Krieg Nr. 249 und die neue Dominotheorie




1. Ein ganz gewöhnlicher Krieg...

Unter den weit über 200 bewaffneten Auseinandersetzungen, die fleissige Menschen seit 1945 gezählt haben, ist der Krieg Nr. 249 eigentlich ein ganz gewöhnlicher Krieg. Es ist wirklich nichts Neues, dass ein militärisch und wirtschaftlich mächtigeres Land ein weniger mächtiges angreift, um sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen. Dass auch in diesem Krieg nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten sterben, ist leider ebensowenig neu. Und ebenfalls erwartbar ist, dass aus genau diesem Grund viele Zivilisten vor dem Krieg fliehen - entweder in als weniger betroffen angenommene Gebiete im eigenen Land oder in fremde Länder, vorrangig die angrenzenden.

Auch die Taktik, den Krieg mit einem grossangelegten Angriff auf die feindliche Luftwaffe zu beginnen, um die gegenerischen Flugzeuge möglichst noch am Boden zu zerstören, ist seit 1967 - als die Israelis sie im Sechstage-Krieg so eindrucksvoll anwendeten - geradezu Standard in den Militärdoktrinen der "entwickelten" Länder geworden. Heutzutage ergänzt um ebenso rasche Schläge gegen die Flugabwehr-Stellungen des Gegners.

Und auch planmässige Propaganda als wirkungsvolles Medium, um - wenn schon nicht die "Weltmeinung" - dann doch die Meinung breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen, ist nicht neu. Ebensowenig wie die planvoll von beiden Seiten betriebene Obfuskation (Verschleierung) bezüglich eigener weiterer Vorgehensweise ("Strategie und Taktik") als auch z.B. der Opferzahlen.



2. Wieso Krieg Nr. 249?

Die Nummer 249 für diesen Krieg ist eher willkürlich, und auch nicht ich habe es unternommen, alle Kriege seit 1945 aufzulisten, sondern in diesem Falle die sprichwörtlich "fleissigen Chinesen":




Die Nummer 249 wird also schon deswegen nicht stimmen, weil hier ja nur bis 2001 "gezählt" wurde. Und das Blutrot in der Grafik weist schon darauf hin, dass hier wohl eher kein "absolut neutraler" Beobachter am Werke war, sondern jemand mit dezidierten Ansichten über die Rolle der USA in der Welt. Und ich möchte meinen Lesern nicht verschweigen, dass dieser "Tweet" der chinesischen Botschaft in Moskau vom 25.Februar 2022 einige Zeit später wieder gelöscht wurde - man könnte vermuten auf "Anweisung Pekings". Dass diese Meldung überhaupt verfasst wurde, sagt nun allerdings schon einiges über die Beziehungen dieser "Grossen Drei" (China-Russland-USA) aus - aber dazu später.



3. Anomalien

Nun, da mit dem genannten Datum auch endgültig klar ist, um welchen Krieg es im Folgenden gehen soll - den am 24.02.2022 begonnenen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine - können wir auch auf die nicht so normalen Umstände dieses Krieges eingehen. Da gibt es dann doch einige:

a) Mit unheimlicher Geschwindigkeit haben sich die ansonsten chronisch zerstrittenen Länder der NATO und der EU auf eine und genau eine Deutung des Krieges festgelegt. Danach sei Russland der einzig und allein Schuldige am "plötzlichen" Kriegsausbruch, und es sei jetzt allgemeine Pflicht des "freien Westens", der unschuldigen Ukraine in ihrem "heroischen" Kampf beizustehen.

b) Mit ebenso unerhörter Geschwindigkeit haben dieselben Länder Waffenlieferungen an die Ukrainische Armee beschlossen und zum Teil schon umgesetzt - teilweise waren sie ja schon vor dem 24.2. im Gange.

c) Der Deutsche Bundestag kippte in einer Sondersitzung am 27.2. - da war der Krieg noch keine 3 Tage alt - gleichzeitig zwei langjährige Prinzipien, nämlich keine Kriegswaffen in Krisengebiete zu liefern und die Bundeswehr, auch durch bewusste Ausgabenbeschränkung, als Verteidigungsarmee *2 aufzustellen. Wo vorher kein Geld da war, um z.B. allen im Pflegesektor Beschäftigten eine kleine Gehaltsaufbesserung zu spendieren, waren plötzlich u.a. 100 Milliarden (!!!) Euro für ein "Sondervermögen Bundeswehr" da *3.

d) In der vollkommen unreflektierten Übernahme des US- und NATO-Narrativs (siehe a)) durch die Konzern- und Massenmedien war eine bisher beispiellose "Gleichschaltung" dieser Medien zu beobachten - eine so fast vollständige Gleichschaltung, dass es einem Herrn Goebbels vermutlich Bewunderung abgerungen hätte.

e) Und obwohl doch die US-TIME in ihrer profunden Kenntnis Osteuropas gleich alle Ukrainer unter blau-gelber Flagge zu "Heroes" ernannte und der deutsche SPIEGEL (wohl mit Rückgriff auf die Asterix-Comics) dieselben zu "Unbeugsamen" verklärte, scheint der Krieg auf ukrainischer Seite, zumindest was die Darstellung in der Tagesschau anbelangt, fast allein von einem Herrn Selensky geführt zu werden. Unklar bleibt bei den vielen Video-Filmchen zwar meist, wo er sich überhaupt aufhält - ist es noch Kiew, wie von ihm behauptet? Überhaupt scheint der junge Mann über sich hinaus zu wachsen - egal zu welcher Uhrzeit eine Videobotschaft an westliche Parlamente zu richten ist (US-Kongress, EU-Parlament, Bundestag ...) - Herr Selensky steht bereit. Müsste er in einem belagerten Land sich nicht gelegentlich einmal mit zivilen und/oder militärischen Beratern besprechen, würden sich dieselben nicht auch einmal zeigen wollen - so wie es in Moskau etwa der Pressesprecher der russischen Armee nahezu täglich tut?

f) Und noch einmal die Medien anhand der Tagesschau: Bilder von weinenden Müttern, von zerstörten Wohnhäusern, von einsam durch verwüstete Gebiete streifenden Zivilisten zuhauf - aber nichts von der ukrainischen Armee, die doch gerade durch unsere so reichlichen Waffenlieferungen in den Stand versetzt werden soll, den Agressoren Widerstand zu leisten. Nicht einmal eine kleine Panzerkolonne oder ein Zug mit Militärmaterial "auf dem Weg an die Front" ist zu sehen. Dass sich Reporter von aktuellen Kampfhandlungen fernhalten, ist ja noch verständlich - aber dass auch die Handy-Videofilmchen von ukrainischen Bürgern selten mehr als entfernte Rauchwolken zeigen, ist für den "Desert-Storm"-verwöhnten westlichen Mediennutzer doch etwas enttäuschend. Damals fuhren die "embedded journalists" gleich auf den Panzerwagen der siegreichen Armee mit - jeden abgeschossenen irakischen Panzer mit Lob für die US-Kampfkraft kommentierend.

g) Das UNHCR *4 meldet die am schnellsten anwachsende Zahl von Kriegsflüchtlingen, die man jemals beobachtet hat. Was in sich eben auch erstaunlich ist, weil es ja bedeutet, dass sich da viele Menschen relativ problemlos in Sicherheit bringen können. Sind die Fluchtkorridore, die Russland doch angeblich behindert, womöglich weit besser umgesetzt als in den vielen Kriegen zuvor? Jedenfalls waren die Flüchtlinge, die die BRD 2015 so angeblich generös aufnahm, meist wesentlich länger unterwegs als ein paar Stunden in Bus und Bahn - gerade weil in einem Land im Kriegszustand üblicherweise Fluchtrouten kaum oder nur gelegentlich zugänglich sind.

h) Und auch erstaunlich: Die nahezu vollkommene Abwesenheit westlicher diplomatischer Bemühungen, den Krieg möglichst rasch zu beeenden oder wenigstens einen Waffenstillstand zu vermitteln. Wo sind die Top-Diplomaten, die wie einst Kissinger, Baker oder Genscher zwischen den Parteien zu vermitteln suchen? Stattdessen scheint man alle Aufmerksamkeit auf einen langfristigen, mehrjährigen Wirtschaftskrieg gegen Russland zu richten. Während unser deutscher "Öko"-Wirtschaftsminister Habeck bei den "lupenreinen Demokraten" von Quatar um Flüssiggas bettelt, hat die Biden-Regierung plötzlich vergessen, dass doch nur ihre Sprechpuppe Juan Guaido der "rechtmässige Präsident" Venezuelas sei, und verhandelt nun doch mit der Maduro-Regierung über Lieferungen von Rohöl an ihre Raffinerien in Texas. Blöd, wenn man doch erst ein paar Jahre zuvor im Rahmen von "Sanktionspaketen" gegen Venezuela sich selber vom venezolanischen Öl abgeschnitten hatte und stattdessen ausgerechnet russisches Öl zu importieren begann.



4. Domino 1.0

Wer will kann, meiner Ansicht nach, aus Geschichte viel lernen. Deshalb hier eine Rückschau auf die sogenannte "Domino-Theorie", die in den 1950er und 1960er Jahren besonders in den USA vom politischen Establishment propagiert wurde. In einem TV-Interview 1962 wurde der junge Präsident Kennedy gefragt, ob er an der Gültigkeit der Domino-Theorie zweifle: "No, I believe it, I believe it!" ("Nein, ich glaube daran, ich glaube daran!").

Woran glaubte Mr. Kennedy also? Jene Domino-Theorie kam in den 1950er Jahren in den USA auf und besagte, dass - wenn (Süd-)Vietnam den Kommunisten in die Hände falle - unweigerlich auch die Nachbarstaaten, also Laos, Kambodsha, Thailand, Burma, Malaysia etc. der "kommunistischen Agression" zum Opfer fallen würden. Und dieses Umfallen würde sich in geradezu naturgesetzlicher Weise ereignen - wie das Umfallen einer Kette von Dominosteinen, wenn man den ersten umwirft.

Und weil also sozusagen das gesamte Südostasien auf dem Spiele stehe, müssten die USA als Garanten der "Freiheit der Völker" entschieden eingreifen, was im Kontext der 1950er Jahre zunächst einmal umfassende Militärhilfe für die Kolonialmacht Frankreich bedeutete, die sich eben schon im Krieg mit den Kommunisten im Norden und den "Aufständischen" im Süden, den Vietcong, befanden. Trotz massenweise dem französischen Militär (und der "Legion Etrangere") zur Verfügung gestelltem US-Material endete der Kolonialkrieg für Frankreich allerdings 1954 mit einer bitteren Niederlage in Dien Bien Phu *5.

Die USA, im mittlerweile gründlich akzeptierten Glauben an die Domino-Theorie, löste jedoch Frankreich als Kombattanten nahezu nahtlos ab, aus der eher unscheinbaren MAAG *6 der 1950er Jahre wurde das MACV *6 der 1960er Jahre, welches mit bislang ungesehener Militärmacht (bis zu 500'000 aktive Soldaten!) den Krieg in dem kleinen Land weiterführte.

Nun, "der Rest ist Geschichte", wie man so sagt. Nach Millionen Toten in einem teilweise live in die TV-Haushalte der westlichen Welt übertragenen Krieg zogen die US-Amerikaner 1975 auch aus Saigon ab, Vietnam wurde kommunistisch. Und wenige Jahre später konnte die Historikerin Barbara Tuchman spötteln, dass sich keines der der "Dominokette" zugerechneten Länder habe umstürzen lassen.

Und wenn ich heute gelegentlich einen Drucker der US-Marke Hewlett-Packard auspacke, der die unscheinbare Kennzeichnung "made in Vietnam" trägt, frage ich mich, ob diese späte Wendung zum Globalkapitalismus wohl das war, was sich Ho Chi Minh *7 damals für sein Land erhofft hatte.



5. Die Theorie der "Domino-Theorie"

Von politischen Theorien kann man natürlich nicht soviel Stringenz erwarten wie von z.B. physikalischen. So überrascht nicht, dass die Liste der "Domino-Länder" je nach Standpunkt des Interpreten gelegentlich verkürzt oder - häufiger - verlängert wurde. Ein hoffnungsvoller US-Politiker fügte den üblichen Dominos gleich die Philippinen, Japan und Australien hinzu - und sollte später als US-Präsident Lyndon B. Johnson dann die Eskalation endgültig auf irrsinige Höhen treiben. Wer aber steckte hinter dem finsteren Treiben dort im fernen Südostasien?

In der Frühphase der Theorie war es, der McCarthy-Formel entsprechend, einfach "the world communist plot", also die kommunistische Weltverschwörung. Als sich später zeigte, dass es da durchaus Interessenkonflikte zwischen "Rotchina", der UdSSR und anderen "roten" Staaten gab, wurden dann wahlweise "Moskau" oder "Peking" als die Hauptintriganten ausgemacht.

Hat es diese Verschwörung wirklich gegeben? Dass es da durchaus ideologische Gründe, aber auch materielle Interessen sowohl der UdSSR als auch der Volksrepublik gab, die die Unterstützung von "Hanoi" bzw. der Vietcong angezeigt erschienen liessen, kann man annehmen. Für eine regelrechte Verschwörung mit allen "Domino-Ländern" als Ziel haben sich aber in den intensiven Archivstudien nach dem Untergang der Sowjetunion offensichtlich keine Belege finden lassen. So gesehen haben die USA jahre- bzw. jahrzehntelang einen selbstgeschaffenen Papierdrachen bekämpft. War es das wert?



6. Eine neue Domino-Theorie ?

Für die Phase nach dem Zusammenbruch der "realsozialistischen" Staaten nach 1990 bis zur Jetztzeit könnte man eine neue Dominotheorie, sozusagen eine Version 2.0, entwerfen. Beginnen wir mit 1990, der "Wende" bzw. der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Damit löste sich die DDR auf und, so war es vereinbart worden, das neue Gesamtdeutschland blieb in der NATO. Machtpolitisch könnte man sagen, dass der NATO-Block einen grossen Schritt ostwärts von Helmstadt nach Frankfurt an der Oder machte. Der Führung der Sowjetunion hatte man dabei, man kann es mittlerweile in verschiedenen Gesprächsprotokollen nachlesen, versprochen, dass sich die NATO danach keinen Zentimeter (oder "inch") weiter ostwärts bewegen würde. Der in der Heimat schon arg bedrängte letzte UdSSR-Führer Gorbatschow bestand aber nicht auf einer vertraglichen Fixierung dieser Zusicherungen, sicherlich auch etwas geblendet von der medialen Huldigung, die ihm da z.B. in Deutschland entgegengebracht wurde ("Gorbi! Gorbi! Gorbi!"). Neun Jahre später gab es dann aber doch den Beitritt der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Tschechien, Ungarn und Polen:




Haben sich damit diese 3 Staaten einer "feindlichen" Ideologie ergeben, wie es die Dominotheorie der 1950er Jahre ja behauptete? Das würden die wenigsten behaupten wollen, schliesslich fanden doch alle diese Beitritte augenscheinlich "freiwillig" ab. Allerdings könnte auffallen, dass die Option Neutralität scheinbar nie auch nur debattiert wurde. Mindestens in der ehemaligen DDR hätte sich 1990, nachdem dort die Bevölkerung ja selbst das verkrustete System auch mit dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" zu Fall gebracht hatte, sicherlich eine breite Zustimmung zum Projekt eines neutralen Deutschlands mobilisieren lassen. Aber dies ging im ja auch medial geschürten "Einigungstaumel" ebenso unter wie die aus Bürgerrechtskreisen gestellte Forderung nach einer neuen Verfassung. Und fast schon selbstverständlich, dass weder in der neu-vereinigten BRD noch in Polen oder Tschechien Volksabstimmungen zu diesem doch zukunfts-bestimmenden Thema veranstaltet wurden.

Die nächste Runde der NATO-Erweiterung startete dann 2004:




Nun werden politische Theorien weniger um der möglichst exakten Beschreibung der Vergangenheit als um der Skizzierung möglicher Gefahren in der Zukunft willen formuliert. Was hätte eine Dominotheorie 2.0 für die Zukunft "vorherzusagen"?




Nun kommt es nicht wirklich darauf an, ob Sie - werte Leserin, werter Leser - diese Theorie für plausibel oder im Gegenteil für absolut hirnrissig halten. Entscheidend ist bzw. wäre, ob sie von unseren östlichen Nachbarn jenseits des "eisernen NATO-Vorhangs" für plausibel gehalten wird, also vor allem von Russland und China. Oder, weniger im Bauklötzchenmodus argumentierend, ob Russland und Weissrussland (und dahinter China) die Aufnahme der Ukraine in die NATO für eine existentielle Bedrohung halten oder nicht. Mindestens Russland war in dieser Hinsicht absolut offen und hat seit 2008 seine Ansicht, dass diese NATO-Erweiterung für seine Sicherheit inakzeptabel sei, wiederholt klargemacht. Eben die berühmte rote Linie gezogen. Weiter hat es mit den Vertragsentwürfen, die da im letzten Dezember an NATO und USA gerichtet wurden, auch noch einmal ein praktikables Gesprächsangebot gemacht.



7. Interessen

Man kann nur immer wieder darauf verweisen, dass es in den zwischenstaatlichen Beziehungen kaum je um Freundschaften, sondern um Interessen geht. Und auch wichtig: Zwischen Interessen kann man vermitteln, einen Kompromiss finden - zwischen Ideologien nicht. Weswegen auch das Zurückschrauben der Kalter-Kriegs-Rhetorik und die Anerkennung der friedlichen Koexistenz entscheidend für das Gelingen der Ost-West-Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre war. Ich würde weitergehen und behaupten, dass der friedliche Zerfall des "Ostblocks" ohne diese Entspannungspolitik garnicht möglich gewesen wäre.

Im meinem letzten Text zu diesem Thema (hier) habe ich versucht, die unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure zu beleuchten. Nun wäre die wohlbegründeten Interessen der Bundesrepublik bezüglich der Ukraine nicht schwer zu definieren: Uns müsste es um ein friedliches Land gehen, welches u.a. den Transit der Gaslieferungen aus Russland nicht behindert, mit dem wir ansonsten normalen Handel betreiben (etwa den Import von Weizen). Angesichts der Notwendigkeit, den Wegfall des "Atomstroms" zu kompensieren und die notwendig schwankende Versorgung mit Wind- und Solarenergie mit einem möglichst wenig umweltschädlichen fossilen Energieträger zu unterlegen, war auch die Entscheidung zum Bau der NordStream2-Pipeline höchst rational.

Ob nun in jenem "fernen Land, von dem wir nichts wissen" *8, eine Regierung aus lauter Russophilen oder Ultranationalen oder US-Enthusiasten am Ruder wäre, könnte uns dagegen ziemlich egal sein. Ebenso, ob da nun ein Staat oder deren 3 oder 4 auf den Karten einzuzeichnen wäre - ist für die deutsche Bevölkerung vollkommen ohne Belang. Mithin ist die Entscheidung der Bundesregierung, praktisch sofort und offenbar ohne nähere Prüfung die Position einer Kriegspartei zu übernehmen, kaum zu verstehen. Oder ging es dabei eben weniger um nüchterne Interessenpolitik als um Durchsetzung einer ideologie-getriebenen "Kampflinie"?



8. Ansprüche und Kriegsziele

Versuchen wir einmal aufzulisten, welche Ansprüche - oder, da jetzt ja Krieg ausgebrochen ist - "Kriegsziele" auf dem Tisch liegen.

Da wären von ukrainischer Seite zu nennen:

I. Rückerlangung der Kontrolle über die Krim.

II. Rückeroberung der Donbass-Region im Osten.

III. Aufnahme der Ukraine in die NATO (und die EU).

Russland hat vor dem Krieg vor allem zwei Punkte benannt:

IV. Keine Aufnahme der Ukraine in die NATO.

V. Schaffung eines verfassungsmässigen Sonderstatus für die selbsterklärten Donbass-Republiken mit Garantien zum Schutz der russischstämmigen und/oder russischsprachigen Bevölkerung.

Über die Krim will und wird kein russischer Politiker mehr vorhandeln, diese ist (aus russischer Sicht) einfach Teil der russischen Föderation.

Nach der Aufnahme offener Feindseligkeiten durch Russland sind zwei weitere Ziele erklärt worden:

VI. De-Militarisierung der Ukraine.

VII. De-Nazifizierung der Ukraine.

Das Mantra der NATO vor und nach Kriegsausbruch war:

VIII. Respektierung oder Wiederherstellung der "territorialen Integrität" der Ukraine in den Grenzen von 1991.

IX. Freiheit der (Militär-)Bündniswahl für den "souveränen Staat" Ukraine.



Die ukrainischen Punkte I. und II. mag sich ein Staat als Ziel setzen und auch, wie es die Ukraine mit Punkt II. getan hat, in Gesetze schreiben. Ein ganz andere Sache ist, ob das in der jeweiligen Lage klug ist. Natürlich könnte auch Frankreich die Wiedereingliederung des Saarlandes in die "Grande Nation" fordern und als Begründung auf neu aufgekommene Zweifel an der Legitimität des Saar-Referendums von 1955 verweisen. Auch Deutschland könnte Elsass und Lothringen zurückfordern, waren diese Regionen doch für über 40 Jahre "deutsch", sogar "Deutsche Reichslande". Klug wären solche Forderungen und Ansprüche aber wohl eher nicht, weil von der jeweiligen Gegenseite sicherlich rundweg abgelehnt und auch dann, wenn man sie umsetzen könnte, für das eigene Staatswesen hochgradig abträglich.

Ebenso kann die ukrainische Regierung selbstverständlich den Wunsch haben, NATO-Mitglied werden zu wollen (Punkt III.). Aber dem Wunsch muss ja das angefragte Bündnis nicht automatisch stattgeben. Auch ein Bundesliga-Fussballverein würde mein Ansinnen, endlich in deren Profiteam mitspielen zu dürfen, sicherlich abschlägig bescheiden, denn meine Fussball-Kenntnisse und -Fertigkeiten bewegen sich vermutlich auf dem Niveau eines Vorschulkindes.

Insofern ist Punkt IV. der "russischen Wunschliste" keine Beschneidung der ukrainischen Souveränität, sondern zuallererst eine sicherheits- und natürlich auch machtpolitische Frage zwischen der NATO und Russland.

Punkt V. ist leider, obwohl im Minsk2-Abkommen explizit so geregelt und gefordert, nie von der Kiewer Regierung auch nur im Ansatz angegangen worden und schliesslich am Jahresanfang von dort schlichtweg abgelehnt worden.

Punkt VI. ist, wenn man zynisch formulieren will, nunmehr "in Arbeit". Zu Punkt VII. wurde von der NATO bislang immer abgestritten, dass es ein solches Problem überhaupt geben würde. Mindestens das in die Nationalgarde aufgenommenen ASOW-Batallion gilt aber schon seit dem sogenannten "Euro-Maidan" nahezu allen Beobachtern als eindeutig nazistisch.

Damit zur NATO: Punkt VIII. wird meist unter Auslassung der Klarstellung "in den Grenzen von 1991" verkündet, obwohl das hier entscheidend ist. So bedeutet ja "Deutschland in den Grenzen von 1937" offensichtlich etwas anderes als "in den Grenzen von 1990" oder "in den Grenzen von 1950" oder "in den Grenzen von 1872". Auch die Ukraine umfasst in den Grenzen von 1914 etwas anderes als in den Grenzen von 1940 oder von 1964 oder von eben 1991. Ein jahrhundertelang geografisch nahezu "unverrückbarer" Staat wie etwa Spanien war die Ukraine aufgrund der turbulenten Geschichte gerade Osteuropas eben nie.

Zu Punkt IX. gilt das zu Punkt III. geschriebene, ein Wunsch muss nicht zur Aufnahme führen - und wurde ja bislang auch aus sehr guten Gründen abgelehnt.



9. Realpolitik

Zur Realpolitik gehört - im Unterschied zu einer "Wünsch-dir-was"-Politik - zuerst einmal eine möglichst realistische Einschätzung der konkreten Lage und eine Beurteilung, welche eigenen Politikziele überhaupt erreichbar sind. Und da wir hier (bestenfalls) über deutsche Politik in und mit EU und NATO reden können, auch eine Bestandsaufnahme der legitimen eigenen, nationalen Interessen. Insofern können wir die Wünsche der Kiewer Regierung (Punkte I-III.) zwar zur Kenntnis nehmen, aber unser Handeln kann das nicht bestimmen.

Der eine Punkt, der uns direkt betrifft, ist also die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO. Nun könnte man der Meinung sein: Je mehr Mitglieder so ein "Verteidigungs"-Bündnis hat, umso besser. Wenn wir aber an eine theoretische Aufnahme des Pazifik-Inselstates Tuvalu denken, wird sofort klar, dass dies so einfach nicht stimmt. Mit Tuvalu ist der "Nordatlantikraum" natürlich keinen Deut sicherer als ohne diesen Staat. Ein militärisch "interessanterer" Staat wäre hingegen ohne Zweifel Taiwan, also die "Republic of China". Dieser Staat könnte sich nun zu recht bedroht sehen, da die Volksrepublik China oder "Rot-China" beständig betont, dass Taiwan zu China gehöre und "irgendwann" auch wieder in das "Reich der Mitte" zurückfinden müsse.

Aber ein NATO-Staat Taiwan wäre damit logischerweise ein Sicherheitsverlust für die restlichen NATO-Mitglieder, da möglicherweise irgendwann in eine militärische Auseinandersetzung (oder Krieg) mit China verstrickt, ohne dass die anderen Mitglieder darauf eine irgendwie bedeutsame militärische "Antwort" finden könnten *9.

Aus ähnlichen Gründen wäre ein NATO-Staat Ukraine auch ein Sicherheitsverlust für die NATO - zumindest solange die Kiewer Regierungen sich permanent in einer Angriffs-Rhetorik gegenüber dem östlichen Nachbarn üben, und/oder sich in einem "halben" Kriegszustand wegen der Donbass-Regionen befinden.



10. Verhandlungen

Auch dieser Krieg wird, wenn man nicht auf eine "bedingungslose Kapitulation" des einen oder anderen Kriegsgegners aus ist, nur durch Verhandlungen zu beenden sein. Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, über irgendetwas zu verhandeln? Meiner Ansicht nach durchaus, zumindest die russischen Forderungen haben ja durchaus jenen "Spielraum", den man in diesen Fällen eben braucht.

Die weiter oben in Punkt VIII. und IX. formulierten NATO-Formeln zielen allerdings auf Fiktionen ab: Weder wird sich die "territoriale Integrität der Ukraine in den Grenzen von 1991" wiederherstellen lassen, noch ist die Aufnahme eines Landes in irgendein Bündnis allein von dessen Wünschen abhängig zu machen. Zumal ja sehr die Frage ist, inwiefern die ukrainische Regierungen nach 2014 überhaupt "souverän" sind - die Abhängigkeit von US-Interessen, US-Zuschüssen und auch US-Personal ist ja unübersehbar.

Die Krim wird, wie schon Admiral Schönbach richtig feststellte, niemals zur Ukraine "zurückkehren" - es gab und gibt ja auch keinerlei Anzeichen einer "Abstimmung mit den Füssen" Richtung Kiew. Ob die Bewohner der selbsterklärten Donbass-Republiken, nachdem sie dort sowohl die Kiewer Invasion von 2014 erduldet und abgewehrt haben als auch weitere 8 Jahre Kleinkrieg an der "grauen Zone" überstanden haben, noch jemals willig in den Kiewer Staat zurückkehren, ist unsicher. Was Russland betrifft, schafft gerade die am 21.2. erfolgte Anerkennung der Republiken in ihren überkommenen Oblast-Grenzen etwas verhandlerische Manövriermasse, da man schliesslich über eine neue "Demarkationslinie" irgendwo zwischen dieser westlicher gelegenen Oblast-Grenze und dem status-quo-ante, der Linie der "grauen Zone", reden könnte.

Die von der russischen Regierung nach dem 24.2. genannten Kriegsziele sind dagegen schon der Natur nach verhandelbar: Russland könnte schon jetzt die Ukraine für ausreichend de-militarisiert erklären oder auf weiterer Abrüstung bestehen. Auch zur De-Nazifizierung könnte man sicher eine Formel finden, etwa Ausschluss von ASOW-Bataillion und ähnlicher Gruppierungen aus der Nationalgarde. Wäre es wirklich für die NATO unerträglich, wenn in der Ukraine die gleichen Gesetze bezüglich Nazismus gelten würden wie hier in Deutschland (vgl. Art. 139 Grundgesetz)?

Der entscheidende Konfliktpunkt aber, die Anerkennung der roten Linie Moskaus bezüglich NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, könnte sofort und eigentlich von jedem der bisherigen NATO-Mitglieder ausgeräumt werden. Dieses Land - ob nun Grossbritannien, Frankreich, Italien oder Deutschland, müsste nur erklären, dass es eine Mitgliedschaft der Ukraine für die nächsten 20-30 Jahre ablehnen wird. Da der Neuaufnahme eines Landes alle bisherigen Mitglieder zustimmen müssen, wäre so eine Sperr-Formel schon ausreichend.

Was würde die NATO, was würde Deutschland dadurch verlieren? Nichts. Was könnte die Ukraine dadurch erlangen? Waffenstillstand und Frieden.



11. Der "Führer der freien Welt"

Der jeweilige US-Präsident wird ja von manchen Medien gerne zum "Führer der freien Welt" erklärt. Der derzeitige Freiweltführer namens Joe Biden war gestern (26.3.) also in Warschau und versicherte sowohl den polnischen als auch den ukrainischen "Freunden" seine volle Unterstützung in ihrem "Kampf für die Freiheit". Auch ein Fototermin, auf dem Biden ein ukrainisches Flüchtlingsmädchen herzen durfte, war arrangiert. Irgenwann unterlief ihm die Ehrlichkeit (oder Dusseligkeit), einen der wahren Kriegs-Unterstützungsgründe zu nennen: Es gehe um "regime change" in Russland.

Den Empfängern der US-seitigen Unterstützungs- und "Solidaritäts"-Schwüre kann man nur raten, sich das Schicksal der Lybier, Syrer, Iraker und Afghanen vor Augen zu halten. Wie sich nun wiederholt gezeigt hat, sind den US-Regierungen die Bürger dieser Länder herzlich egal. Wenn sie ihre geopolitische Nützlichkeit erfüllt haben, werden sie weggeworfen wie ein leerer Cola-Becher. Auch die ukrainischen Soldaten sind in diesem "Spiel" nur Kanonenfutter, geopfert für die Machtansprüche einer alternden Weltmacht. Auch die zivilen Opfer werden, nachdem man sie bestmöglich "medial ausgeschlachtet" hat, spätestens dann vergessen sein, wenn ein anderes Land, ein anderer "Autokrat" ins Visier des US-militärisch-industriellen Komplexes gerät *10.



(März 2022)


*1 Festzustellen wäre noch : Die Aussage des in der Grafik dargestellen Tweets wird von mir so nicht übernommen, schon weil ich die zugrundeliegenden Zahlen oder Studien nicht kenne. In meiner eigenen, wesentlich weniger Vorfälle umfassenden Auswertung, würden die USA aber wohl auf einen ähnlichen Anteil kommen.

*2 Natürlich ist der grundgesetzliche Auftrag, als Verteidigungsarmee zu dienen, schon vorher fleissig ausgehöhlt worden - vermutlich am Nachhaltigsten durch den Einsatz in Afghanistan.

*3 Dass diese Schaffung von "Sondervermögen" die doch von CDU-CSU-SPD-FDP-Grünen ins Grundgesetz gehobene "Schuldenbreme" planmässig umgeht, ist eigentlich auch Verfassungsbruch - aber "legal-illegal-scheissegal" scheint ohnehin das neue Motto zu sein.

*4 UNHCR = United Nations High Commissioner for Refugees - das Flüchtlingshilfswerk der UN.

*5 Die Schlacht von Dien Bien Phu wird auch manchmal als "letzte Schlacht der Waffen-SS" bezeichnet, weil sich in der damaligen französischen Fremdenlegion sehr viele ehemalige Waffen-SS-Soldaten eingeschrieben hatten.

*6 MAAG = Military Assitance Advisory Group, MACV = Military Assitance Command Vietnam

*7 Für die "Nachgeborenen" erläutere ich es lieber: Ho Chi Minh war der Führer der vietnamesischen Nationalisten und Anti-Kolonialisten, die sich dann dem Kommunismus zuwandten. Als langjähriger Präsident Nord-Vietnams führten er und seine Parteikollegen den Kampf gegen erst Frankreich und dann die USA.

*8 "A faraway country, of which we know nothing..." - so nannte der britische Premier Chamberlain die Tschechoslowakei nach seiner Rückkehr aus München 1935.

*9 Der ehemalige US-Waffeninspektor Scott Ritter z.B. glaubt nicht, dass die USA Taiwan im Kriegsfalle verteidigen könnten. Und da praktisch kein anderes NATO-Land über nennenswerte, global aktivierbare Militärmittel verfügt...

*10 Wer sich etwas mit den diesbezüglichen Erfahrungen der Chinesen vertraut machen will, könnte diesen alten BBC-Bericht zur Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 studieren: https://www.bbc.com/news/world-europe-48134881



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