Die Biermann-Ausbürgerung 1976 - fast 50 Jahre danach



1.

Ende des Jahres 1976 sorgte die Staatsführung der DDR für eine beide deutschen Staaten erschütternde Sensation. Im "Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei", der Zeitung "Neues Deutschland", wurde das Ereignis wie folgt verkündet:

Dem gerade auf einer Tournee in Westdeutschland (der BRD) weilenden Liedermacher und Schriftsteller Wolf Biermann wurde also die Staatsbürgerschaft entzogen, und damit konnte er nicht mehr in die DDR zurückkehren. In den Folgetagen beherrschte dieses Ereignis die Schlagzeilen der "Westpresse", ebenso wie Funk- und Fernsehen (damals hauptsächlich ARD und ZDF). Das, was man damals "konservative" oder "rechte" Kommentatoren nannte, wie z.B. Gerhard Löwenthal vom ZDF, fühlten sich in ihrer langjährigen Einschätzung der DDR als "Unrechtsstaat", der die Menschenrechte mit Füssen trete, bestätigt.

Aber auch Publikationen, die sich um eine differenziertere Berichterstattung über die DDR bemüht hatten, konnten nicht umhin, das als schwere Verletzung der Menschenrechte zu bezeichnen. Ausser vielleicht bei der (erheblich von der DDR gesponsorten) DKP war die Ablehnung dieses Vorgehens recht einhellig.



2.

Der im Westen oft als "Dissident" bezeichnete Biermann war also plötzlich aus seinem Heimatstaat "ausgesperrt", freilich nicht ganz mittellos. Seine schon seit einiger Zeit (auch) von westlichen Buch- und Musikverlagen vermarkteten Werke hatten gewisse Erlöse in "Westmark" generiert. Es standen ihm auch zahlreiche prominente Künstler der alten BRD (z.B. Heinrich Böll und Günter Wallraff) moralisch und praktisch zur Seite (siehe z.B. dieses Foto) und erleichterten ihm das Einleben in "Westworld".

Eigentlich war er auch ein merkwürdiger "Dissident", denn im Gegensatz zu zahlreichen anderen mehr oder minder prominenten Ost-Dissidenten lehnte er den DDR-Staat gar nicht prinzipiell ab, sondern fand ihn nur im Sinne der sozialistischen Verheissung arg unvollkommen. Er wollte also eigentlich nur eine "bessere DDR". Diese Einstellung behielt er sogar noch eine ganze Weile nach seiner Ausbürgerung bei, bezeichnete sich immer noch als "Sozialist" oder "Marxist" *1. Womit er für das konservativ-rechte Lager schon bald ein unbehagliches Thema wurde.

Das verheerende internationale Echo auf die Ausbürgerung war vermutlich bis zu einem gewissen Grad von der Staatsführung vorausgesehen worden, weswegen man wohl bewusst damit gewartet hatte, bis die DDR endlich (1973) den lang ersehnten Sitz in der UNO-Vollversammlung einnehmen konnte. Denn aus den später bekanntgewordenen StaSi-Unterlagen geht hervor, dass man Biermann eigentlich schon seit Ende der 1960er-Jahre gerne "losgeworden" wäre.



3.

Eher eine Überraschung für die DDR-Führung war, dass der Vorgang eine Solidaritätswelle unter heimischen Künstlern und Intellektuellen auslöste. Berühmt wurde der bescheiden mit "Erklärung der Berliner Künstler" übertitelte Brief, unterzeichnet von zahlreichen prominenten DDR-"Kulturschaffenden" - teilweise sogar Nationalpreisträgern *2:

Auch nachdem der Vorgang im Westen längst dem Vergessen anheimgefallen war, blieb die Frage "Wie hast Du dich bei Biermanns Ausbürgerung verhalten?" unter den DDR-Intellektuellen untergründig immer präsent und sollte in der sogenannten "Wendezeit" 1989/1990 wieder sehr relevant werden.

Die Ausbürgerung wurde nie zurückgenommen, und bis auf einen "gnädigerweise" 1982 gestatteten Kurzbesuch beim schwerkranken Robert Havemann, sollte Biermann seine Heimat *3 erst nach der "Wende" wieder betreten können *4.





4.

Dass der Vorgang einen Verstoss gegen die Menschenrechte darstellte, war also damals wie gesagt Konsens in den westlichen Medien. Dabei wurde aber, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, nicht wirklich genau dargelegt, welche Menschenrechte nun genau verletzt wurden. Zeit also, dies für unsere so paragraphenselige Gegenwart nachzuholen, und zwar anhand der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 (siehe hier), die zu den Gründungsdokumenten der Vereinten Nationen zählt.

So betrachtet hat die damalige DDR-Führung also mindestens gegen diese Artikel verstossen:

Art. 2: Verbot der Diskriminierung, hier wegen politischer Überzeugung

Art. 9: Schutz vor Verhaftung und Ausweisung

Art.10: Faires Gerichtsverfahren

Art.15: Recht auf Staatsangehörigkeit

Art.19: Meinungs- und Informationsfreiheit



5.

In der Rückschau könnte man sagen, dass die Ausbürgerung Biermanns eine ziemlich verzweifelte Notmassnahme eines Regimes war, dem schlagende Argumente zur Rechtfertigung der eigenen Existenz abhanden gekommen waren - eben auch der eigenen Bevölkerung gegenüber.

Seither sind fast 50 Jahre vergangen. Die "neue" Bundesrepublik hat, wie die meisten EU-Länder, einen Gutteil ihrer Souveränität an die EU abgegeben, und deshalb werden nunmehr auch sehr weitreichende Beschlüsse nicht mehr in Bonn oder Berlin, sondern in Brüssel gefasst. Und die EU eifert ihrem grossen Vorbild USA auch darin nach, ganz ausgeprägt Sanktionen zum Mittel ihrer Aussenpolitik zu machen. Weswegen die EU auch selber von einem "Sanktionsregime" spricht, wörtlich übersetzt also einem "Regieren mit Bestrafungen" oder "Betrafungsregierung". Seit über 10 Jahren wird eifrig sanktioniert, und Ziele dieser Sanktionen können ganze Staaten, politische und wirtschaftliche Organisationen, aber auch Einzelpersonen sein.

Besonders nach dem Februar 2022, als die EU aufgrund der Eskalation des Krieges in der Ukraine "Sanktionen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat" *5 gegen Russland verhängte, sind auch zahlreiche Einzelpersonen auf die entsprechenden Listen geraten. Wieviele genau, lässt sich nicht so einfach herausfinden - die EU selbst spricht von über 2500 sanktionierten "individuals and entities" . Was bedeutet so eine Sanktion für eine der gelisteten Einzelpersonen nun konkret? Nachlesen lässt sich das u.a. in diesem, leider sehr in "Legalese" verfassten EU-Dokument : "Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen." Alle Vermögenswerte, soweit sie sich im Gebiet (bzw. Zugriff?) der EU befinden, werden eingefroren. Die Reise von Russland in die Union sowie durch die Union ist für mit Sanktionen belegte Personen verboten. Und so fort *7.



6.

Bislang waren diese Sanktionslisten für die meisten bundesdeutschen Bürger von wenig Interesse. Wer doch einmal in die entsprechenden Dokumente blickte und vorrangig russisch oder wenigstens osteuropäisch klingende Namen wie "Bocharov" oder "Kolbasnikova" las, brauchte sich ja offenbar darum "keinen grossen Kopf machen". Mit dem 18. Sanktionspaket hat sich aber eine qualitative Verschiebung ergeben, denn erstmals werden auch drei deutsche Staatsbürger gelistet. Hier Auszüge aus dem betreffenden EU-Dokument "Beschluss (GASP) 2025/966 des Rates vom 20. Mai 2025":

Wichtig ist noch, dass die Lage für die beiden unter Nr. 23 und 37 aufgeführten Personen deutlich anders ist als für die unter Nr. 20 gelistete Person. Die erstgenannten beiden, als "Kriegskorrespondenten" bezeichneten Personen, leben schon seit einiger Zeit (nach übereinstimmenden Berichten und eigenen Aussagen) vorrangig in der Russischen Föderation. Im Amtsdeutsch könnte man sagen, dass sie "ihren Lebensmittelpunkt" mittlerweile dort haben und sie deshalb von der de-facto Einreisesperre nicht so sehr betroffen seien. Andererseits sind sie eben wie einst Wolf Biermann nun von der Rückkehr in ihr Heimatland ausgeschlossen, ja sogar denkbare Dienstreisen in andere europäischen Länder wie Frankreich oder Italien sind nicht mehr möglich.

Die unter Nr. 20 gelistete Person lebt jedoch (wiederum nach übereinstimmenden Berichten) in Deutschland, und entgegen der Angabe in der Listung ist sie (mindestens auch) deutscher Staatsbürger. Und da laut EU ja "...weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden" dürfen, hat die Sanktionierung ganz unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen für diese Person.

Inwieweit hier die bei der "Causa Biermann" festgestellten Verstösse gegen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" ebenfalls vorliegen, sei dem Urteil der Leserschaft überlassen. Nun, wenigstens der Art.15: Recht auf Staatsangehörigkeit ist hier kein Thema, denn die EU hat dieselbe den genannten Personen nicht entzogen. Konnte sie allerdings auch nicht, denn über Gewähren oder Entziehen der Staatsangehörigkeit entscheiden noch immer die Einzelstaaten selbst.

Da die Personen 23 und 37 explizit als " Kriegskorrespondenten", also Journalisten, bezeichnet werden, würde der Art.19: Meinungs- und Informationsfreiheit sogar eine besondere Schutzverantwortung des Staates bzw. der EU bedeuten, damit eben diese Meinungsfreiheit auch ausgeübt werden kann. Aus den Formulierungen in der Spalte "Begründung" könnte man jedoch den Schluss ziehen, dass sich die EU bzw. die EU-Kommission als im Besitz der absoluten Wahrheit verstehen. Ein erstaunliches Konzept...

Zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass weder in in der "Begründung" noch in den teilweise nachgereichten Erklärungen (der EU oder der Bundesregierung) jemals auf ein Gerichtsurteil verwiesen wird, in denen die sanktionierten Personen irgendeines justiziablen Vergehens für schuldig befunden worden wären. Hätte man nicht, wenn man den Personen irgendwelche Vergehen vorzuwerfen hätte, zunächst einmal ein Faires Gerichtsverfahren (vgl.Art.10) einleiten müssen?



7.

Wenn wir die DDR-Ausbürgerung von 1976 und die EU-Sanktion von 2025 vergleichen, fällt auch die total unterschiedliche Bearbeitung durch die grossen Medien auf. In diesen ist die hier sichtbar werdende Einschränkung der Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit (Artikel 5 GG) gar kein Thema. Auch bei der sich sonst so kämpferisch gebenden Organisation "Reporter ohne Grenzen" findet man dazu scheinbar nichts, ebensowenig beim DJV (Deutscher Journalisten-Verband) *8. Wenigstens die NACHDENKSEITEN haben sich des Themas, nun schon mehrfach, angenommen, z.B. hier und hier.

Die protestierenden Künstler hatten übrigens im genannten Brief von 1976 eine recht treffende Formulierung gefunden bezüglich des Umgangs mit Kritik: "[Der Staat] ... müsste eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenklich ertragen können."

P.S.: Die Namen der hier "Personen Nr. 20, 23 und 37" genannten Menschen hat der Internet-kundige sicher schon längst den verlinkten Originaldokumenten entnommen.

(06.10.2025)



*1 Spätestens mit der Jahrtausendwende hat Wolf Biermann alle ehemals "linken" Positionen geräumt und begrüsste z.B. den Irak-Krieg der USA 2001. Auch die langjährige Losung des israelischen Premierministers Netanyahu, nach der man "Palästina von der Hamas befreien müsste", hat er sich zu eigen gemacht.

*2 Während die "alte" Bundesrepublik lange einen Alleinvertretungsanspruch in allen staatlichen Belangen reklamierte, könnte man sagen, dass die DDR über die Vergabe der "Nationalpreise" in gewisser Weise einen "kulturellen Alleinvertretungsanspruch" erhob.

*3 Man könnte spitzfindig argumentieren, dass Biermann seine "Heimat DDR" eigentlich NIE wiedersah, denn das Land, welches er nach 1989/90 wieder bereisen konnte, war ja ein gründlich "gewendetes" Land. Wieder andere könnten argumentieren, dass der in Hamburg geborene Biermann durch die Ausbürgerung nur in seine "eigentliche Heimat" zurückverwiesen wurde.

*4 Eine recht gute Zusammenstellung der damaligen Vorgänge findet man u.a. bei der "Bundeszentrale für politische Bildung".

*5 So vom damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz formuliert.

*6 Siehe hier: https://commission.europa.eu/topics/eu-solidarity-ukraine/eu-sanctions-against-russia-following-invasion-ukraine/sanctions-against-individuals-companies-and-organisations_en

*7 Es werden im Dokument einige Bedingungen aufgeführt, unter denen die Mitgliedsländer die Massnahmen nicht umsetzen müssen, diese sind aber allesamt als "kann"-Vorschriften gefasst. Theoretisch könnte also durchaus ein deutscher Urlauber, der z.B. in einer türkischen Ferienanlage einem "Urlaubsflirt" einen Cocktail spendiert, wegen Verletzung der Sanktionsbestimmungen belangt werden (wenn sich der Urlaubsflirt als "gelistete Person" herausstellt).

*8 Die Einschränkung "scheinbar" ist notwendig, weil es mir natürlich unmöglich ist, das gesamte Webangebot von "ROG" oder "DJV" zu sichten. Ein Tipp für "Selbersucher": Geben sie einmal das Wort SANKTIONSLISTE in das jeweilige Suchfeld ein...


www.truthorconsequences.de