Meine Mutter, Butterpapier und der fette Göring



1.

>Die Gesellschaft der Hitlerzeit war eine Aufsteigergesellschaft, wie übrigens, auf etwas andere Art, schon die der Weimarer Republik und noch die der beiden heutigen deutschen Staaten.< *1

Die Aufsteigergesellschaft der frühen Hitlerzeit haben meine Eltern (Jahrgang 1920 bzw. 1924) als Jugendliche erlebt. Das Hitler'sche Wirtschaftswunder *2 allerdings entpuppte sich als Vorspiel zum von den Nazis immer schon angestrebten Grosskrieg, den meine Eltern dann als junge Erwachsene an der "Heimatfront" und - im Falle meines Vaters - an der "Ostfront" dann sehr bewusst erleben "durften". Nach der "Stunde Null" getauften Kapitulation des Reiches am 8. bzw. 9.Mai 1945 wurde es bald zum guten Ton, möglichst wenig von der "schlimmen Zeit", von der Kriegszeit also, zu reden. Die frühe Bundesrepublik vor allem übte sich in einer Art kollektiven Amnesie, in der es allerdings auch Platz für einige unangepasste Köpfe gab (Böll, Grass, Marcuse, Augstein etc.).

Auf der Ebene der Individuen kann man diese Verdrängungsbemühungen sicher gut verstehen, schliesslich waren die meisten Überlebenden durch das Kriegsgeschehen "schwer traumatisiert", wie man heute sagen würde. Kein Wunder also, dass mein Vater (meiner Erinnerung nach) nie über die Kriegszeit sprach und meine Mutter nur sehr selten.



2.

Als im Jahr des Sturzes des kubanischen Dikatators Batista *3 geborener gehöre ich sicher zu den "Wirtschaftswunderkindern". Lebensmittelläden mit übervollen Regalen waren für unsere Generation ganz normal. Auch allerlei Wegwerfartikel hatten sich schon im Alltag breitgemacht - Papiertaschentücher, Küchentücher, Einwegflaschen, Getränkedosen und manches andere. Meiner Mutter, die noch Mehl aus dem Schutt einer zerbombten Küche ausgesiebt hatte, mag das zumindest gelegentlich noch staunenswert vorgekommen sein, ihren Kindern aber nicht mehr. Andererseits aber hatte sie sich, nachdem Butter wieder zu erschwinglichen Preisen zu haben war, geschworen, nie wieder ein mit Margarine bestrichenes Brot zu essen.

Es war vermutlich in der Vorweihnachtszeit eines dieser Jahre, als wir Kinder uns beim Backen von Weihnachtsplätzchen (oder im Badischen "Brötle") nützlich zu machen versuchten. Gespannt sahen wir zu, wie die Mutter ganz akribisch die am Einwickelpapier *4 haftenden Butter-Reste mit dem Messer abschabte und zum Teig gab. Danach befragt, warum sie das so mache, gab sie eine der seltenen Kriegs-Anekdoten zum Besten:

"Der fette Göring hat damals eine Ansprache gehalten. Wenn jeder Deutsche ab sofort alle Butter-Reste schön ordentlich vom Papier abkratze, würde das zusammengenommen mehreren Eisenbahn-Waggonladungen voller Butter entsprechen."

Soweit meine Erinnerung. Vermutlich hat Göring, als "Feldmarschall" und Wirtschaftsminister des Dritten Reiches, dann noch auf die wehrwirtschaftliche Bedeutung solcherart Sparsamkeit hingewiesen, worauf auch ein anderer ihm zugeschriebener Ausspruch hinweist: "Kanonen werden uns stark machen, Butter macht uns nur fett!"

Sicher hat sich meine Mutter auch deshalb an diese Ansprache erinnern können, weil es Göring ausgerechnet in den Kriegsjahren gelang, seine ohnehin stattliche Leibesfülle sichtbar zu erweitern.



3.

Wir schreiben das Jahr 2022: In den Jahren nach 1945 ist nicht nur das Grossdeutsche Reich auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, sondern auch die DDR wie die Tschechoslowakei, die Sowjetunion wie die Republik Yugoslawien, das Britische Empire wie der Apartheidsstaat Rhodesien. Andere Staaten sind "wiedererstanden" oder gänzlich neu formiert worden. Zu diesen zählt seit 1991 auch die Ukraine, deren Schicksal momentan das Politikgeschehen bestimmt.

Das wiedervereinigte Deutschland, welches sich nicht mehr so gern "BRD" nennen lässt und das allem Anschein nach, wenn es nach den Eliten geht, wieder wie ein "Deutsches Reich" agieren soll, hat sich keine vier Tage nach dem "offiziellen" Kriegsbeginn sehr eindeutig auf der Seite der ukrainischen Regierung *5 positioniert. Und auch wenn offiziell noch auf der Formulierung "wir sind keine Kriegspartei" beharrt wird, so hat doch mindestens der aktuelle Wirtschaftsminister mehrfach formuliert, wir befänden uns in einem Wirtschaftskrieg mit Russland. Der berüchtigte Schnell-Twitterer Lauterbach (auch er immerhin Minister) liess den Zusatz "Wirtschafts-" allerdings gleich weg und textete schlicht "Wir befinden uns im Krieg mit Putin...". *6

Ob die BRD nun allerdings wirklich als Kriegspartei anzusehen ist, das wird nicht in Berlin, Brüssel oder Washington entschieden werden, sondern in Moskau - ob es der Bundesregierung gefällt oder nicht.



4.

Auffällig an den Handlungen der Bundesregierung - neben der Abwesenheit ernsthafter Friedensbemühungen schon im Vorlauf zur aktuellen Krise (also Ende 2021) - war die frühe Festlegung auf langfristige Massnahmen. Zwar waren insbesondere die Sanktionsmassnahmen als Mittel zur schnellen Beendigung des Krieges "verkauft" worden: "Wir drehen dem Putin einfach den Gas-Geldhahn ab, und dann muss er bald die Waffen strecken." Die "ökonomischen Wunderwaffen" des sogenannten Wertewestens haben allerdings der Kriegsführungsfähigkeit des selbsterwählten Gegners bislang bestenfalls kleinere Steinchen in den Weg gelegt - was man angesichts der konkreten Handels- und Wirtschaftsstrukturen allerdings schon vorher hätte erkennen können (oder müssen!). Alles andere - die neuen Gaslieferabkommen, die komplett neu zu installierenden LNG-Terminals, die gigantische Aufrüstung der Bundeswehr - ist offenkundig auf lange Sicht angelegt und kann zur herbeigesehnten "Entscheidung auf dem Schlachtfeld" wenig beitragen. Anders steht es um die militärische Aufrüstung der Ukraine sowie um die wirtschaftliche Unterstützung derselben. Ohne die Zuflüsse aus dem Westen wäre das korrupte Oligarchenregime in Kiew vermutlich schon lange pleite.

Der insbesondere von den USA angestrebte langfristige Abnutzungskrieg dürfte aber eher nicht zum "Endsieg" der Ukraine führen. Denn irgendwann werden schlicht die ukrainischen Männer (und Frauen) fehlen, denen man die schönen West-Waffen um den Hals hängen oder in deren Kampfwagen man sie setzen kann, denn - zumindest bislang - ist es ja ein Kampf "bis zum letzten Ukrainer" und ohne (offizielle) personelle Beteiligung des "Wertewestens".



5.

Was sich allerdings mittlerweile sehr deutlich herausgestellt hat ist die Tatsache, dass ein Wirtschaftskrieg auch die eigene Wirtschaft schädigt. Hier in Europa ist ein mit harten Bandagen ausgetragener Kampf um die letzten "freien" Erdgasreserven auf dem Erdball ausgebrochen, der nebenbei (aber auch erwartbar) zu einer bislang ungesehenen Verteuerung nicht nur dieses Energieträgers geführt hat. Dass der einzige Nutzniesser dieser Sachlage die USA sind, und zwar doppelt sowohl durch die neuen Exportrekorde für US-Frackinggas als auch durch die Verlagerung von Industrien in die USA selbst, dämmert zumindest einigen Beobachtern hierzulande *7.

Aber irgendwie muss ja mit den Gasknappheiten und den möglichen Blackouts umgegangen werden. Und unsere bundesdeutschen Politiker sind nun seit Wochen und Monaten ungefragt mit allerlei netten Ratschlägen unterwegs. Manches kann noch in die Rubrik "sinnvoll" einsortiert werden (Erneuern von Heizungsanlagen, sonstige Modernisierungen), anderes kommt allerdings bizarr daher: der eine empfiehlt, weniger oft zu duschen - der andere rät zu Waschlappen *8. Und manche Kommunen machen sich Gedanken um diejenigen, die im Winter möglicherweise in ungeheizten Wohnungen hocken und planen dafür "Aufwärmhallen".

Und damit sind wir wieder bei unserem Sparsamkeit predigenden Herrn Göring aus dem "Tausendjährigen Reich": Es wird letztlich wieder eine Kriegswirtschaft zumindest propagandistisch vorbereitet. "Frieren für die Ukraine" und "Sparen für Selensky" werden vielleicht die nächsten offiziellen Losungen sein? Noch bin ich mir unsicher, ob all' das Gerede um halbvolle, halbleere oder fast volle Gasspeicher, um Abschalten von Gebäudebeleuchtungen oder offene Ladentüren vorrangig Panik schüren soll, weil ja an allem "der böse Russe" schuld sein soll - oder ob man einfach nur schon ein paar Sündenböcke vorbereitet, damit man - wenn die ersten wirklichen Blackouts kommen - sagen kann: "Ihr blödes Volk wart ja selber schuld - hättet ihr 'mal nicht soviel geduscht!"



6.

Mit den gefangenen NS-Grössen, über deren Schandtaten in Nürnberg ab Ende 1945 Gericht gehalten wurde, durfte sich damals ein US-Psychologe recht intensiv unterhalten. Dieser Mr. Gustave Gilbert fasste diese Interviews in einem kleinen Buch mit dem Titel "Nuremberg Diary" ("Nürnberger Tagebuch") zusammen. Einer seiner interessantensten Interviewpartner war Hermann Göring, der im Laufe der Prozesstage zu einer Art inoffiziellem Sprecher der NS-Angeklagten wurde - nicht von ungefähr: Obwohl früh als "fatty Goering" oder "Göring, der Fettsack" verspottet, verbarg sich im aufgeblasenen Körper durchaus ein cleverer Geist, weswegen er auch in der Frühphase des Hitler'schen Aufstiegs so unentbehrlich für den Diktator war.

Die englische Wikipedia zitiert wohl auch deshalb diesen Absatz aus Gilberts Buch wörtlich:

>> Göring: Why, of course, the people don't want war. Why would some poor slob on a farm want to risk his life in a war when the best that he can get out of it is to come back to his farm in one piece? Naturally, the common people don't want war; neither in Russia, nor in England, nor in America, nor for that matter in Germany. That is understood. But, after all, it is the leaders of the country who determine the policy and it is always a simple matter to drag the people along, whether it is a democracy, or a fascist dictatorship, or a parliament, or a communist dictatorship.

Gilbert: There is one difference. In a democracy the people have some say in the matter through their elected representatives, and in the United States only Congress can declare wars.

Göring: Oh, that is all well and good, but, voice or no voice, the people can always be brought to the bidding of the leaders. That is easy. All you have to do is tell them they are being attacked, and denounce the pacifists for lack of patriotism and exposing the country to danger. It works the same way in any country.<<

Leider habe ich keinen Hinweis darauf finden können, ob das Interview im Original auf Englisch geführt wurde (das Göring wohl beherrschte), oder aber mindestens seitens Görings auf deutsch und dann übersetzt wurde. Deshalb versuche ich mich an einer teilweisen (Rück?-)Übersetzung:

Görings 5. Satz: "Letztendlich sind es immer die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer recht einfach, das Volk in die gewünschte Richtung zu ziehen, egal, ob es sich um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, ein Parlamentssystem oder eine kommunistische Diktatur handelt."

Auf Gilberts Einwand, dass in den Demokratien doch das Volk durch die gewählten Repräsentanten zumindest etwas Einfluss auf die Entscheidungen habe, entgegnet Göring:

"Das ist schön und gut, aber egal ob stimmberechtigt oder nicht, das Volk kann immer dazu gebracht werden, der von der Führung vorgegebenen Linie zu folgen. Das ist einfach. Man muss ihnen nur sagen, dass sie angegriffen werden, und schon kann man die Pazifisten wegen ihres mangelnden Patriotismus geisseln und dass sie damit das Land in Gefahr brächten. Das funktioniert genau so in jedem Land."



7.

Hatte Göring recht? Wie bestellt wurde spätestens seit dem 27.Februar massen-medial gegen alles "geschossen", was für Verhandlungen oder Friedensbemühungen argumentierte. Formulierungen wie "der freie Westen wird von Russland angegriffen" oder "die Demokratie wird von Putin angegriffen" sind zu Standardformeln geworden, und ein Sascha Lobo nutzte ohne zu zögern im SPIEGEL wieder das alte Verleumdungswort "Lumpenpazifisten". Selbst eine so dezent und wohlüberlegt argumentierende Professorin wie Ulrike Guerot musste sich in einer vielgesehenen Talkshow von einer Troika aus linientreuen Medien- und Polit-Chargen niederschreien lassen.

Jeder mit nur etwas Geschichtsverständnis weiss, dass die Krim nie wieder zur Ukraine "zurückkehren" wird (wollten die Bewohner dort das jemals?), und nach den nunmehr abgehaltenen Referenden gilt es ähnlich vermutlich auch für die vier anderen Provinzen. Das immer noch mantra-mässig wiederholte Ziel der "Erhaltung der territorialen Integrität der Ukraine" ist als politisches Ziel durch den Lauf der Ereignisse genauso absurd geworden, wie es in den 1970er Jahren die Forderung nach "Nicht-Anerkennung der Oder-Neisse-Linie" war.

Immerhin, einer der regelmässigen ZEIT-Autoren, Michael Thumann, lässt sich in der Ausgabe 41 zu der Aussage hinreissen:

"Verhandeln, ja" um noch im Titel hinzuzufügen "– aber nicht jetzt!" Und der Untertitel stellt klar "Russland muss sich erst noch mehr zurückziehen."

Was für ein mutiger Kerl, dieser Herr Thumann, wie er da löwenstark um jeden Zentimeter ukrainischen Bodens ringt! Freilich ein Mut, der sich aus der Ferne gut proklamieren lässt, denn es ist ja nicht Herr Thumann, der von Kugeln oder Granaten der einen oder anderen Seite zerfetzt wird und Leben oder Gesundheit auf dem Schlachtfeld opfern muss. Sondern es sind die ukrainischen und russischen Soldaten, die da für Herrn Thumanns kategorische Forderung nach Rückzug Russlands bluten sollen. Vielleicht wäre es Zeit, sozusagen als Pendant zu "Lumpenpazifisten", von "Schreibtisch-Kombattanten" zu reden?

(09.Oktober 2022)



*1 aus Sebastian Haffner: "Von Bismarck zu Hitler" 1987

*2 auch dieser Begriff ist von S. Haffner

*3 Dem Umsturz 1959 folgten ereignisreiche Jahre nicht nur für die kleine Insel (die Invasion in der Schweinebucht, die Raketenkrise). Der Umstürzler namens Fidel Castro und sein Volk wurden schon bald von den USA hart "sanktioniert". Ob der Wirksamkeit der US-Sanktionen erschrak der Revoluzzer knappe 57 Jahre später so sehr, dass er sich in ein Krankenhausbett zurückzog und dort friedlich verstarb (soviel zur Wirksamkeit von Sanktionen...)

*4 In den 1960ern war zwar auch schon die heute übliche aluminium-kaschierte Umhüllung für manche Marken üblich. Vorwiegend wurde aber die "Deutsche Markenbutter" in der (bis auf den Aufdruck mit dem Bundesadler) schmucklosen, fettbeständigen Papierumhüllung verkauft.

*5 Ob die ukrainische Regierung überhaut noch im Sinne des ukrainischen Volkes handelt, wäre eine weitere Frage.

*6 Herr Lauterbach hat sich zwischenzeitlich etwas von seiner Aussage distanziert. Dass er sie zunächst einmal überhaupt machen konnte, deutet ja zumindest auf einen gewissen "set of mind" innerhalb der Regierung hin.

*7 Beispielsweise dem unkonventionellen Familien-Unternehmer Grupp von der Fa. Trigema - siehe etwa hier.

*8 Die entsprechenden Auslassungen der Herren Habeck und Kretschmann dürften inzwischen wohlbekannt sein.



www.truthorconsequences.de