"A Single British Soldier"



1. Am Vorabend des 1. Weltkriegs

Barbara Tuchman schrieb 1962 ihr hervorragendes Werk über den Beginn des ersten Weltkriegs, schlicht "August 1914" oder "The Guns of August" genannt. Kapitel 4 überschreibt sie mit "A Single British Soldier" und bezieht sich damit auf ein Gespräch zwischen Colonel Wilson vom britischen "Staff College" und seinem französischen Counterpart, General Foch von der "Ecole Superieure de la Guerre". Wilson war damals, 1910, schon eine Weile als halb-offizieller Verbindungsmann zwischen den britischen und französischen Generalstäben tätig. Verschiedene Krisen seit der Jahrhundertwende hatten allerorten für eine Vorkriegsstimmung gesorgt, und ebenso offensichtlich schien es, dass das Deutsche Reich wahrscheinlich den Krieg auslösen und mit einem Angriff auf Frankreich beginnen würde. Obwohl Grossbritannien und Frankreich nicht durch ein formelles Militärbündnis gebunden waren, hatten die Generalstäbe, mit stillschweigender Billigung der jeweiligen Regierungen, mit Koordinierungsgesprächen begonnen. Der umtriebige und frankophile Wilson war also schon eine Weile mit den Planungen für eine möglicherweise zu entsendende "British Expeditionary Force" beschäftigt und sollte zukünftig mehrmals im Jahr bei seinen französischen Kollegen zu Gast sein. Bei jenem Gespräch 1910 stellte er seinem Gegenüber Foch die wohl recht konkret militärtechnisch gemeinte Frage: "Was wäre die kleinste britische Militärstreitmacht, die für euch von irgendeinem praktischen Nutzen wäre?" Sofort kam Fochs Antwort: "A single British soldier, and we will see to it that he is killed." ("Ein einziger britischer Soldat - und wir werden dafür sorgen, dass er fällt.") *1

Der spätere Feldmarschall Foch hatte eben auch die politische Dimension eines Kriegseintritts der Briten schon im Kopf, und dass im Kriegsfall für eine anhaltende britische Militäranstrengung rein strategische oder machtpolitische Erwägungen nicht ausreichen würden, sondern eben auch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung notwendig wäre. Dies im Falle Grossbritanniens umso mehr, als es dort - im Unterschied zu den kontinentalen Mächten - damals keine Wehrpflicht gab. Und nichts mobilisiert die öffentliche (oder ver-öffentlichte) Meinung so sehr wie die Schlagzeile "Sie töten unsere Leute!". Und eben dies hatte Foch schon Jahre vor Kriegsbeginn klar erkannt.

Es lohnt sich, über die Situation am Vorabend des ersten Weltkriegs (oder "Grossen Krieges") noch einmal nachzudenken und nachzulesen, denn überraschenderweise ähnelt unsere heutige Situation weit mehr 1914 als z.B. 1939 oder 1963.



2. "Mourir pour Dantzig?"

Am Vorabend des zweiten Weltkrieges waren die europäischen Völker kriegsmüde - zu genau erinnerte man sich an das Gemetzel von 1914-1918, zu viele Veteranen hielten die Erinnerung daran wach (es waren ja gerade etwas über 20 Jahre vergangen). Am tiefsten war das Gefühl vielleicht in Frankreich, und so überraschte es nicht, als ein dortiger Journalist im Mai 1939 einen Artikel mit "Mourir pour Dantzig?", also der Frage "Für Danzig sterben?, übertitelte. Der Status von Danzig war ja von Hitler-Deutschland als Angelpunkt für die Drohungen gegenüber Polen auserkoren worden, und für die Franzosen - mit Polen in einem Beistandspakt verbündet - stellte sich ernsthaft die Frage, ob man nun um der Aufrechterhaltung des status-quo in einer fernen Stadt willen französische Soldaten opfern sollte.

Nun - letztlich sollte es um mehr als um Danzig gehen, und die französischen Soldaten zogen dann mit einem resignierten "Il faut en finir" ("Lasst es uns zu Ende bringen") in den Krieg, der schliesslich ganz Europa verwüsten sollte.



3. Pläne

Vor 100 Jahren kannte - zumindest in Deutschland - jedes Kind die Namen der wichtigsten Generäle und Feldmarschälle. Heute, im 21 Jahrhundert, verdrängen viele der in ganz ziviler Umgebung aufgewachsenen Mitbürger, dass es überhaupt noch Generäle und Generalstäbe gibt. Aber es gibt sie dennoch, und sie machen weiterhin Planungen für "den Ernstfall" oder für "Eventualitäten". Dies muss man ihnen nicht eo ipso vorhalten, denn Ihre Existenz - selbst wenn sie von der politischen Führung eindeutig nur zur Abschreckung beabsichtigt sein sollte - verlangt zwingend nach Planung eben des Ernstfalles.

Freilich macht es schon einen Unterschied, was man da plant und auf welchen möglichen Gegner man da abzielt. Oder welche Mittel eingesetzt werden sollen.

Auch der ukrainische Generalstab macht Pläne. Da es offizielle ukrainische Politik-Leitlinie ist (z.T. sogar in Gesetzen festgeschrieben), die seit 2014 der eigenen Kontrolle entzogenen Gebiete im Osten (Donetsk und Lugansk) sowie die "Perle der Ukraine" *2, die Krim, zurückzuerobern, ist der Vorgang an sich nicht überraschend oder (im Vergleich) besonders verwerflich - Pläne kann man ja wie gesagt durchaus machen. Unter welchen Voraussetzungen aber operieren die ukrainischen Militärs wohl? Ein auch nur oberflächlicher Blick auf die Kräfteverhältnise zeigt, dass jeder Angriff, der auf russisches Territorium überschwappen könnte, nur in einer vernichtenden Niederlage für die ukrainischen Truppen enden könnte. Naturgemäss würde ein Angriff auf die Krim von der russischen Führung als Angriff auf Russland selbst betrachtet werden, aber auch ein Einmarsch in die "Ostgebiete" ist risikoreich. Schliesslich entwickeln Kriegsoperationen oft Eigendynamiken, so könnte es notwendig werden, die "Rebellenarmeen" von Donetsk und Lugansk an oder über die Ostgrenze und damit auf russisches Territorium zu treiben. Und dann...

Schlechte Karten also für einen Stabsoffizier, der einen möglichen "Siegplan" ausarbeiten soll.



4. Die Russen kommen...oder nicht?

Praktisch seit der Machtübernahme nach dem Putsch 2014 springen die ukrainischen Regierungsvertreter - von den Botschaftern über die Minister bis hinauf zum Präsidenten - an den Katzentischen, die ihnen die USA, die NATO und die EU jeweils zuweisen, wie Rumpelstilzchen auf und ab und reden vom russischen Angriff, der unmittelbar bevorstehe oder schon erfolgt sei, von der russischen Invasion, die - wenn schon nicht schon morgen oder übermorgen - dann doch im nächsten Frühling, dem nächsten Sommer oder Herbst bevorstehe. Wobei uns die segensreiche Tätigkeit der "Gatekeeper"-Medien vor der Verbreitung der absurdesten dieser Gerüchte, wie z.B. die Mithilfe der ukrainischen "Impfverweigerer" bei der geplanten Invasion *3 oder die Einbeziehung Weissrusslands in den Kreis der "Agressoren" *4, gnädigerweise verschont haben.

In all' den Jahren hat sich die russische Föderation aber unwillig gezeigt, die ihr zugedachte Rolle als militärischer Agressor auch auszufüllen. Richtig - man hat die Krim "annektiert" und hält eine schützende Hand über die "separatistischen" Republiken Donetsk und Lugansk, war aber eben auch so zurückhaltend, dieselben nicht diplomatisch anzuerkennen. Und die armen "annektierten" Menschen auf der Krim? Sie machen keinerlei Anstalten, endlich "heim ins Reich der Ukraine" zu kommen, sondern scheinen ganz glücklich, nicht unter einem dermassen korrupten und rassistischen Regime *5, wie es die Kiewer Regierung ist, leben zu müssen (zumal auch die wirtschaftliche Bilanz der Post-Maidan-Regierungen verheerend ist).



5. Lernen von Foch

Es ist mir unbekannt, ob man in ukrainischen Militärkreisen Barbara Tuchman liest. General Foch wird man schon eher kennen, allerdings wäre auch das keine Voraussetzung dafür, zum selben Schluss wie jener Stratege im Jahre 1910 zu kommen: Man muss dafür sorgen, dass ein starker noch-nicht-Partner so tief in die eigene militärische Auseinandersetzung involviert wird, dass ein Zurückweichen für denselben kaum noch möglich ist. Am besten eben durch Soldaten dieses Partners, die in den ersten Gefechten zu Tode kommen. Für Foch war noch "a single British soldier" ausreichend, möglicherweise denken seine modernen Nachfolger da etwas grosszügiger an halbe oder volle Dutzend? Einerlei, die Kandidaten für diesen "Heldentod" müssen erst einmal in den möglichen Gefechtsbereich gebracht werden.

Und während Foch und seine Kollegen um die Unterstützung der Briten teilweise richtiggehend betteln mussten, werden heute den Ukrainern die ebenfalls britischen Soldaten frei Haus geliefert:

"UK sends 30 elite troops and 2,000 anti-tank weapons to Ukraine amid fears of Russian invasion" ("Grossbritannien sendet 30 Elite-Soldaten und 2000 Panzerabwehrwaffen in die Ukraine, während eine russische Invasion befürchtet wird" - Sky News vom 20.Januar)

Natürlich ist es nur eine Hypothese, aber es wäre schon plausibel, wenn die ukrainischen Militärs ähnliches planen würden wie Foch vor 100 Jahren. Die materiellen Voraussetzungen dazu haben sie jetzt jedenfalls.



6. Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Vor wenigen Tagen hat der deutsche Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach im Rahmen eines eher informellen Treffens in Indien zwei recht augenfällige Tatsachen konstatiert, nämlich dass a) die Krim auf absehbare Zeit nicht mehr zur Ukraine "zurückkehren" wird, und dass b) die russische Föderation wie andere Länder auch legitime Sicherheitsinteressen, gerade auch in Bezug auf seine Aussengrenzen, habe.

Sofort nach Bekanntwerden bestellte daraufhin das ukrainische Aussenministerium die deutsche Botschafterin ein und erklärte, dass solche Äusserungen "inakzeptabel" seien. Wenige Stunden später war Schönbach entlassen (bzw. "bat um seine Abberufung", man kennt diese Phrasen), während sich die deutsche Verteidigungsministerin tief zerknirscht ob des unangenehmen Vorfalls zeigte.

Hier wedelt also der Schwanz (die ukrainischen NATO-Aspiranten) mit dem Hund (dem deutschen Verteidigungsministerium)*6. Soviel zum "neuen aussenpolitischen Selbstbewusstsein" der "Fortschritts"-Regierung Scholz. Interessant auch, dass z.B. in dieser Darstellung der FAZ (https://www.faz.net/) die Intervention der ukrainischen Regierung keinerlei Erwähnung findet. Vielleicht hat ja auch jemand anderes in Berlin angerufen, vielleicht der smarte Herr Blinken?

Die scheinbar verrückte Konstellation, nämlich dass ein klassischer Klientenstaat gelegentlich die Politik seiner Gönnerstaaten beeeinflussen kann (und sei es mit der Drohung des eigenen Untergangs), wird übrigens von Barbara Tuchman in ihrem anderen Klassiker "The March of Folly" ausführlich am Beispiel von Südvietnam durchexerziert. USA und NATO haben sich mit der Post-Maidan-Ukraine einen klassischen Klientenstaat erschaffen, der ohne konstante "Infusionen" von Waffen und Geld nicht überlebensfähig ist. Wollte man die Situation dort mit der in Vietnam vergleichen, so wären wir etwa in der Periode Ende der 1950er/Anfang der 1960er, als auch in Vietnam erst nur "militärische Berater" der USA im Einsatz waren.



7. "Mourir pour Kiev?"

Wenn man die unverbrüchlichen Treuschwüre zur Ukraine und deren "territorialer Integrität", die da von Blinken, Truss, Stoltenberg, Baerbock und vielen anderen nunmehr fast im Stundentakt abgegeben werden, so anhört, könnte man meinen, dass dieses Land nicht nur Gründungsmitglied der NATO, sondern gleichzeitig leuchtendes Symbol für die "westlichen Werte" wie Demokratie, Rechtsstaat und Pressefreiheit wäre. Das Gegenteil ist gerade bei Letzterem der Fall, kaum jemand hat in so kurzer Zeit so viele Zeitungen und Sender verboten oder "stillgelegt" wie der derzeitige Präsident Selensky.

Soviel "westliches" Engagement verblüfft. Auch würde man doch gerne einmal erklärt bekommen, was sich "die Russen" von einem Überfall auf die Ukraine überhaupt versprechen könnten? Welche Art von "Beute" könnten sie machen? Dort ist nichts, was die Russen nicht selber mehr und besser haben.

Es stellt sich doch die Frage, wer für Kiew sterben will? Werden bei SPIEGEL, ZEIT und FAZ jetzt Freiwilligenbataillone aufgestellt, die dann festen Schrittes ostwärts ziehen? Oder wollen wir das konkrete Sterben wieder 'mal "outsourcen", ein paar Türken oder Kasachen oder Serben oder wer immer auf dem Markt für Söldner zu haben ist mit ein paar Dollars in der Tasche Richtung Donbass schicken? Oder werden die bewaffneten Drohnen, die Berlin zunächst bei den Israelis leasen will, dann mit gemischt deutscher/israelischer Pilotierung in den Himmel über Charkiw geschickt?

In diesem Konflikt kann leider nur eine Gruppe etwas gewinnen: Die Mega-Rüstungskonzerne.


Januar 2022




*1 Barbara Tuchman, "August 1914", Seite 58 bzw. 57 (deutsche Ausgabe)

*2 Eine blumige Formulierung des Botschafters der Ukraine in Deutschland, Andrej Melnyk.

*3 "Ukrainians who refuse Covid-19 vaccines are laying the groundwork for a Russian incursion into the country, an advisor to the commander in chief of the country's armed forces has claimed, amid rumors Moscow is planning to strike." (vom November 2021)

*4 "The threat of an all-out conflict with neighboring Belarus is now becoming a more likely scenario for Ukraine than a mooted Russian ‘invasion’ of the country, a member of Kiev’s governing ‘Servant of the People’ party has claimed." (vom Oktober 2021)

*5 Nur als Beispiel: Stepan Bandera, Nationalist, bekennender Antisemit und Nazi-Kollaborateur, wird von den Post-Maidan-Regierungen seither systematisch zum Nationalhelden aufgebaut.

*6 Sehenswert: Der prominent besetzte Hollywood-Spielfilm "Wag the Dog".


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