Von Scheinriesen, Scheinehen und Scheinreferenden



1. Scheinriesen

Eines der ersten Bücher, die ich nach dem Erwerb der Lesefähigkeit verschlang, war das schöne Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" von Michael Ende. Auf jener phantastischen Reise durch ferne Länder, zu der es die beiden Titelhelden verschlägt, lernen Sie auch Herrn Tur-Tur kennen. Bevor sie allerdings die Bekanntschaft des freundlichen Herren machen können, müssen sie ihre Furcht vor dem riesenhaften Bild des Tur-Tur überwinden, denn dieser ist ein Scheinriese. Nur aus der Ferne wirkt er riesenhaft, je näher man kommt, um so mehr scheint er zu schrumpfen, und von Angesicht zu Angesicht ist er nicht grösser als Jim Knopfs väterlicher Freund Lukas.

Nun, damals als Kind habe ich mir keine allzu grossen Gedanken gemacht, wie es zu so einem extraordinären optischen Phänomen wie der Scheinriesenhaftigkeit kommen könnte, und natürlich ging es dem Autor Michael Ende auch um etwas ganz anderes. Seine kindlichen Leser wollte er dazu anregen, auch angesichts scheinbar riesengrosser Erscheinungen die Neugier und den Mut zu fassen, zu erforschen, was denn wohl dahintersteckt. Überhaupt ist das ganze Buch ein Plädoyer für Toleranz und Neugier, natürlich mit den Begriffen und Sprachmitteln der späten 1950er bzw. frühen 1960er Jahre. Wer intensiver dazu nachlesen möchte, wird z.B. hier (https://literaturkritik.de/jim-knopf-und-lukas-im-21-jahrhundert-ein-vortrag,27521.html) fündig.



2. Scheinehen

Der Begriff Scheinehe war in der frühen Bundesrepublik ein durchaus gängiger Begriff, und ist es merkwürdigerweise Jahrzehnte später wieder geworden - allerdings meist mit gänzlich anderer Bedeutung.

Wer in den 1960ern von Scheinehe sprach, dachte meist an ein Paar, welches wie ein "echtes" Ehepaar zusammenlebte ("wilde Ehe" war ein anderer Begriff dafür), ohne über die entsprechenden offiziellen Dokumente zu verfügen. Sei es, weil die Partner den finalen Charakter einer Eheschliessung scheuten, oder weil einer der Partner noch offiziell mit jemand anderem verheiratet war. Da zu jener Zeit der (echte oder vorgebliche) Ehemann nahezu alle "offiziösen" Angelegenheiten auch für die Ehefrau regeln konnte, war es z.B. für so ein Paar durchaus möglich, den Namen des Mannes als "Familiennamen" auszugeben. Oft genug wurde eine solche Scheinehe nach einiger Zeit, wenn z.B. die Scheidung vom früheren Ehepartner "durch" war, dann auch in eine standesamtlich beurkundete neue "echte" Ehe überführt.

Jahrzehnte später, mit den anwachsenden Migrationsströmen in die "Wohlstandsinsel" Bundesrepublik, wurde eine andere Art von Scheinehe bekannt. Hier ging es gerade nicht um Zusammenleben trotz fehlender Dokumente, sondern die offizielle, beurkundete Eheschliessung sollte dazu dienen, dem "nicht-deutschen" Ehepartner ein bleibendes Aufenthaltsrecht zu verschaffen. Aus welchen Motiven heraus diese Art von Scheinehen geschlossen wurden, ist hier nicht von Belang und soll auch nicht moralisch beurteilt werden.

Kennzeichen dieser Art von Scheinehe ist also die fehlende Absicht, die in der Standesamts-Urkunde bezeugte Ehe wirklich zu leben.



3. Scheinreferenden

Von der Ankündigung Russlands und der verbündeten Donbass-Republiken, nunmehr kurzfristig ein Referendum über einen Anschluss dieser Gebiete an Russland durchzuführen, erfuhr ich zuerst durch den "News-Ticker" eines privaten Fernsehsenders. Tiefrot unterlegt waren die Meldungen: >> Russland plant "Referenden", Scholz lehnt Scheinreferenden ab, USA verurteilen Scheinreferenden ...<<.

Da konnte einem schon klar werden, was man denn als BRD-Bürger nach dem Willen unserer Meinungsbildner von dieser neuesten Aktion des bösen Kreml-Herrschers zu halten hatte. Noch deutlicher wurde es in der abendlichen Tagesschau vom 23.09.2022: In dem Beitrag zum Thema wurde in Wort und Schrift nicht weniger als siebenmal das Wort Scheinreferendum benutzt, und natürlich würden die Menschen im Donbass nur scheinbar eine Wahl haben. Da Russland sich diese Gebiete ohnehin "einverleiben" wolle, sei alles nur eine Propagandaaktion. Ausführlich durften sich zwei Offizielle der Kiewer Regierung auslassen, nach denen das alles natürlich nur eine Fälschung und dazu ein Völkerrechtsbruch sei.

Wenn man den Beobachtungen anderer kritischer Journalisten folgt, benutzten fast alle Mainstream-Medien quasi zeitgleich dieselbe Wortwahl, und nahezu alle setzten den Begriff "Referendum" immer brav in Anführungszeichen. So wie es die Springer-Medien in Bezug auf die DDR jahrzehntelang hielten, denn die "DDR" war in den Augen des Verlegers Axel Cäsar Springer nur scheinbar ein Staat, weshalb die Verwendung der konjunktivierenden Anführungszeichen angebracht war. In diesem Sinne waren einige der neuzeitlichen Medien allerdings wohl allzu forsch, weil sie auch noch das Wort "Scheinreferendum" in Anführungszeichen setzten - sozusagen eine doppelte Negation, die dann ja wieder das Gegenteil bedeuten würde - aber lassen wir solche semantischen Feinheiten.

Da auch unsere Aussenministerin in bekannter Angriffslust sogleich verkünden liess "wir werden diese Referenden NIE anerkennen", stellt sich doch die Frage, was genau nun diese Referenden so scheinbar eindeutig als Scheinreferenden klassifiziert.



4. "Schein oder nicht-Schein, das ist hier die Frage..."

Bei Thema Scheinehe gibt es offensichtlich zwei verschiedene Kriterien, die die Einordnung als "Schein" rechtfertigen. Einmal das Fehlen von offiziellen Dokumenten bei gleichzeitig durchaus vorhandener Absicht des Vollzugs der Ehe, andersherum die fehlende Absicht, wirklich als Ehepaar zusammen leben zu wollen bei gleichzeitig vollkommen einwandfreien Ehe-Dokumenten.

Bei den nun angekündigten (und aktuell ablaufenden Referenden) ist nun offensichtlich reichlich offizielles Papier erzeugt worden: Zum einen die entsprechenden Beschlüsse der Russischen Föderation, der Donbass-Republiken und der provisorischen Verwaltungen in Cherson und Saporischje. Und vor allem auch die ausgefüllten Stimmzettel in den Wahlurnen, die allerdings erst noch ausgezählt werden müssen.

Fehlt es anderherum etwa am ernsthaften Willen, ein eventuelles "pro-Anschluss"-Ergebnis dann auch umzusetzen? Wenn man den bisherigen Erklärungen aus Moskau, Donetsk und Lugansk glauben schenken darf, durchaus nicht. Im Gegenteil, mindestens die Donbass-Republiken haben jahrelang darauf gedrängt, solche Referenden abhalten zu können, und auch die zwischenzeitlich von Hunderttausenden Donbass-Bürgern erworbenen russischen Pässe deuten darauf hin, dass auch zumindest ein substantieller Teil der dortigen Bevölkerung genau diesen Anschluss möchte.

Bleibt noch die Befürchtung, der "wahre" Wählerwille könnte entweder durch Schlamperei oder durch bewusste Wahlfälschung verzerrt und in die "vom Kreml" gewünschte Richtung gedreht werden. Dies hätte der "Wertewesten" freilich durch Entsendung von Wahlbeobachtern selber leicht überprüfen können, am besten durch einigermassen neutrale Institutionen wie OSZE oder UN. Vielleicht hätte sich sogar der in solchen Missionen erfahrene Ex-US-Präsident Carter noch einmal dazu bereit gefunden. Es gibt übrigens Wahlbeobachter vor Ort, nur eben nicht aus "dem Westen", sondern z.B. aus Afrika (es wäre nicht die letzte Ironie in dieser Sache, wenn gerade Afrikaner ihren langjährigen Kolonialmächten die Grundzüge von Demokratie auseinandersetzen müssten).

Einerlei, Entsendung von Wahlbeobachtern war offenbar nie ein Thema in NATO- oder EU-Kreisen. Ernster nehmen kann man den Einwand, dass die Abhaltung der Referenden nicht "legal" sei, ja laut den Kiewer Offiziellen gar einen "Völkerrechtsbruch" darstelle.

Da wird es aber kompliziert, denn das Völkerrecht kennt sowohl das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" als auch die "Unverletzlichkeit vorhandener Staatsgrenzen". Ohne eine Veränderung der Staatsgrenzen lässt sich aber offenkundig eine staatliche Neugründung oder aber der Anschluss eines Gebietes an einen anderen Staat nicht durchführen. Und wo die "Scheidung" nicht halbwegs einvernehmlich geschieht, wie etwa im Falle von Tschechien und der Slowakei, ist auch kaum zu erwarten, dass der "alte" Staat dem Sezessionsanspruch durch ein geregeltes gesetzliches Verfahren Raum geben wird. Insofern sind fast alle Sezessions- oder Unabhängigkeitsbewegungen (denken wir an die De-Kolonialisierung nach den zweiten Weltkrieg) formal illegal.

Interessant ist nun, dass der sogenannte Wertewesten seine Zustimmung oder Ablehnung zu Sezessionen und den diesbezüglichen Referenden ganz klar von seinen Interessen abhängig macht. So wurde die Sezessionsbewegung in Katalonien vor wenigen Jahren mit voller Zustimmung der EU-Eliten auf Kommando der Madrider Regierung zusammengeknüppelt, während man EU-seits den Sezessionsbestrebungen der Schotten - nach dem BREXIT - durchaus Zustimmung signalisierte. Die Referenden in den Nachfolgestaaten Yugoslawiens erhielten von EU und NATO nie das Label "Scheinreferenden", während die "territoriale Integrität der Republik Yugoslawien" nicht einmal der Erwähnung wert war. Reinste Doppelstandards also.

Wenn wir noch ein letztes Mal den Vergleich mit der Ehe oder aber Scheinehe ziehen wollen: Ist es denn überhaupt vorstellbar, dass die offenkundig schwer zerrüttete "Ehe" zwischen Kiewer Ukraine und den Donbass-Regionen noch irgendwie zu kitten wäre?

Wer sich vorstellt, die Schleswig-Holsteiner hätten irgendwann den Beschluss gefasst, sich "Schleswiger Republik" zu nennen und wären in der Folge von der Bundeswehr 8 Jahre lang mit sporadischem Artilleriebeschuss terrorisiert worden, kann sich die Antwort denken. Nein, die Absicht der Kiewer Regierung war nie, die "abtrünnigen" Republiken wieder heim zu "Mutter Ukraine" zu führen, sondern man wollte genau den Bürgerkrieg. Und dieser war in Washington als Vorstufe zu einem "bleed-the russians-white"-Krieg oder Wirtschaftskrieg schon längst geplant - wie man auch einer RAND-Studie von 2019 entnehmen kann (https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR3063.html).



5. Schein-Nachrichten

Kommen wir auf die Berichterstattung von Tagesschau und Co. zurück, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit dem unablässig wiederholten Begriff "Scheinreferenden" eine mindestens voreilige Aburteilung des Vorgangs vorgenommen wurde, denn "Schein" oder "Nicht-Schein" könnte man ernsthaft frühestens nach Abschluss und Auswertung der Abstimmungen entscheiden. Wie bei vielen anderen Themen hat man sich bemüht, dem Zuschauer eine und nur eine Deutung der Geschehnisse einzubläuen. Bei Tagesschau und Co. bedanken sich die neuerdings zu Interviewern mutierten Nachrichtensprecher/innen allerdings artig bei den "Reportern vor Ort" für die richtige "Einordnung" des Geschehens. Die nahezu blitzartige Gleichzeitigkeit der Verwendung solcher Begriffe (Scheinreferenden, Kriegsverbrechen, territoriale Integrität...) seitens Regierungen und etablierter Medien führt allerdings bei mir zu einer ganz anderen "Einordnung": Wir haben es leider immer mehr nicht mit Nachrichten, sondern mit Schein-Nachrichten vulgo Propaganda zu tun.



6. Scheinriesen in Berlin

Der Scheinriese Tur-Tur hat offenkundig in der Berliner Republik Nachahmer gefunden. Bezüglich Russland bläst sich Kanzler Scholz zu exorbitanter Grösse auf und verkündet quasi vom Berge Sinai herab "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen". Aussenministerin Baerbock möchte möglicherweise ihren Grossvater rächen, der an der Oder an den letzten Rückzugsgefechten der Wehrmacht teilnahm: "Das wird sie [die russische Wirtschaft] ruinieren". Derweil schwärmt die verbale Panzerhaubitze Strack-Zimmermann von den Vorzügen der realen "Haubitze 2000", das Interesse Ihres vermutlichen Sponsors Rheinmetall immer fest im Blick. Herr Habeck ruiniert derweil die deutsche Wirtschaft und bejubelt möglicherweise die so stattfindende "De-Karbonisierung".

Kaum anzunehmen, dass dieses Kabinett des Horrors noch einen Ausweg aus dem selber losgetretenen Wirtschaftskriegs-Chaos findet. Aber vielleicht sind Sorgen um den Zustand der deutschen Wirtschaft ja bald ohnehin zweitrangig, wenn der reale Krieg mit mehr als ein paar Flüchtlingsfrauen zu uns hinübergetragen wird.

(25.September 2022)





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