Das "Neue Deutsche Reich" -

Sebastian Haffner weitergedacht



1987

In diesem Jahr erschien Sebastian Haffners kompaktes Buch "Von Bismarck zu Hitler". Die behandelte Zeitspanne reicht, der Titel deutet es schon an, von der Mitte des 19. Jahrhunderts (denn auch die Vorgeschichte der Reichsgründung 1871 wird behandelt) bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Und auch die Nachkriegsgeschichte, soweit sie für das Verständnis des "Nachlebens des Deutschen Reiches" erforderlich ist, wird von Haffner dargestellt.

Es ist meiner Ansicht nach die kompakteste und gleichzeitig scharfsinnigste Darstellung der jüngeren deutschen Geschichte, und wenn es nach mir ginge, sollte jeder Heranwachsende vor dem Schulabschluss das Buch gelesen haben.



1990

Drei Jahre später war die DDR implodiert, die "Wiedervereinigung" brachte nicht nur Fussballtrainer ins Schwärmen ("...wir werden für die nächsten Jahre nicht zu besiegen sein" tönte ein Franz Beckenbauer über die neue Fussball-Nationalmannschaft). Sebastian Haffner, schon 1987 schwer krank, fügte der Neuausgabe seines Buches ein Nachwort an: "Dieses Buch erschien in Deutschland 1987 und scheint in seinen Schlußfolgerungen durch die Ereignisse des Jahres 1990 widerlegt. … Ich wage es trotzdem, mein Buch dem Publikum immer noch unverändert anzubieten."

Ein weiteres originäres Werk anzugehen, fehlte Haffner offenbar die Kraft. Der 1997, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Essayband "Zwischen den Kriegen" enthält vorwiegend älteres Material. Ein sich angesichts der Ereignisse logisch anbietender Nachfolgeband zu "Von Bismarck zu Hitler" konnte von ihm nicht mehr angegangen werden.



Widerlegt?

Wieso eigentlich schrieb Haffner 1990, dass sein Buch "... in seinen Schlußfolgerungen durch die Ereignisse des Jahres 1990 widerlegt [zu sein scheint]"? Nun, im letzten Kapitel geht es um die "Nachgeschichte des Deutschen Reiches"; und Haffner beginnt es wie folgt:

"Das Bundesverfassungsgericht hat 1973 die These aufgestellt, das Deutsche Reich bestehe noch. Es sei – obwohl nicht mehr handlungsfähig – ein Völkerrechtssubjekt geblieben."

Im übernächsten Satz hält er dagegen: "Seit 1945 haben sich aber mehr als 40 Jahre Geschichte in Deutschland abgespielt, die ständig weiter von der auch nur schattenhaften Existenz eines Deutschen Reichs weggeführt haben."

Und er endet das Kapitel so: "Ein Rückblick auf seine [des Deutschen Reiches] Geschichte macht es fraglich, ob das wirklich zu beklagen ist. Diese Geschichte mit all ihren Taten und Leiden, Brüchen und Schrecken ist übrigens nur knapp doppelt so lang wie der Abstand, der uns heute von ihr trennt. Und der Abstand wächst von Jahr zu Jahr."



2022

Lag Haffner nun also 1987 falsch, hatte die "Wende" sein Werk zur geistigen Makulatur gemacht? Interessanterweise hat sich nach 1990 niemand mehr die Mühe gemacht, vom Bundesverfassungsgericht abschliessend klären zu lassen, ob denn nun das Deutsche Reich - wie 1973 vom BVG behauptet - noch existiere oder nicht. Im Gegenteil, auf dem internationalen Parkett wird so agiert, als hätte es immer nur dieses "Deutschland", welches sich nicht mehr BRD nennen mag, gegeben. So wie die Adenauer-BRD gerne vergessen machen wollte, dass es da vorher einen Nazi-Staat gegeben hatte (von dem man notgedrungen oder nicht zahlreiches Personal übernommen hatte), so gab sich die neue Gross-BRD alle Mühe, den vier Jahrzehnte bestehenden Dualismus BRD-DDR vergessen zu machen.

Bezüglich des Personals war man möglicherweise sogar erfolgreicher als zu Adenauers Zeiten, denn von der politischen Bühne sind nahezu alle noch aus DDR-Zeiten bekannten Ost-Personen verschwunden *1, und auch die Spitzen-Positionen in den Verwaltungen der Ost-Länder werden von West-Personal dominiert *2.

Aber Haffner hatte in und für 1987 zweifellos recht: Das Deutsche Reich war sowohl als Völkerrechtsobjekt als auch -subjekt so tot, wie es nur sein konnte: Beide deutschen Staaten sassen gleichberechtigt in der UN, beide schlossen Verträge mit sich und anderen Staaten, scheinbar gab es in keinem der beiden den Wunsch zur Rückkehr zum Deutschen Reich.



"Auferstanden aus Ruinen..."

Im wörtlichen Sinne waren 1949 beide deutschen Staaten "aus Ruinen auferstanden" - im einen vollzog sich der materielle Wiederaufbau etwas schneller, im anderen musste man länger "strampeln". Aber es gibt wohl auch Geistesströmungen, die untergründig weiterwirken, auch wenn die staatlichen Realitäten scheinbar ganz andere sind. Diese Realitäten, die die sozialliberalen Regierungen nach 1969 anerkannten und im Rahmen ihrer "neuen Ostpolitik" konkret-praktisch positiv zu gestalten versuchten, haben - das muss man heute konstatieren - nicht die Sehnsucht in den Köpfen einiger Deutscher nach einem starken, mächtigen, mindestens Europa beherrschenden "Deutschland" beseitigen können.

Diese Sehnsucht - und da kann man Haffners Buch wieder mit Gewinn lesen - gibt es in deutschen Landen mindestens seit den napoleonischen Kriegen. Die damaligen Demütigungen durch die französische "Grande Nation" haben sich ins kollektive Unterbewusstsein langfristig eingegraben und gaben späteren Eliten immer wieder den Anstoss, das politische System auf Machterweiterung auszurichten. Die expansionistischen Reichsregierungen unter Wilhelm II. und später unter Hitler standen so gesehen durchaus in einer "Tradition", die freilich direkt in die Katastrophen des ersten und zweiten Weltkriegs führte.

Hatte man nun daraus nach 1945 gelernt? Jedenfalls gaben sich beide deutsche Staaten alle Mühe, vor allem als zivile (zivilisierte?) Staaten ohne jegliche Expansionsgelüste zu erscheinen. Und die West-BRD konnte es sich nach dem Londoner Schuldenerlass von 1953 auch gut leisten, z.B. die moralisch begründeten Ansprüche Israels mit reichlichen "Wiedergutmachungs"-Zahlungen abzugelten. Und selbst Politiker wie Franz-Josef Strauss hatten ja geradezu pazifistische Sätze formuliert: "Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen." (1949).

Spätestens in den 1970er Jahren war diese Zweistaatlichkeit von den europäischen Nachbarn nicht nur akzeptiert, sondern auch gewünscht: "Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei sollten es auch bleiben." - so zitiert Haffner den langjährigen italienischen Aussenminister Andreotti aus jener Zeit.



"Die geistig-moralische Wende"

Es war 1983, als der durch das Umfallen der FDP an die Macht gelangte neue Kanzler Helmut Kohl die "geistig-moralische Wende" ausrief. Trotz aller Bemühungen der ersten Kohl-Regierungen, solche "Wenden" z.B. im Mediensektor einzuleiten - eigentlich war Kohl mit diesem Satz seiner Zeit voraus. Denn die wirkliche "Wende" erfolgte doch erst 1989/1990 mit der Auflösung der DDR und der sogenannten "Wiedervereinigung". Für die meisten Westdeutschen war es garnicht so offensichtlich, was da eigentlich angestossen worden war - denn vordergründig waren nur fünf neue Bundesländer in die BRD aufgenommen worden. Gewiss, nun konnte man wieder ungehindert nach Rostock oder Dresden fahren, und wer z.B. glaubte, Anspruch auf irgendwelchen Immobilienbesitz im "Osten" zu haben, konnte ihn nun geltend machen. Im neuen Parlament sassen nun Leute, die eine komische Dialektfärbung in die Debatten brachten - aber sonst war doch nicht viel passiert *3. Die Verfassung war die gleiche, das massgebende politische Personal war das gleiche - da konnte man doch die neue internationale Aufmerksamkeit ganz unbefangen geniessen.

Aber es war eben weitaus mehr passiert als das. In den politischen und wirtschaftlichen Eliten war der etwas verdrängte Gedanke an Machterweiterung im Sinne eines "Grossdeutschlands" wieder da. Ein Grossdeutschland im Sinne der Paulskirchen-Deputierten von 1848 oder auch Hitlers von 1938 war es zwar nicht, denn es fehlten ja Österreich und auch das (ohnehin eigentlich vergessene) Ostpreussen. Aber schon in seinem Nachwort von 1990 mahnte Haffner, "...daß gerade die unerwartete Wiederherstellung des deutschen 80-Millionen-Kolosses, ..., Anlaß bietet, seine bisherige Geschichte – die Geschichte seiner Wandlungen von Bismarck zu Hitler – möglichst klar ins Gedächtnis zurückzurufen."

Und der Koloss schritt voran, zunächst mit kleinen Schritten, schliesslich immer ausgreifender. Das Gelände dazu war naheliegenderweise zunächst die EU, die seit 1990 immer deutsch-dominierter geworden ist.



D-EUropa

Die EU war spätestens 2016, nach der Demütigung und Abstrafung Griechenlands, fest in "deutscher Hand", und ein CDU-Funktionär stellte triumphierend fest: "In Europa wird jetzt deutsch gesprochen!" Dieses deutsch-dominierte EU-Europa ist nun natürlich anders strukturiert, als es das Deutsche Reich des zweiten Wilhelms war. Die sukzessive fortschreitenden Souveränitätsverluste der 27 EU-Mitgliedsstaaten sind für den "kleinen Hegemon" namens Deutschland unterm Strich ein Machtgewinn - zumindest solange, als sich nicht im EU-Rat plötzlich Widerstand bei dem einen oder anderen Thema regt. Auch die EU-Funktionärselite hat durchaus ihre eigenen, nicht immer mit den Interessen der jeweiligen deutschen Regierung deckungsgleichen Ziele. Im grossen und ganzen kann sich der Wirtschaftskoloss BRD aber meist durchsetzen.

Dazu kommt, dass nicht nur in der BRD das Regierungshandeln immer weniger als "patriotisch" im Sinne von "für die eigene Bevölkerung" bezeichnet werden kann, sondern man sich bereitwillig dem "Diktat der Märkte" oder auch grosser Einzelunternehmen unterordnet. So haben beispielsweise die manchmal für Aufsehen sorgenden "Verfahren" gegen die grossen IT-Oligopolunternehmen eher den Charakter von Scheingefechten, man einigt sich schnell auf (in Relation) unbedeutende Strafsummen, anstatt das ins Auge springende Problem (die unzulässig ausgedehnte Marktmacht der Unternehmen) wirklich anzugehen.

Aber wie zu Kaisers Zeiten der Drang, einen "Platz an der Sonne" zu ergattern, sich mehr und mehr Bahn brach, so ist auch das neue "Deutsche Reich" durchaus noch nicht "saturiert". Oder, um einen Sangesbarden der 1970er Jahre zu zitieren: "Doch dann wurde es mir in Deutschland zu klein, drum zog ich in die Welt hinein"



"Weltgeltung" - "Welt-Verantwortung"

War im Kaiserreich die von den Eliten ausgegebene Losung, dass das Reich endlich "Weltgeltung" erlangen müsse, so ist in der Berliner Republik die Chiffre dafür "Verantwortung übernehmen". Und dies ist eigentlich fast immer militärisch gemeint.

So zieht also das "neue Deutschland" *4 munter in die weite Welt. In Afghanistan hat sich zwar das "wir kümmern uns um Brunnen und Mädchenschulen" als Totalversagen herausgestellt, aber dies hemmt die "Verantwortungsübernehmer" keineswegs in Ihrem Tatendrang. Die Mali-"Missionen" dürften das gleiche Ende ereilen, aber man hat ja schon Fernost im Visier. Deutsche Fregatten und deutsche Kampfjets werden den Festlands-Chinesen schon klarmachen, dass Weltgeltungs-Deutschland keine Einschüchterung der plötzlich zum demokratischen Vorzeigestaat stilisierten Insel Taiwan hinnehmen wird. Sicherlich wird die Führung in Peking angesichts solcher Entschlossenheit, "feministische Aussenpolitik" durchzusetzen, schon vor Angst mit den Zähnen klappern. Womöglich sieht sich mancher der neuerwachten Armstuhl-Strategen auf den Berliner Regierungsbänken schon als Rückeroberer der einstmals deutschen Provinz Tsingtao. "Wenn nur die Schlitzaugen keine Atomwaffen hätten..."

Der Hauptfokus der BRD-Regierung ist allerdings derzeit die Ukraine. Der Kanzler hat ja schon sein Machtwort gesprochen: "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen". Also werden nicht nur massenhaft Munition, Haubitzen, Raketen und natürlich auch Geld in die (Rest-)Ukraine gepumpt, sondern es werden auch Hundertschaften (und bald Tausende) ukrainischer Soldaten auf deutschem Boden ausgebildet. Der Bevölkerung wird vorgegaukelt, dass man deswegen trotzdem noch nicht "Kriegspartei" sei (obwohl dies der eigene wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits eindeutig so eingeordnet hat). Noch hält der Propagandavorhang, den man vor dem angeblichen demokratischen Musterstaat Ukraine erreichtet hat, und die deutschen Medien schliessen ganz fest beide Augen, wenn irgendwo wieder die Hakenkreuze bei den Neonazi-Hilfstruppen des Herrn Selensky hervorblitzen. Und wer trauert noch der praktisch restlos beseitigten Pressefreiheit im Klientelstaat Ukraine hinterher, wenn Frau Selenska so meisterhaft für VOGUE *5 abgelichtet wird?



"Dienende Führung"

Vermutlich sind die transatlantisch geprägten Führungskader in Berlin auch deswegen so felsenfest von ihrem Kurs überzeugt, weil sie ihn garnicht selber ausarbeiten mussten. Sondern es wird ja fast schon sklavenhaft das umgesetzt, was die "Führungsmacht des freien Westens", also die USA, vorgibt. Folgerichtig werden auch Fragen zur Urheberschaft des Sabotageanschlags auf die wichtigsten Versorgungspipelines Deutschlands (in der Ostsee am 26.September) abgewiegelt, nicht einmal den eigenen Parlamentariern mag man Auskunft über den Ermittlungsstand geben (siehe hier).

Herr Habeck hatte dafür von einem USA-Besuch auch schon das passende Etikett mitgebracht: "Dienende Führung" wolle man praktizieren. Ein "bisserl" führen darf man also, nämlich in der EU, damit die europäischen Schäfchen auch immer schön das tun, was die Chefs *6 in Washington anordnen. Die unseligen Sanktionspakete, von denen man schon seit den ersten Auflagen 2014 wusste, dass sie die europäischen Staaten ungleich mehr schädigen, ja schädigen müssen, als die USA, werden also durchgezogen. Der Krieg wird geschürt, Vermittlungs- bzw. Friedensverhandlungen werden stur abgelehnt. Noch sterben ja nur die Ukrainer "für die Freiheit"...

Einen solch aberwitzig gefährlichen Kurs hatte nach 1945 bislang keine der westeuropäischen Regierungen gesteuert! Aber insbesondere die GRÜNEN machen sich ja ostentativ keine Sorgen ob einer möglichen Eskalation zu Atomwaffen-Einsatz. Stattdessen berauscht man sich an der neuerlangten "Weltgeltung" und lobt sich unablässig selbst ob der heldenhaften "Verantwortungs-Übernahme".

Wie sang der schon zitierte Barde damals in einer der weiteren Strophen: "Da wurde es mir auf der Welt zu klein, drum zog ich in den Himmel rein". Und endete mit einem lapidaren "Das war's".


(18.Oktober 2022)


*1 Spontan fällt mir nur noch Gregor Gysi ein, der aber mittlerweile eher auf Talkshow-Plauderer umgesattelt zu haben scheint.

*2 Zugegebenerweise trennten die Adenauer-Jahre auch nur maximal 2 Jahrzehnte vom Dritten Reich. In den 3 Jahrzehnten nach der "Wiedervereinigung" sind natürlich viele Personen schlicht aus biologischen Gründen von der Bühne verschwunden, es sind aber auch kaum welche aus dem Osten nachgerückt.

*3 Die (West-)Berliner, die nun gerade in der Nach-Maueröffnungs-Zeit erhebliche Um- und Anpassungschwierigkeiten zu erleiden hatten, mögen mir diese aus der tiefsten westdeutschen Provinz beschriebene Darstellung verzeihen.

*4 Haffner selbst hielt seine Landsleute allerdings nicht für Grossmacht-tauglich: "Als ein Argument für den Föderalismus habe ich in dem Buch aufgeführt, dass sie [die Deutschen] als Bewohner einzelner, kleinerer, allenfalls mittlerer Staaten sehr umgänglich und anständig sind, aber als Bewohner einer Grossmacht werden sie unangenehm." (aus einem Interview von 1989)

*5 Siehe z.B. hier: https://www.rangefinderonline.com/

*6 Fast hätte ich geschrieben "der Chef" oder "der US-Präsident" - aber wer schon einmal eine in unverständliches Gestammel abgleitende längere Rede Mr. Bidens gehört oder aber eines der zahlreichen Videos gesehen hat, in denen der Mann nach abgegebenem Statement orientierungslos auf der Bühne herumirrt, kann nicht glauben, dass dieser Mann wirklich die Geschicke seines Landes bestimmt. Nicht umsonst gibt es in den USA die Spottfrage "Who controls Joe Biden? Whoever controls the teleprompter!" Bei George W. Bush war es noch klar, wer wirklich "die Zügel in der Hand" hielt, nämlich Vice President Dick Cheney. Aber auch die bei Interviews gerne in unkontrolliertes Kichern ausbrechende aktuelle Vizepräsidentin Kamala Harris gehört eher nicht zu den wirklichen Chefs.



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