einzurichten gewesen wäre, hatte ja schon in den 1970er Jahren die "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) sozusagen vorgedacht, man hätte da anschliessen können.



5. Roosevelts Projekt: die United Nations

Die Vereinten Nationen, deren Gründungsversammlung am 26. Juni 1945 in San Francisco stattfand, kann man mit einiger Berechtigung "Roosevelts Lieblingsprojekt" nennen. Jedenfalls war es ein von Franklin D. Roosevelt recht energisch verfolgtes Projekt, der nun gerade aus der Erfahrung mit den aggressiv-expansionistischen Antreibern des zweiten Weltkriegs, Nazi-Deutschland und Imperiales Japan, ein Instrument suchte, solche Katastrophen zukünftig u verhindern.

Freilich sollte die neue UN einige "Konstruktionsfehler" vermeiden, die die Vorgängerinstitution "Völkerbund" in den Augen der US-Aussenpolitiker hatte *4. Eine zentrale Rolle sollte dabei der UN-Sicherheitsrat spielen, der seinen ständigen Mitgliedern ein Vetorecht einräumte. Nach dem Willen der US-Regierung hätte es natürlich gereicht, wenn nur die USA solch ein Vetorecht gehabt hätten, aber so grotesk einseitig liess sich das natürlich nicht umsetzen. Man hatte also schliesslich 5 Nationen diesen starken Hebel in die Hand gegeben:

Neben den eindeutigen Siegernationen des zweiten Weltkriegs (Grossbritannien, Sowjetunion, USA) kamen noch Frankreich und China hinzu. Heute ist fast vergessen, dass "China" bis 1971 von der stramm antikommunistischen "Republic of China" vertreten wurde. Allerdings schrumpfte das Herrschaftsgebiet dieser von Tschiang-kai-schek gegründeten Republik infolge der Erfolge der maoistischen Truppen schliesslich auf die kleine Insel Taiwan, wodurch der "Veto-Hebel" zunehmend ausser Proportion zur Relevanz der "RoC" erschien. Anfang der 1970er Jahre vollzog der US-Präsident Richard M. Nixon eine folgenschwere Kehrtwendung in der US-China-Politik und nahm nicht nur diplomatische Beziehungen zu "Rot-China" auf, sondern sorgte sogar dafür, dass 1971 der Sicherheitsrats-Sitz an die rote "People's Republic of China" übertragen wurde.



6. Ohne Feind, ohne Zweck?

Nach der historischen "Wende", der nahezu gewaltlosen Auflösung der Staaten des Warschauer Paktes, stand die NATO wie gesagt eigentlich ohne Feind dar und hätte sich konsquenterweise selbst auflösen müssen. Nun haben aber grosse Organisationen mit ihrer ja auch grossen Bürokratie ein ausgeprägtes Beharrungsmoment. Wenn kein entschiedener Anstoss von aussen kommt (in Form politischer Initiativen), dann können solche Organisationen trotz Zweckverlust und Orientierungslosigkeit ("hirntot" nannte es einmal Präsident Macron) allein aufgrund der bewegten Masse eine Weile weiter existieren. So auch in den 1990er Jahren bei der NATO.

Spätestens mit der 7-fach-Erweiterung des Jahres 2004 endete diese Phase der "Stasis", man hatte einen neuen "Lebenszweck" gefunden. Und das hat mit der für die USA enttäuschenden Entwicklung Russlands nach der UdSSR-Auflösung zu tun. Statt sich zu einem Vasallenstaat der USA zu entwickeln, regiert von nach Gusto der USA installierten Politchargen, wurde Russland unter dem neuen Präsidenten Putin zunehmend selbstbewusster. Statt willfähriger Unterstützung bei den diversen Militäreinsätzen der USA gab es von Russland immer öfter ein NJET zu hören, gerade auch im Sicherheitsrat.

Das alte Motto aus der angloamerikanischen Aussenpolitik der 1940er bezüglich Europa wurde reaktiviert: "Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down."



7. Der "agressive Feind im Osten"...

Heutzutage wird in den Mainstream-Medien im Hinblick auf Russland ziemlich einheitlich das Bild einer aggressiven Nation gezeichnet, die unter ihrem "autokratischen" Herrscher Putin immer wieder in die "regelbasierte" Weltordnung eingreife und nur durch Demonstration äusserster politischer und militärischer Entschlossenheit eingehegt werden könne. Und mit dieser "Bedrohung aus dem Osten" werden ja nun eine ganze Menge ganz konkreter Massnahmen begründet - von den Wirtschaftssanktionen, dem Aussschluss Russlands aus gemeinsamen Gremien bis hin zu erheblicher militärischer Aufrüstung (das berühmte 2%-Ziel) und natürlich überhaupt die fortgesetzte Expansion der NATO an die Grenzen des "Feindstaates".

So ein Bild kann sich ja, da man schlecht die Zukunft voraussehen kann, nur auf Beobachtungen der Gegenwart und der Vergangenheit stützen. Aus meiner Betrachtung der jüngeren Geschichte ergibt sich jedoch, dass Russland schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, zumindest im Hinblick auf Europa, besser als "das saturierte Reich" beschrieben werden kann.

Ein Russland also, dass in Europa weder territoriale Erweiterungen seines Staatsgebietes sucht noch seine Nachbarstaaten in einen Vasallenstatus zwingen will *5. Mit dieser These lassen sich m.E. die konkreten Handlungen der Nach-Weltkriegszeit sowohl der russisch beherrschten Sowjetunion als auch des Nachfolgestaates Russland recht gut erklären. Und mehr kann man ja von einer politischen These auch nicht erwarten.

Wenn aber Russland gar nicht die von der NATO in teilweise schrillen Tönen behauptete Bedrohung ist, wieso hat dann die NATO auf dem letzten Gipfeltreffen in Brüssel es zusammen mit China explizit als solche ausgemacht: "Russia’s aggressive actions constitute a threat to Euro-Atlantic security..." und "We will engage China with a view to defending the security interests of the Alliance." *6. Die Frage ist nur zu beantworten, wenn man vom Ende her denkt: Ein militärisch-industrieller Komplex, der von den NATO-Mitgliedsstaaten mit über 1700 Milliarden Dollar jährlich unterhalten wird, braucht einfach einen "Gegner", damit man diese exorbitante Verschwendung von materiellen und menschlichen Ressourcen dem Publikum gegenüber irgendwie rechtfertigen kann.



8. Die "westliche Wertegemeinschaft" ("WWG?")

Ein immer wieder in der Konfrontationsrhetorik benutzter Begriff ist der der "westlichen Wertegemeinschaft". Er erfüllt in Bezug auf die NATO eine ganz ähnliche Funktion wie der Begriff "europäische Idee" in Bezug auf die EU: Beidesmal sind es Begriffe, die ein hochstehendes moralisches Ziel umschreiben sollen, die aber vorsichtshalber nie mit konkreten Inhalten gefüllt werden.

Dass die Länder etwa Westeuropas gerade in den Nachkriegsjahrzehnten eine gewisse kulturelle Nähe zu den "transatlantischen Partnern" USA und Kanada entwickelt haben, wird kaum jemand leugnen wollen. Aber was wären denn konkrete Punkte, die die "westlichen Wertegemeinschaft" nun ausmachen?

Vielleicht die Todesstrafe, die in den Gründungsstaaten der EU bzw. EWG *7 seit Jahrzehnten abgeschafft ist? In der Führungsnation der NATO, den USA, ist dieselbe allerdings durchaus nicht abgeschafft.

Alternativ könnte man nach gesellschaftlichen Standards Ausschau hallten, etwa so etwas Grundlegendes wie Mutterschaftsurlaub. In den meisten EU-Staaten wird schon seit Jahrzehnten ein solcher gewährt, 10 bis 20 Wochen sind hier der Standard. Und in den USA? Dazu weiss die Wikipedia: "Es bestehen keine gesetzlichen Regelungen zum Mutterschaftsurlaub oder zur Gehaltsfortzahlung."

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kennen in der einen oder anderen Form die meisten NATO-Staaten, aber dazu gehört natürlich auch, dass der Staat dieselbe auch einigermassen sicherstellen kann. Wenn es aber um Tod durch Schusswaffengebrauch geht, stehen wieder die USA einsam an der Spitze *8:




Im Rahmen eines Staatenbündnisses sind aber möglicherweise andere Themen wichtiger. So gehört Vertragstreue ganz sicher zu den Werten, die in den internationalen Beziehungen gepflegt werden sollten. Auf der Pressekonferenz nach dem ersten Gipfeltreffen der Präsidenten Biden und Putin verwies der russische Präsident auf die zunehmende Liste internationaler Verträge, aus denen die USA einseitig "ausgestiegen" sind - unter anderem "ABM" (Anti-Ballistic Missile Treaty, 2002), "JCPOA" (auch bekannt als Iran-Atomabkommen, 2018) oder "Open Skies" (2020). Er äusserste sich zufrieden darüber, auf dem Gipfeltreffen wenigstens die Verlängerung des START-Vertrages (Strategic Arms Reduction Treaty) durchsetzen zu können, aus dem sich die USA ebenfalls "verabschieden" wollten.

Summa summarum fällt es schwer, auch nur unter den westeuropäischen Industrienationen und den USA einen gemeinsamen "Wertekanon" zu umreissen; noch schwieriger wird das Unterfangen, wenn man etwa die Mitgliedsstaaten Türkei oder Litauen mit betrachten wollte. Kurz: Die "westliche Wertegemeinschaft" entpuppt sich als wohlklingende Sprechblase ohne realen Kern zum Gebrauch für Funktionsträger oder opportunistische Journalisten.



9. Die NATO als Gegen-UN

Von den journalistischen NATO-Fans wird oft geklagt, dass der UN-Sicherheitsrat durch Russland "blockiert" werde, wenn etwa der russische Abgesandte dort irgendwelche Resolutionen der USA oder Grossbritanniens durch sein Veto verhindert. Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass die Nutzung des Vetorechts ganz genau in der Absicht der UN-Gründer lag, und dass eben dieses Recht auch ganz natürlich von den "Ständigen Mitgliedern" immer wieder benutzt wurde und wird. Von den USA ebenso wie von Russland oder China oder den anderen 3 Staaten.

Natürlich wird dadurch manchmal eine vielleicht denkbare "geschlossene Antwort der Staatengemeinschaft" auf irgendeine Krisensituation verhindert. Andererseits ist es im Zweifelsfall wohl besser, wenn die UN nichts tut als dass sie etwas falsches tut. Ein Beispiel dafür dürfte der Koreakrieg sein, als der UN-Sicherheitsrat, die Abwesenheit des sowjetischen Vertreters ausnutzend, einen Militäreinsatz unter UN-Mandat zur Abwehr des Einmarsches nordkoreanischer Truppen in den Süden des Landes genehmigte. Von den USA befehligt und überwiegend mit US-Militär ausgefochten, sollte Korea zum ersten grossen Stellvertreterkrieg der sogenannten "Supermächte" werden (und hätte um ein Haar den ersten Einsatz von Atombomben nach 1945 ausgelöst).

Da sich die USA nach wie vor als sozusagen "natürliche" Hegemonialmacht betrachten, ist ihnen das ehemalige Lieblingspodium der United Nations aufgrund der Vetomacht-Konstruktion zunehmend unbehaglich geworden. Nicht wenige Beobachter sehen in der so emsig betriebenen Ausweitung der NATO den Versuch, sich dadurch ein Ersatzpodium zu schaffen, in der u.a. mit Verweis auf die wolkige "Wertegemeinschaft" die US-Interessen sozusagen "gehebelt" umgesetzt werden können.



10. "Vietnam reloaded": Afghanistan

Nehmen wir den NATO-Afghanistan-"Einsatz" oder Krieg, der ja jetzt nach 20 Jahren symbolträchtig am 11.September 2021 enden soll. Das Resumee ist schnell gezogen und ist im Kern dasselbe, welches Barbara Tuchman schon in ihrem Schlusskapitel zum Vietnam-Krieg zog: "The new political order in Vietnam was approximately what it would have been if America had never intervened...". *9

Auch in Afghanistan wird die politische Ordnung nach Meinung der allermeisten Beobachter nach 20 Jahren Kriegseinsatz so ziemlich die gleiche sein, wie wenn die USA und NATO nie einmarschiert wären. Eine WDR-Kommentatorin (Helga Schmidt) meint, es habe daran gelegen, dass der Einsatz "mit politischen Wunschvorstellungen überfrachtet" gewesen sei. Wunschvorstellungen bei den Mainstream-Journalisten mag es gegeben haben. Bei den Planern in Pentagon und State Department aber wohl eher nicht, da ging es um "Machtprojektion", um Pipelines und manch anderes, und nicht zuletzt um das Krieg führen an sich: der "perpetual war" *10, der die Kriegs- und Rüstungsmaschine am Laufen hält.

Und der deutsche Beitrag? Insgesamt 43 Nationen durften an der ersten, "ISAF" genannten "Mission" teilnehmen, und die rund 5'000 deutschen Soldaten, die auf dem Höhepunkt des Einsatzes dort waren, mögen wichtiger gewesen sein als etwa die 4 Soldaten aus Island. Aber die wesentliche "firepower" kam immer von den US-Truppen (ca. 90'000) und natürlich der US-Luftwaffe. Auch der von unserem deutschen Oberst Klein 2009 befehligte Luftangriff bei Kunduz wurde letztlich von US-Kampfbombern umgesetzt. Die vermutlich über 100 meist zivilen Todesopfer mögen schwer auf den Gewissen der beteiligten Personen lasten. Da aber die deutsche Streitmacht für das eigentliche Kriegsgeschehen unwesentlich war, stellt sich die Frage, warum überhaupt Bundeswehr-Soldaten dort waren? Um die "deutsche Freiheit am Hindukusch zu verteidigen", wie es ein deutscher Politiker reklamierte?

Natürlich nicht, sondern die so breit gestreute "Koalition der Willigen" sollte den ursprünglich einseitig von Washington geführten Angriffskrieg nachträglich mit einem Hauch von Rechtfertigung versehen.

Auch der jetzt ruhmlose Abzug der westlichen Truppen gleicht in vielem dem Abzug der US-Armee aus Vietnam, und so wie damals Politiker und Journalisten plötzlich nach der "Vietnamisierung" des Krieges riefen, so reden dieselben Gruppen heute von der notwendigen "Afghanisierung" des Krieges (oder "Einsatzes"). Vermutlich wird auch diese nicht besser ausgehen als die letzlich gescheiterte "Vietnamisierung" 50 Jahre zuvor.



11. Provokationen

Die nukleare Überlegenheit, die die USA seit Hiroshima und Nagasaki genossen, führte bei nicht wenigen US-Generälen zur Überzeugung, man solle eher gleich als später einen nuklearen "Enthauptungsschlag" gegen die UdSSR führen, statt diese "unausweichliche" Auseinandersetzung in einer ungewissen Zukunft unter vielleicht nicht so günstigen Bedingungen zu führen. Obwohl hochrangige Generäle wie Leslie Groves oder Curtis LeMay solche Pläne propagierten, wurden sie - zum Glück für die Menschheit - nie von Militär- und politischer Führung der USA übernommen. Aber z.B. LeMay konnte es nicht lassen, durch bewusste Provokationen etwa im DDR-Luftraum (siehe z.B. hier) dem Ausbruch des 3. Weltkriegs möglicherweise "nachzuhelfen".

Ähnliches scheint in den Köpfen der NATO-Strategen vorzugehen, die etwa das jüngste Manöver "Sea Breeze" im Schwarzen Meer geplant haben. Ganz abgesehen davon, warum die NATO nun überhaupt in dieser Region Manöver abhalten zu müssen glaubt, noch dazu unter wesentlicher Beteiligung des Nicht-NATO-Mitgliedstaates Ukraine: Sind die berichteten Verletzungen russischer Küstengewässer durch britische und niederländische Kriegsschiffe anders als geplante Provokationen einzuordnen? Lesenswert dazu ein Beitrag von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam auf den Nachdenkseiten.

Während aber die nuklearstrategische Lage gar nicht so sehr anders ist als in den 1960er Jahren, hat sich die politische Lage sehr gewandelt. Sie ähnelt überraschenderweise in vielerlei Hinsicht der Lage in Europa am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Damals fand sich die politische Führung des deutschen Kaiserreichs in der unangenehmen Lage, dass die Alternativen zum Kriegskurs durch die starren Planungen des Generalstabs de facto aus der Hand geschlagen worden waren *11.

Können wir noch sicher sein, dass das , was da in den milliardenteuren NATO-Hauptquartieren für allerlei militärische "Kontingenzen" vorgeplant wird, noch wirklich unter ziviler politischer Kontrolle ist? Und dass Provokationen, die vielleicht nur das Rüstungs-Räderwerk "ein bisschen auf Touren" bringen sollen, nicht irgendwann tödlich aus dem Ruder laufen?



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Ob sich die Deutschen irgendwann ehrlich machen und erkennen, dass "militärische Verantwortung übernehmen" nicht nur ein erbärmlicher Euphemismus ist, sondern letztlich nur den Vasallenstatus gegenüber NATO und USA zementiert? Bei der nächsten Bundestagswahl sollte man auch daran denken.


(Juli-August 2021)



*1 Natürlich rekrutierte die junge Bundeswehr reihenweise Personal aus den Offiziersrängen der untergegangenen Wehrmacht, zumal deren "technische" Kompetenz meist unbestritten war, etwa bei Josef Kammhuber und Johannes Steinhoff. Manche hatten auch durchaus eigene, fortschrittliche Gedanken für die Armee einer Demokratie entwickelt, z.B. Ulrich de Maizere und Wolf Graf Baudussin mit ihrem Konzept des "Staatsbürgers in Uniform". Auch einer aus dem weiteren Kreis der Stauffenberg-Verschwörer von 1944, Johannes Speidel, machte Karriere in der Bundeswehr.

*2 Deutsche Übersetzung (Quelle: http://www.staatsvertraege.de/natov49.htm):

"Die vertragschließenden Staaten sind darüber einig, daß ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden wird, und infolgedessen kommen sie überein, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jeder von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannten Rechts zur persönlichen oder gemeinsamen Selbstverteidigung den Vertragsstaat oder die Vertragsstaaten, die angegriffen werden, unterstützen wird, indem jeder von ihnen für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Vertragsstaaten diejenigen Maßnahmen unter Einschluß der Verwendung bewaffneter Kräfte ergreift, die er für notwendig erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebietes wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten."

*3 Der Gedanke ist schon in den 1920er Jahren aufgekommen, als der Aussenminister der jungen UdSSR, Maxim Litwinow, genau solch ein "System der kollektiven Sicherheit" propagierte. Leider nur mit mässigem Widerhall sowohl bei den westlichen Staaten als auch grossen Teilen seiner Parteikollegen.

*4 Auch der Völkerbund war sozusage das "pet project" eines US-Präsidenten, in diesem Falle von Woodrow Wilson. Aber ausgerechnet die USA wurden schliesslich nie Mitglied des Völkerbundes, weil der US-Senat die Ratifizierung verweigerte.

*5 Auf die scheinbare Anomalie der osteuropäischen Staaten, die später im "Warschauer Pakt" zusammengefasst waren, gehe ich explizit im Text "Das saturierte Reich" ein.

*6 Aus dem Abschlusskommunique: "Russlands aggressive Handlungen stellen eine Bedrohung für die Euro-atlantische Sicherheit dar..." und "Wir werden China im Sinne der Verteidigung der Sicherheitsinteressen der Allianz entgegentreten."

*7 Also die "BeNeLux"-Staaten, Frankreich, Italien und die BRD. Die formelle Abschaffung der Todesstrafe fand allerdings z.B. in Belgien erst 1996 statt.

*8 Quelle der Grafik: Englische Wikipedia. "Homicide Rate" meint Rate für Mord oder Totschlag, "Suicide Rate" diejenige für Selbstmord.

*9 Zitiert aus Barbara Tuchman, "The March of Folly", Seite 469/470: "Die neue politische Ordnung in Vietnam war [1975/76] näherungweise dieselbe, wie wenn America [die USA] niemals eingegriffen hätte..."

*10 Von US-Militärs auch "generational war" genannt.

*11 siehe Sebastian Haffner "Von Bismarck zu Hitler", S.118



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